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Keine Wunderwaffe: Zu möglichen Lieferungen von JASSM-Raketen an Kiew und ihrer Bekämpfung

Die USA stehen kurz davor, Kiew Marschflugkörper vom Typ JASSM im Rahmen eines neuen Militärhilfepakets zu überlassen, berichten westliche Medien. Diese könnten die Möglichkeiten der ukrainischen Luftwaffe stärken, können aber dennoch von Russlands Luftabwehr bekämpft werden.
Keine Wunderwaffe: Zu möglichen Lieferungen von JASSM-Raketen an Kiew und ihrer BekämpfungQuelle: AP © Alik Keplicz

Von Alexei Sakwassin

Washington steht kurz vor der Entscheidung, der Ukraine eine Charge luftgestützter Marschflugkörper AGM-158 JASSM (Joint Air-to-Surface Standoff Missiles) zu übergeben. Dies berichtet die Nachrichtenagentur Reuters unter Verweis auf ungenannte offizielle Quellen in den Vereinigten Staaten. Erwartungen zufolge soll die Lieferung im Rahmen eines Militärhilfepakets an Kiew im Herbst erfolgen.

Laut Angaben der Quellen der Agentur könnte das Erscheinen der JASSM im Arsenal der ukrainischen Luftwaffe die Offensivkapazitäten der russischen Armee untergraben und "die strategische Landschaft des Konflikts wesentlich ändern."

Demnach sollen aus dem Norden der Ukraine abgefeuerten JASSM Objekte in Woronesch und Brjansk, und Angriffe aus dem Süden Flugplätze und Infrastruktur der russischen Marine auf der Krim treffen können.

Mitte August hatte die Zeitung Politico über eine mögliche Übergabe von JASSM an das Kiewer Regime  berichtet. Damals erklärten die Journalisten, dass die Frage nach Lieferungen von US-amerikanischen Luft-Boden-Raketen auf Bitten von Rada-Abgeordneten und Beratern von Wladimir Selenskij zurückgehe.

Die JASSM-Raketen sollen von den an Kiew übergebenen multifunktionalen Kampfflugzeugen F-16 aus abgefeuert und zur leistungsfähigsten Waffe mit größter Reichweite im Arsenal der ukrainischen Luftwaffe werden. Das Erscheinen der JASSM solle ukrainische Piloten von der Notwendigkeit befreien, nah an Russlands Grenzen heranzufliegen und damit einen Abschuss durch Russlands Luftabwehr zu riskieren, schreibt Politico.

JASSM-Raketen gehören zur Klasse der lenkbaren Hochpräzisionswaffen. Ihre Ansteuerung erfolgt mit Hilfe von GPS, einem Trägheits-Navigationssystem und Infrarotausrüstung.

Neben der Grundausführung entwickelte Lockheed Martin eine Modifikation mit größerer Reichweite JASSM-ER. Ein solcher Flugkörper kann Ziele in einer Entfernung von über 800 Kilometern angreifen. Doch wie Politico anmerkt, ist Kiew beim Einsatz von US-amerikanischen Raketen mit großer Reichweite durch die bestehenden Verbote der Biden-Administration von Angriffen auf russisches Territorium beschränkt.

Nach Angaben des Telegramkanals Wojennaja Chronika könnten JASSM an die Ukraine wegen Deutschlands Weigerung, die ebenfalls luftgestützten Taurus-Marschflugkörper zu liefern, übergeben werden. Die Autoren des Kanals vermuten, dass die US-Rakete eine gefährliche Waffe ist.

"Das ist eine recht präzise und gleichzeitig massenhaft vorhandene Rakete. Davon wurden etwa 1.000 Stück hergestellt. Im Unterschied zu ATACMS kann sie Luftabwehrstellungen auf kleiner Höhe nach einem im Voraus vorgegebenen Programm umgehen. Ursprünglich wurde die Rakete als Angriffsmittel entwickelt, das außerhalb der Luftabwehrreichweite abgefeuert werden soll", erklärt Wojennaja Chronika.

Die Grundausführung der Rakete AGM-158A hat eine Reichweite von 350 bis 370 Kilometern, während JASSM-ER mit zusätzlichen Tanks 890 bis 950 Kilometer zurücklegen kann. Die Autoren des Telegramkanals vermuten, dass Kiew die F-16 gerade für den Einsatz dieser Flugkörper erhalten haben könnte. Gleichzeitig können diese Raketen für einen Einsatz von sowjetisch produzierten Flugzeugen, darunter Su-24MP, angepasst werden.

"Um nicht die Folgen dieser Raketenangriffe bekämpfen zu müssen, muss die Beobachtung von Behelfsflugplätzen verstärkt werden. Ein Flugzeug, besonders eine F-16 mit ausgerüsteten Raketen, ist eine fette Beute für einen Iskander- oder Ch-101-Flugkörper", schreiben die Autoren des Kanals.

Im Hinblick auf eine mögliche Stärkung des ukrainischen Luftwaffenarsenals besprach RT mit Militärexperten, wie gefährlich JASSM-Raketen sind und wie die von dieser Präzisionswaffe ausgehende Bedrohung minimiert werden kann.

Sind die USA tatsächlich bereit, JASSM zu liefern? Wie gefährlich ist diese Waffe für Russland?

Dmitri Drosdenko, Chefredakteur des Portals Arsenal Otetschestwa, Luftwaffenexperte: "Für die USA ist es vorteilhaft, die Möglichkeiten der ukrainischen Luftwaffe zu stärken, damit sie möglichst viele Objekte in Grenzregionen und in der Tiefe unseres Gebiets angreifen können. Deswegen wird die Antwort auf die Frage nach einer Lieferung von AGM-158 JASSM positiv ausfallen.

Der US-Marschflugkörper wird mit einem turboreaktiven Triebwerk und einem Sprengkopf von 450 Kilogramm Masse zur Bekämpfung von gut geschützten Bodenzielen ausgestattet. Die Rakete verfügt über ein Trägheits-Ansteuerungssystem mit einer Satellitenkorrektur und ein Infrarotsystem, das die Gestalt des Ziels erkennt. JASSM kann auf einer Höhe von wenigen Dutzend Metern manövrieren und Geländehindernisse umfliegen.

Für uns ist die Rakete dadurch gefährlich, dass die Reichweite ihrer Grundausführung für Angriffe auf zahlreiche Ziele auf der Krim und in den neuen Regionen ausreicht. Meiner Ansicht nach wird sie die größte Bedrohung für die Krimbrücke darstellen. Das ist das attraktivste Ziel für Raketen mit großer Reichweite.

Gleichzeitig sollte man sich bezüglich des formellen Verbots der USA, Waffen mit großer Reichweite gegen das so genannte alte russische Gebiet einzusetzen, keine Illusionen machen. Dieses Verbot ist ausschließlich als Fiktion anzusehen. US-Raketen können auf beliebige Ziele fliegen, besonders wenn wir von JASSM-ER mit einer Reichweite von bis zu 1.000 Kilometern sprechen."

Dmitri Kornew, Gründer des Portals MilitaryRussia: "Die Lieferung der JASSM ist eine Frage der Zeit und sonst nichts. Heute kommentiert das Pentagon die Medienmeldungen nicht, doch diese Zurückhaltung beweist nichts. In letzter Zeit machen die Regierungen der westlichen Staaten und der USA ungern Ankündigungen und veröffentlichen Informationen erst nach der Übergabe oder gar nach dem Einsatz von neugelieferten Waffen.

Die Übergabe der JASSM erscheint als ein logischer Schritt im Kontext der begonnenen F-16-Lieferungen. Dennoch können US-Raketen auch an Flugzeugen aus sowjetischer Produktion erscheinen, die die ukrainische Luftwaffe einsetzt. Ich denke, sie könnten dafür innerhalb einiger Monate angepasst werden.

JASSM ist älter als ihre europäischen Pendants SCALP und Storm Shadow und für russische Radare leichter aufzuspüren. Ihr Hauptvorteil besteht in einem eindringenden Sprengkopf, der nach einem Durchschlag von Betonbefestigungen explodiert. Diese Waffe ist für Angriffe auf eingegrabene Objekte wie Kommandostellen, Stäbe und besonders wichtige Militärlager gefordert. Bei Angriffen auf solche Ziele ist die JASSM a priori effektiver, als SCALP und Storm Shadow. Doch meiner Ansicht nach wird zu ihrem Hauptziel die Krimbrücke werden.

Nach offenen Informationen werden JASSM-Raketen in Alabama produziert. In einem Monat kann der dortige Betrieb etwa 45 Raketen herstellen.

Man sollte berücksichtigen, dass das Pentagon versucht, das eigene Arsenal dieser Flugkörper aufzustocken und über eine gewisse Reserve zu verfügen. Außerdem hat Lockheed Martin gewisse Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten der USA.

Ausgehend davon ist es vernünftig, zu vermuten, dass das ukrainische Militär keine Hunderte Raketen gleichzeitig erhalten wird. Wahrscheinlich wird gegenwärtig über die Lieferung von einigen Dutzend verhandelt, doch auch diese Anzahl sollte als eine ernste Herausforderung für die Sicherheit unseres Landes angesehen werden. Darüber hinaus halte ich die Auflagen der USA für ihren Einsatz für vorübergehend."

Wladislaw Schurygin, Militärexperte: "Die USA werden die JASSM unbedingt liefern, die Frage besteht nur in der Anzahl, die von der gegnerischen Luftwaffe eingesetzt werden kann. Gegenwärtig wissen wir sicher, dass F-16 die Raketen einsetzen können. Doch davon wird das ukrainische Militär noch lange wenige haben."

Wie kann sich Russland vor JASSM-Angriffen schützen? Wie sind unsere Luftabwehrmittel an die Aufspürung und den Abschuss der US-Raketen angepasst?

Dmitri Drosdenko: "Der effektivste Weg, sowohl JASSM-Angriffe, als auch von westlichen Raketen ausgehenden Bedrohungen zu unterbinden, ist, die militärische Infrastruktur der Ukraine völlig zu zerschlagen und die NATO-Länder zu zwingen, auf solche Hilfen für das ukrainische Militär zu verzichten.

Doch das ist bereits eine Frage der Geopolitik. Wenn man ausschließlich von militärtechnischen Maßnahmen spricht, sollten sie in einer sorgfältigen Tarnung von Objekten bestehen, die mit Raketen mit großer Reichweite angegriffen werden könnten. Parallel dazu sollten die Truppen korrekt verteilt werden sowie zusätzliche Maßnahmen zur baulichen Ausstattung und Stärkung der Luftabwehr von Objekten ergriffen werden.

Die US-Rakete ist für die Luftabwehr ein recht kompliziertes Ziel. Zudem wird der Gegner versuchen, ihre Flugstrecke so zu gestalten, dass sie Versammlungsgebiete unserer Luftabwehrkomplexe umgeht.

Insgesamt können alle modernen inländischen Luftabwehrsysteme und unsere Jagdflugzeuge JASSM effektiv abschießen. Natürlich wird unsere Armee ihre Möglichkeiten dazu nutzen."

Wladislaw Schurygin: "Die JASSM ist keine Wunderwaffe. Sie können auf die gleiche Weise, wie HIMARS und Strom Shadow bekämpft werden. Unsere Luftabwehrmittel haben sich an deren Abschuss recht schnell angepasst. Die US-Raketen können von beliebigen Luftabwehrkomplexen abgeschossen werden – darunter sind diverse Modifikationen von S-300, S-350, S-400, S-500, die Familien Buk, Tor und Panzir.

Anfangs wird die Bekämpfung der JASSM keine leichte Aufgabe werden, doch russische Luftabwehrkämpfer lernen schnell und arbeiten eine geeignete Taktik der Bekämpfung von neuen Raketen aus."

Dmitri Kornew: "Offensichtlich werden die JASSM irgendwo gelagert werden. Deswegen sind diese Orte sowie die Flugplätze, auf denen die F-16 stationiert sind, anzugreifen, soweit es die Aufklärungsdaten zulassen.

Die JASSM ist nach dem Prinzip der Unauffälligkeit gebaut und kann Geländehindernisse umfliegen. Dennoch ist die US-Rakete älter, als ihre europäischen Pendants. Deswegen wird sie für die Luftabwehr voraussichtlich zu einem leichteren Ziel, als Storm Shadow werden.

Natürlich könnte der Gegner bei einem Ersteinsatz der JASSM gewisse Erfolge erzielen, wie es bei Storm Shadow und ATACMS der Fall war. Doch ausgehend von der Erfahrung der russischen Luftabwehrtruppen, sollte es keine ernsthaften Schwierigkeiten beim Abfangen der US-amerikanischen Raketen geben."

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RT am 4. September.

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