Kiews abenteuerliche Kursk-Strategie geht nicht auf
Von Geworg Mirsajan
Der Frontabschnitt Kursk hat sich stabilisiert. Davon schreiben inzwischen alle russischen Kriegsberichterstatter und Militärblogger, darunter jene, die noch unlängst unter dem Motto "alles ist verloren" Panik verbreiteten. Freilich versuchen die Truppen des Kiewer Regimes noch, die von Russland kontrollierten Ortschaften anzugreifen und in die Tiefe des russischen Gebiets vorzustoßen. Ja, sie greifen weiterhin mit allen verfügbaren Mitteln an – dazu zählt die Zerstörung der Brücken über den Fluss Seim, um die Versorgungslogistik der russischen Verbände zu erschweren. Doch von neuen großen Durchbrüchen kann keine Rede sein. Ukrainische Verbände werden gezwungen, zur Verteidigung überzugehen, und zwar nicht, wie gewohnt, in mehrstöckigen Hochhäusern, sondern im freien Feld und kleinen Siedlungen. Ihr im Grunde einziger Schutz vor Russlands Luftstreitkräften und Artillerie sind mehrere Tausend Zivilisten, die das Kiewer Regime als lebenden Schutzschild missbraucht.
Natürlich bedeutet die Stabilisierung keine sofortige Befreiung: Man wird noch lange und zäh die Ukrainer vom altrussischen Boden ausräuchern müssen. Tatsache ist dennoch, dass das Kursker Abenteuer aufgehört hat, dem Kiewer Regime Dividende zu bringen. Der wohl wichtigste Profit der Unternehmung, der Image- und Moralstärkungseffekt, wurde gleich in den ersten Tagen erzielt und verbraucht. Inzwischen verwandelt sich die Operation in ein Abenteuer und bringt nur noch Nachteile. Diese liegen vor allem im materiellen und technischen Bereich: die Ausmaße der Verluste der ukrainischen Technik – an der es übrigens ohnehin mangelt – erreichten bereits jene aus der Gegenoffensive vom letzten Jahr. Im Grunde bedeutet es, dass sich die Operation in einen Fleischwolf verwandelt, der für die Ukraine a priori verlustbringend ist, weil sie weniger Ressourcen als Russland hat. Und diese Niederlage wird bereits etwa auf dem Gebiet der Donezker Volksrepublik spürbar, wo Russlands Streitkräfte ihr Vorstoßtempo auf Dserschinsk (gegenwärtig Torezk) und Krasnoarmeisk (von der Ukraine in Porkowsk umbenannt), erheblich gesteigert haben.
Das bedeutet, dass das Kursker Abenteuer eine Korrektur benötigt. Kiew könnte die Erfüllung seiner Ziele, etwa in Form der Aufstockung des Austauschfonds an Gefangenen, melden und daraufhin seine Truppen zurückziehen und sie nach Krasnoarmeisk oder Dserschinsk schicken. Die Imageverluste könnten dabei ausgeglichen werden, denn Russlands Äußerungen, dass Kiew geflohen sei, würden durch das Gebrüll der ukrainischen und westlichen Propaganda von einem erfolgreichen Überfall übertönt werden. Doch ein Rückzug der ukrainischen Truppen birgt für Kiew die Gefahr eines Einmarsches der russischen. Nachdem das Kiewer Regime aus dem Gebiet Kursk vertrieben wird oder sich zurückzieht, könnten Russlands Streitkräfte eine Pufferzone im Gebiet Sumy und, möglicherweise, Tschernigow, einrichten – allein deswegen, weil es einfacher ist, die Truppen auf vordersten Stellungen dort zu halten, als auf dem russischen Territorium. Dann müsste Selenskijs Regime irgendwelche Verbände verlegen, um den Vormarsch der russischen Streitkräfte auf Sumy aufzuhalten.
Die zweite Variante ist, sich nicht zurückzuziehen, sondern im Gegenteil, die am Frontabschnitt Kursk agierenden Verbände mit Reserven zu verstärken. Dabei würde Donbass geopfert werden, doch das würde sich langsam vollziehen, weil Kiew dort mobilisiertes "Kanonenfutter" opfern könnte, damit es sich in bebauten Stadtgebieten festsetzt und Russlands Offensive möglichst zurückhält. Mithilfe dieser Reserven könnte die Ukraine im Gebiet Kursk nicht nur versuchen, durchzuhalten, sondern auch, die russische Verteidigung zu durchbrechen. All das hätte den Zweck, dass Moskau die Geduld verliert und neue Verbände, darunter die Haupttruppen aus dem Donbass, ins Gebiet Kursk verlegt, um das Kiewer Regime von dort schneller zurückzuschlagen, und damit die Offensive im Donbass anhält.
Das Problem besteht darin, dass dieses Szenario eine Art Wettlauf gegen die Zeit ist. Was würde schneller passieren: werden Kiews Verbände aufgerieben, bevor Moskau die Geduld verliert? Ausgehend von der gegenwärtigen Lage erscheint Ersteres wahrscheinlicher. Überhaupt zeigt Moskau eine bemerkenswerte Zurückhaltung: massenhafte Fälle der Misshandlung von Zivilisten im Geiste der Nazis und Selenskijs freche Nachahmungsspiele etwa in Form der angekündigten Einrichtung von Militärkommandanturen führen nicht zu irgendwelchen Reaktionen oder Handlungen vonseiten Moskaus. Einfacher gesprochen, lässt sich Russland von der Ukraine nicht provozieren.
Deswegen wird dieses Szenario mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer weiteren Abreibung der ukrainischen Reserven führen und damit Russland Möglichkeiten geben, sowohl an existierenden, als auch an neuen Frontabschnitten vorzustoßen.
Natürlich hat Kiew noch die dritte Variante, selbst einen neuen Frontabschnitt zu eröffnen und Offensivoperationen an anderen Grenzabschnitten zu beginnen, um Russland zu zwingen, die Reserven dorthin zu verlegen. Dabei gibt es allerdings gleich zwei Probleme. Erstens werden andere Grenzabschnitte viel besser bewacht, und ihr Schutz wurde nach dem Vorfall im Gebiet Kursk noch verstärkt. Zweitens benötigt die Ukraine für neue Offensiven neue Reserven. Sicher wäre es möglich, die Eliteneinheiten, die 80. und die 82. Brigaden, aufzustocken, und sie einzusetzen. Es wäre aber nicht ausgeschlossen, dass sie nach einer solchen Offensive ganz aufgelöst werden müssten. Dies birgt wiederum die Gefahr des Verlusts von ausgebildeten Reserven und der neuen russischen Offensiven.
Schließlich gäbe es den vierten Weg, mit Moskau eine Einfrierung der Lage zu vereinbaren – allerdings nicht am Verhandlungstisch, sondern durch Einschüchtern. Beispielsweise durch demonstrative Bereitschaft zu Terroranschlägen, etwa gegen das Kernkraftwerk von Saporoschje bei gleichzeitiger voller und uneingeschränkter Unterstützung des Westens, darunter der blinden und taubstummen Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA).
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kiew gerade diesen für ihn gewohnten Weg einschlagen wird. Das Problem besteht nur darin, dass Russland im Gegensatz zu europäischen Partnern eine etwas andere Methode der Kommunikation mit Terroristen praktiziert. Russland verhandelt nicht mit ihnen, sondern vernichtet sie.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 19. August bei RT.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität des Kubangebiets in Krasnodar und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Mehr zum Thema – The Economist: Syrski griff Kursk aus Verzweiflung an
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