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Warum haben ukrainische Streitkräfte das Gebiet Kursk angegriffen?

Die ukrainischen Streitkräfte unternahmen einen umfassenden Angriff auf das Gebiet Kursk. Der russischen Armee gelang es, den Angriff aufzuhalten. Welche Ziele verfolgt die ukrainische Armee und wird diese Operation den Verlauf der Feindseligkeiten beeinflussen?
Warum haben ukrainische Streitkräfte das Gebiet Kursk angegriffen?Quelle: AP © Efrem Lukatsky

Von Jewgeni Posdnjakow

Die ukrainischen Streitkräfte geben ihre Versuche, ins Gebiet Kursk durchzubrechen, nicht auf, doch es gelingt dem Gegner nicht, tief in Russland vorzudringen, wie das Verteidigungsministerium mitteilte. In den vergangenen 24 Stunden verlor die ukrainische Armee mindestens 260 Soldaten und 50 Stück gepanzerte Fahrzeuge. Die Operation zur Bekämpfung der ukrainischen Streitkräfte geht weiter. Die gegnerische Seite wurde am Dienstagmorgen an der Grenze der Gebiete Sumy und Kursk aktiv.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auf der gegnerischen Seite etwa 300 Mann der 22. mechanisierten Brigade. Die Soldaten wurden von elf Panzern und 20 gepanzerten Fahrzeugen unterstützt. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch verlegte die ukrainische Armee Reserven, deren Zahl sich einigen Berichten zufolge der Tausend annähert.

Während des Beschusses durch die ukrainische Seite wurden bereits sechs Kinder verletzt, die medizinisch versorgt werden müssen. Darüber hinaus griff eine Drohne einen Krankenwagen in der Nähe der Stadt Sudscha an. Alexei Smirnow, der stellvertretende Gouverneur des Gebiets Kursk, sprach den Familien und Freunden der Getöteten sein Beileid aus und fügte hinzu, dass die ukrainische Armee mit Sicherheit Vergeltung erfahren werde. Durch den Beschuss in diesem Gebiet wurden insgesamt 28 Menschen verwundet. Darüber hinaus wurden die Kirchen des St.-Nikolaus-Klosters im Grenzort Gornal zerstört.

Die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, bezeichnete das Geschehen als terroristischen Akt, der sich gegen Zivilisten richte. Sie ist außerdem der Ansicht, dass "Selenskij ukrainische Bürger mit dem Hintergedanken geschickt hat, die tödliche ukrainische Mobilisierung für drei weitere Monate zu verlängern".

Dem Militärblogger Semjon Pegow zufolge habe sich die Lage im Gebiet Kursk "als viel ernster erwiesen, als es auf den ersten Blick scheint". Er schreibt:

"Nach der ersten Welle zog der Gegner erhebliche Reserven in das Kampfgebiet an der Grenze und an Sudscha heran. Es ist noch verfrüht, um von einer vollständigen Vernichtung des Feindes im Grenzgebiet und in den Grenzsiedlungen zu sprechen, aber die Feuertätigkeit hält weiter an."

Nach Ansicht des Analysten wäre es falsch, diese ukrainische Operation mit den früheren PR-Kampagnen des GUR zu vergleichen. Pegow erklärt:

"Erstens sind viel größere Kräfte beteiligt, und zweitens wird der Feind offenbar nicht einfach Fotos machen und weglaufen. Es wird eine Schlacht geben. Man muss sie mit kühlem Kopf angehen und gewinnen. Und ja ‒ es wird nicht einfach sein. Der Feind hat sich dieses Mal gut vorbereitet. Gleichzeitig müssen wir immer bedenken, dass Sudscha nicht die einzige Richtung für solche Angriffe sein kann. Unsere Kämpfer bereiten sich auch in anderen Richtungen vor."

Nach Ansicht des politischen Beobachters Andrei Medwedew könnte das Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte in Richtung Kursk in direktem Zusammenhang mit dem Wunsch Kiews stehen, sich vor möglichen Friedensgesprächen eine günstigere militärische Position zu verschaffen. Er merkt an:

"Alle früheren Versuche, etwas Ähnliches durchzuführen, endeten für die ukrainischen Streitkräfte mit einem Misserfolg. Bei der Aktion in Krynki wurden zwei Brigaden der ukrainischen Marine getötet. Und nun hat der Versuch im Gebiet Kursk den Feind bereits schwere Verluste gekostet. Sie werden noch größer sein. Auf jeden Fall haben die Armeefliegerkräfte dafür bereits erhebliche Kampfleistungen erbracht."

Der Kriegsberichterstatter Alexander Koz schreibt:

"Der Gegner versucht nicht einmal, sich mit dem Schutzschild der Vermittler-Firmen des RDK [Russisches Freiwilligenkorps; in Russland als terroristische Organisation eingestuft und verboten] und anderer Legionen der Wyrussi* zu bedecken."

Ihm zufolge habe die ukrainische Armee bereits im März geplant, Graiworon und Kosinka einzunehmen. Koz weiter:

"Damals konnte Kiew sagen, dies seien unsere internen Streitigkeiten, die Ukraine habe angeblich nichts damit zu tun und könne nur vermitteln. Aber damals ist der Gegner nicht weiter als bis zu den ersten Häusern in den Grenzdörfern vorgedrungen. Heute ist die Situation anders."

Koz erklärt:

"Es gibt ganz bestimmte Brigaden der ukrainischen Streitkräfte, die in unser Gebiet eingedrungen sind. Keine Sabotagegruppen, keine terroristische Truppe, sondern reguläre Truppen eines Nachbarstaates. Sie verheimlichen das nicht."

Laut dem Experten könne so etwas nicht als "Überfall" oder terroristischer Angriff bezeichnet werden. Koz betont:

"Die Ukraine hat größere Truppen eingesetzt als im März. Aber trotzdem hat sie in der ersten Phase der Invasion nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt. Es gelang nicht, das Bezirkszentrum auf einen Schlag einzunehmen. Die Reserven sind sofort in Aktion getreten."

Wiederum meint der Militäranalyst Michail Onufrijenko:

"Die Attacken der ukrainischen Truppen auf das russische Grenzgebiet waren einigermaßen erwartet. Im Gebiet Kursk hat der Gegner eine kombinierte Bataillonsgruppe eingesetzt und sie mit gepanzerten Fahrzeugen verstärkt. Die ukrainische Armee versucht, in das Bezirkszentrum Sudscha vorzudringen. Das ist eine kleine Stadt mit fünftausend Einwohnern."

Der Gesprächspartner unterstreicht:

"Es ist gut möglich, dass das Büro von Selenskij hoffte, Russland würde versuchen, einige Truppen aus anderen Frontabschnitten in seine eigene Grenzregion zu verlegen, um den Angriff abzuwehren. Das wird jedoch nicht geschehen. Wir operieren erfolgreich mit den uns zur Verfügung stehenden Kräften. Das Vorrücken des Gegners ist äußerst schwierig."

Nach Meinung des Analytikers habe die Ukraine mit der Entsendung von Personal in Richtung Kursk einen riskanten Schritt unternommen. Er merkt an:

"Die ukrainische Armee hat immer noch einen Mangel an Personal, und sie braucht diese Leute an anderen Frontabschnitten, zum Beispiel in der Nähe von Torezk."

Auch der Militäranalytiker Boris Roschin erklärt, der Gegner habe beschlossen, eine groß angelegte Operation zu starten. Der Experte glaubt, dass die ukrainischen Streitkräfte versuchen werden, "in den Grenzgebieten Fuß zu fassen". Darüber hinaus vertritt er die Ansicht, dass die Aktionen der ukrainischen Streitkräfte in Sudscha am Dienstagnachmittag als "Aufklärung vor der Schlacht" bezeichnet werden können, um Feuerpunkte für die Verteidigung zu identifizieren.

Der Militärbeobachter Daniil Bessonow äußert sich in seinen Einschätzungen auch zur "großen Anzahl von Flugabwehrgeräten", die die ukrainischen Kräfte "an die Grenze zum Gebiet Kursk herangezogen haben". Der Experte räumt ein:

"Unsere Fliegerkräfte stören sie. Aber wir haben die Möglichkeit, ihre Luftabwehrsysteme weiter auszudünnen. Allem Anschein nach haben wir damit begonnen."

Der Militärexperte Alexei Leonkow beschreibt die Lage wie folgt:

"Offenbar hat das Büro von Selenskij beschlossen, eine Operation zu starten, um die Kontaktlinie im Gebiet Kursk zu durchbrechen. Die gegnerischen Kräfte werden von Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Drohnen unterstützt. Es ist wahrscheinlich, dass die ukrainische Armee versuchen wird, auch F-16-Kampfjets einzusetzen. Soweit wir wissen, werden derzeit Reserven zum vorhandenen Personal verlegt."

Er unterstreicht:

"Um den Angriff abzuwehren, setzt Russland die Fliegerkräfte ein, die Artillerie ist im Einsatz. Trotz der anhaltenden Dynamik der Kämpfe hat der Gegner kaum Chancen auf einen Erfolg. Um tief in russisches Territorium vorzustoßen, sind viel größere Kräfte erforderlich als die von den ukrainischen Streitkräften eingesetzten."

Der Experte betont:

"Angesichts der Tatsache, dass die westlichen Länder in letzter Zeit den Druck auf Selenskijs Büro zur Aufnahme von Friedensgesprächen erhöht haben, ist es gut möglich, dass sie auf Kosten der Operation im Gebiet Kursk versuchen, ihre eigene Position im künftigen Dialog zu verbessern."

Weiter merkt Leonkow an:

"Bemerkenswert ist, dass der Gegner zuvor ähnliche Durchbruchsversuche in der Gegend von Belgorod unternommen hat. Höchstwahrscheinlich hielt die ukrainische Armee die Chancen für einen Vormarsch in dieser Region für unwahrscheinlich. Es ist durchaus möglich, dass die Wahl des Kursker Gebiets aus dem Motiv der Überraschung heraus getroffen wurde. Umso mehr, weil die Aktionen des Gegners durch ein bewaldetes Gebiet unterstützt werden."

Leonkow schließt auch nicht aus, dass die ukrainischen Streitkräfte bei ihrem Angriff in Richtung Kursk gehofft haben, dass Russland Kräfte aus anderen Richtungen verlegen müsse. Es hätte sich um die Richtungen Torezk oder Pokrowsk handeln können. Abschließend erklärt der Experte:

"Der Plan ist jedoch gescheitert. Unser Militär bewältigt die ihm gestellten Aufgaben mit den vorhandenen Ressourcen."

*Wyrussi ‒ abwertende Bezeichnung für Menschen mit russischen Wurzeln, die aber alles Russische hassen und nichts mit Russland zu tun haben wollen

Übersetzt aus dem Russischen

Jewgeni Posdnjakow ist ein russischer Journalist.

Der Artikel ist am 7. August 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.

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