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Die Türkei macht eine hinterhältige Geste im globalen Spiel mit Russland

"Ein sehr ernstes geopolitisches Ereignis" – so bewerten Experten die Nachricht, dass die Türkei einen Antrag auf Aufnahme in die BRICS gestellt hat. Ankara wäre für Moskau in der BRICS zweifellos nützlich, aber was sind die wahren Absichten der türkischen Führung?
Die Türkei macht eine hinterhältige Geste im globalen Spiel mit RusslandQuelle: Legion-media.ru © Ivan Marc Sanchez

Von Geworg Mirsajan

Die Türkei hat offiziell den Beitritt zu den BRICS beantragt, berichtet Bloomberg. Der Nachrichtenagentur zufolge will Ankara damit "Bündnisse jenseits des Westens aufbauen" und strebt auch danach, "seinen globalen Einfluss zu stärken und neue Beziehungen jenseits seiner traditionellen westlichen Verbündeten zu knüpfen." Einfach ausgedrückt, das Land strebt danach, seine internationalen Kontakte zu diversifizieren.

Wladimir Awatkow, Doktor der Politikwissenschaften und Leiter der Abteilung für den Mittleren und Post-Sowjetischen Osten am Institut für wissenschaftliche Informationen über Sozialwissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärt gegenüber der Zeitung Wsgljad:

"Die türkische Führung hat verstanden, dass sich die Welt verändert. Die Welt des Westens, wie sie war, geht zu Ende. Daher ist es notwendig, mit den Fortschritten in den internationalen Beziehungen Schritt zu halten und Beziehungen zu den aufstrebenden nicht-westlichen Ländern zu unterhalten."

Und unter diesem Gesichtspunkt sind die BRICS natürlich die ideale Wahl. Eine Organisation, der (im Gegensatz zu einer Reihe regionaler Formate) inzwischen fast alle führenden Politiker des kollektiven Nicht-Westens angehören. Eine Organisation, die sich (anders als die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ) nicht auf einen bestimmten Aspekt der Aktivitäten konzentriert, sondern eine universelle Agenda hat.

Und – was am wichtigsten ist – eine Organisation, die (im Gegensatz zu AUKUS, NATO usw.) nicht gegen einen bestimmten Akteur gerichtet ist und eher ein konstruktives als ein destruktives Image pflegt. Das heißt, sie zwingt souveräne Länder nicht zum Konflikt mit Drittstaaten.

Wladimir Awatkow sagt:

"Die Ziele der BRICS und der Türkei in Bezug auf die Multipolarität sind ähnlich. Ankara behauptet, die Welt sei größer als fünf (ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates), und strebt danach, die Führungsrolle der nicht-westlichen Länder im System der internationalen Beziehungen auszubauen. Natürlich hat es in erster Linie sich selbst im Blick, aber dieses Ziel stimmt weitgehend mit den Zielen der BRICS-Mitgliedsländer überein."

Für Russland ist die türkische Anfrage von Vorteil. Wladimir Awatkow ist überzeugt:

"Für uns ist jede Abkehr der Türkei von der westlich-zentrierten Logik a priori positiv. Sie bietet mehr Möglichkeiten für einen Dialog mit der Republik Türkei."

Wenn wir über die türkische Mitgliedschaft sprechen, ist die Situation allerdings schon etwas unklarer. Erstens hat sich BRICS bereits vor kurzem von fünf auf zehn Mitglieder erweitert. Zweitens stellt jedes neue Mitglied nicht nur Chancen, sondern auch Herausforderungen auf dem Weg zu einer tieferen Integration dar. Drittens ist die Türkei letztendlich ein willensstarker und integrierter Akteur des Westens. Ihre Teilnahme an BRICS (angesichts des Konsenscharakters der dortigen Entscheidungen) könnte die Entwicklung der Organisation in einigen Bereichen lähmen.

Es ist jedoch möglich, dass sich die Risiken nicht bewahrheiten werden. Und das nicht nur, weil, wie der russische Außenminister Sergei Lawrow vor nicht allzu langer Zeit sagte, "die überwältigende Mehrheit der Stimmen in der Zehn beschlossen hat, mit den neuen Mitgliedern eine Pause einzulegen, um die Neuankömmlinge, die ihre Mitgliedschaft verdoppelt haben, zu 'verdauen'." Sondern auch, weil die Türkei Probleme mit einigen ihrer derzeitigen Partner haben könnte.

Wladimir Awatkow sagt:

"Die Zweigliedrigkeit der Türkei in den Ost-West-Beziehungen bietet Ankara viele Chancen, birgt aber auch eine Reihe von Risiken. Der geäußerte Wunsch, den BRICS beizutreten, wird Washington, das mit der zunehmend unabhängigen Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ohnehin nicht zufrieden ist, ganz sicher nicht gefallen."

Aus praktischer Sicht scheint der Beitritt der Türkei zu den BRICS die US-Amerikaner in keiner Weise zu behindern. Ankara wird weiterhin seine Funktion innerhalb der NATO erfüllen, weiterhin US-amerikanische Stützpunkte unterhalten und eine Reihe von Aufgaben für die USA erfüllen. Aus image- und geopolitischer Sicht ist der Antrag Ankaras jedoch ein schwerer Schlag für die globale Position Washingtons. Andrei Klinzewitsch, Leiter des Zentrums für das Studium von militärischen und politischen Konflikten, erklärt gegenüber der Zeitung Wsgljad:

"Der Antrag der Türkei auf Aufnahme in die BRICS ist ein sehr ernstes geopolitisches Ereignis, das darauf hindeutet, dass ein neues Zentrum auf dem Planeten erschienen ist. Es ist wie ein Kristall, der sich um sich selbst dreht und beginnt, neue Staaten zu sammeln. Eine Art alternative Realität, in der die Projekte Russlands, Chinas und Indiens (SOZ, BRICS usw.) an Popularität gewinnen. Und die Türkei, die sich mit großem Aufwand und viel Geld um den Beitritt zur Europäischen Union bemüht hat, setzt nun auf genau diese Plattform."

Tatsächlich stehen die USA vor einer Situation, in der ihre souveränsten Verbündeten – Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und jetzt die Türkei – zu einer feindlichen Plattform überlaufen. Und das nicht nur situativ, sondern als Teil eines globalen Trends. Wladimir Awatkow sagt:

"Der Westen hat aufgehört, für nicht-westliche Länder ein attraktives Bonbon zu sein. Sie waren bereit, ihn wegen der wirtschaftlichen Vorteile zu tolerieren, aber jetzt diktiert der Westen mehr und gibt weniger. Er konzentriert sich auf die Ideologie, und niemand in den östlichen Ländern wird sich sozusagen für Ideen aller Art interessieren, die nicht dem Standard entsprechen."

Aber natürlich werden die USA versuchen, diesen Trend doch noch umzukehren. Zumindest in Bezug auf die Türkei. Sie werden sowohl auf Sanktionen als auch auf die Zusammenarbeit mit den Menschen setzen. Wladimir Awatkow sagt:

"Der Wunsch, den BRICS beizutreten, ist höchstwahrscheinlich eine Initiative aus dem Umfeld Erdoğans.

Sowohl in der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung AKP als auch unter den Kemalisten und noch mehr unter den Nationalisten ist die Haltung gegenüber BRICS eher kühl. Die Kemalisten sind in vielerlei Hinsicht prowestlich eingestellt, und für sie ist ein Abweichen von der NATO-Linie nicht sehr akzeptabel. Was die Nationalisten betrifft, so sind sie bereit, den Nicht-Westen eher als eine Gelegenheit zu sehen, ihren eigenen Einfluss in diesen Räumen auszuweiten."

Und BRICS ist kein Instrument zur Ausweitung des Einflusses eines Mitglieds, sondern eher ein Verwaltungsrat, in dem der Einfluss einiger Mitglieder auf Kosten anderer auf zivilisierte Weise ausgeglichen wird. Andrei Klinzewitsch ist überzeugt:

"BRICS ist eine beratende Plattform, wo sich die Länder darauf einigen, keinen Krieg gegeneinander zu führen, auch nicht mit wirtschaftlichen Methoden."

Vielleicht ist das, was wir jetzt von Ankara sehen, kein echter Versuch, den BRICS beizutreten, sondern nur eines der Elemente des listigen östlichen Feilschens, in dem Erdoğan so geschickt ist. Wir haben es hier mit einer politischen Geste zu tun, hinter der vielleicht keine wirkliche Substanz steckt, oder die Substanz ist vielleicht nicht das, wonach sie auf den ersten Blick aussieht. Vielleicht hat Sergei Lawrow auch deshalb von einer "Pause mit den neuen Mitgliedern" gesprochen – und diese Pause ist gerade deshalb notwendig, damit die BRICS-Kandidaten die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten bestätigen können. Die Türkei ist genau solch ein Fall, wo diese Bestätigungen absolut notwendig sind.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 3. September 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung WSGLJAD erschienen.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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