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Analyse: Ukrainisches Energiesystem bricht bereits im Sommer zusammen

Nach EU-Angaben sind 70 Prozent der ukrainischen Energieerzeugerkapazitäten zerstört, allerdings kann die EU nicht helfen. Bereits jetzt wird in der Ukraine der Strom für zehn bis zwölf Stunden pro Tag abgeschaltet. Die Szenarien für den Winter sind noch düsterer.
Analyse: Ukrainisches Energiesystem bricht bereits im Sommer zusammenQuelle: AFP © Sergei SUPINSKY

Von Olga Samofalowa

In der Ukraine sind 70 Prozent aller Energieerzeugerkapazitäten zerstört worden, behauptete der EU-Chefdiplomat Josep Borrell im Vorfeld des Treffens der Außenminister der Europäischen Union. Nach seinen Angaben planen die Minister, über eine verstärkte Unterstützung von Kiew im Bereich der Energie zu sprechen.

Der Leiter des ukrainischen Außenamtes, Dmitri Kuleba, behauptete, dass sich fünf Maßnahmen zur Unterstützung der Energieerzeugung in Arbeit befinden würden. Dabei handele es sich um eine Verstärkung der Luftabwehr, die schnelle Reparatur der Energieobjekte, eine Dezentralisierung des Energiesystems, die Steigerung des Imports aus der EU sowie das Heranziehen von Mitteln von Partnern.

Indessen wird in der Ukraine landesweit für bestimmte Zeiten der Strom abgeschaltet, obwohl der Stromimport den mit Europa vereinbarten Höchstwert von 1,7 Gigawatt bereits erreicht hat. Die Ukraine versucht, Europa zu einer Steigerung des Imports auf zwei Gigawatt zumindest zum Beginn der Heizperiode zu bringen.

Dennoch weigere sich die EU aufgrund eigener Probleme, die Stromlieferungen zu vergrößern, behauptete Anfang Juli der Leiter der ukrainischen Union von Konsumenten kommunaler Dienstleistungen, Oleg Popenko. Gleichzeitig werde selbst ein gesteigertes Importvolumen den Energiebedarf unter gegenwärtigen Bedingungen nicht decken können, sagte die Vizechefin des ukrainischen Energieministeriums, Swetlana Grintschuk.

Die Führung der Ukraine räumt ein, dass der bevorstehende Winter und die Heizperiode schwierig sein werden. Der ehemalige Minister für Energie- und Kohleindustrie der Ukraine, Iwan Platschkow, sagte voraus, dass die Saison für das Land zu einer Katastrophe werde und empfahl den Bürgern, nach Häusern auf dem Land zu suchen, die mit Brennholz beheizt werden könnten.

Das Energiesystem befindet sich jetzt schon in einer kritischen Lage, weswegen die Regierung massenhafte Stromabschaltungen eingeführt hat. Nach unterschiedlichen Angaben wird der Strom für zehn bis zwölf Stunden pro Tag abgeschaltet.

Die Lage verschärfte sich wegen der anomalen Hitze, die zu einer verstärkten Belastung der Energieinfrastruktur führte. "Im Sommer versuchen alle, sich mit Elektrogeräten abzukühlen. Deswegen wird die Situation durch den zunehmenden Verbrauch verschlimmert, und Bedarfsspitzen kommen inzwischen nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer vor", sagt Igor Juschkow, Experte der Finanzuniversität bei der Regierung Russlands und des Fonds für nationale Energiesicherheit. Der ukrainische Stromnetzbetreiber Ukrenergo meldete, dass wegen der anomalen Hitze der Stromverbrauch einen Höchstwert erreicht und die Erzeugungskapazitäten der ukrainischen Kraftwerke erheblich überschritten habe.

Darüber hinaus habe die Ukraine seit Anfang 2024 Kraftwerke mit Erzeugungskapazitäten von neun Gigawatt durch russische Angriffe verloren, etwa 80 Prozent der Wärmekraftwerke und ein Drittel der Wasserkraftwerke seien zerstört, so Ukrenergo weiter.

"Die Situation wird durch planmäßige Reparaturen an Kraftwerken, vor allem an Atomkraftwerken, verschärft. Darüber hinaus gab es in der vergangenen Woche einen Notfall am südukrainischen Atomkraftwerk", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Iwan Lisan. Ukrenergo meldete, dass am 16. Juli die Ausrüstung an einem der Energieobjekte, vermutlich dem südukrainischen AKW, ausfiel und das Energiedefizit im System zugenommen habe. Schließlich wurden vier planmäßige Stromabschaltungen am Tag eingeführt, wodurch 70 Prozent der Konsumenten für insgesamt zwölf Stunden keinen Strom hatten.

"Die Grundlage des Energiesystems der Ukraine sind die Blöcke von Atomkraftwerken, die gegenwärtig aktiv repariert werden, was zusätzliche Probleme herbeiführt. Faktisch arbeiten jetzt nur noch die Atomkraftwerke im Normalbetrieb. Doch ihre Besonderheit besteht darin, dass sie immer mit der gleichen nominalen Leistung arbeiten. Es ist nicht möglich, die Leistungen der AKWs in der Ukraine zu manövrieren. Üblicherweise wird das Energiesystem mit den Leistungen von Wärme- oder Wasserkraftwerken ausgeglichen, beispielsweise während der Bedarfsspitzen am Morgen, wenn alle aufwachen, oder am Abend. Doch gegenwärtig können die Bedarfsspitzen nicht ausgeglichen werden, Wärme- und Wasserkraftwerke schaffen es nicht, deswegen führt die ukrainische Führung vorübergehende Stromabschaltungen ein. Die Ukraine gleicht das Energiesystem mit Abschaltungen von Konsumenten aus, statt neue Kraftwerke einzuschalten, weil es schlicht keine gibt", erklärt Igor Juschkow.

"Ein Defizit gab es ohnehin, doch jetzt wurde es nur noch größer. Es ist unmöglich, es durch Umleitungen aus Europa abzudecken. Diese Umleitungen sind auf 1.700 Megawatt beschränkt, doch in Wirklichkeit waren sie vor wenigen Tagen mit bis zu 1.100 Megawatt noch kleiner. Wir sehen also, dass die EU nicht einmal in der Lage ist, den Höchstwert von 1.700 Megawatt einzuhalten, was auch schon zu wenig war", sagt Lisan.

Dem Experten zufolge gebe es in Europa selbst nicht so viel Energie. Dazu ist sie um ein Vielfaches teurer als in der Ukraine, weswegen Europa keine Anreize hat, sie an den Nachbarn zu verkaufen. Damit die EU ein kommerzielles Interesse daran erhalte, müssten die Preise in der Ukraine auf 20 Griwna (umgerechnet 45 Cent) pro Kilowatt erhöht werden, erklärt Lisan. Gegenwärtig beträgt der Preis 2,6 Griwna beziehungsweise 4,8 Griwna bei einem Verbrauch über 100 Kilowatt.

"Die Ukraine importiert täglich Strom aus Ungarn, der Slowakei, Polen und Rumänien. Das sind die Hauptlieferanten der Energie. Ein wenig Strom gibt der Ukraine Moldawien über das moldawische Kondensationskraftwerk, das Russland gehört. Damit leistet Russland ebenfalls einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Energiestabilität in der Ukraine. Das Kraftwerk kann nicht abgeschaltet werden, weil sonst das gesamte Transnistrien und ein Teil Moldawiens ohne Strom bleiben würden. Doch die Hauptfunktion von Moldawien ist der Stromtransit aus Rumänien", sagt Juschkow.

Fertige Ausrüstung wird Europa kaum an die Ukraine liefern können, weil sich Energiesysteme der EU und der Ukraine stark unterscheiden und Europa keine Ersatzteile für Kraftwerke, die in der Sowjetunion gebaut wurden, hat. "Die EU kann nichts reparieren. Erstens ist die Spannung unterschiedlich. Zweitens werden ihre Spezialisten nicht aus unklaren Gründen in die Ukraine reisen. Es sind nicht die Russen, die nach Mariupol gingen und dort die Umspannwerke reparierten. Drittens gibt es in Europa keine Ersatzteile für Kraftwerke, die in der Sowjetunion gebaut wurden. Wozu sollten sie auch sowjetische Kraftwerke reparieren, wenn sie die Ukraine auf Windkraftwerke und Solaranlagen umstellen wollen. Für so etwas könnte die EU das Geld geben", sagt Lisan.

Den Winter unter Bedingungen des Energiedefizits zu überstehen, wird tatsächlich schwierig sein. "Mit Energieobjekten in einem solchen Zustand hat die Ukraine noch keinen Winter durchlebt. In diesem Winter war die Lage in der Ukraine anders. Eine neue Welle von Angriffen gegen Energieobjekte der Ukraine begann genau nach dem 1. April 2024, nachdem die Heizsaison beendet wurde. Vermutlich war es eine politische Entscheidung der russischen Führung, damit einfache Menschen während des kalten Wetters nicht leiden", sagt Juschkow.

"Heute überlebt die Ukraine hauptsächlich wegen der Atomkraftwerke, die nicht angegriffen werden, um mögliche Anschuldigungen zu minimieren, dass Russland angeblich eine Nuklearkatastrophe provoziere. Die Ukraine dagegen versuchte durchaus, russische Nuklearobjekte anzugreifen", fügt er hinzu.

Juri Koroltschuk, Experte des Instituts für Energiestrategien, umriss mehrere Szenarien, wie die Ukraine die Heizsaison im kommenden Winter durchstehen könnte. Gute gibt es darunter nicht. Nach dem Basisszenario wird erwartet, dass es gelingen würde, Erzeugerkapazitäten für drei Gigawatt wiederaufzubauen und einen stabilen Betrieb von acht oder neun Atomkraftwerkblöcken zu ermöglichen, während das Winterwetter nicht besonders kalt sein wird. In diesem Fall könnten die Stromabschaltungen bis zu zwölf Stunden pro Tag betragen, schätzt der Experte.

Im negativen Szenario würde es gelingen, nur bis zu zwei Gigawatt an Erzeugerkapazitäten wiederaufzubauen und sechs oder sieben Atomkraftwerkblöcke in Betrieb zu halten. Sollten in diesem Fall noch Kälteperioden kommen, werde dies "bestimmte Krisensituationen, nämlich den Kollaps des Energiesystems" herbeiführen, warnt der Experte.

"Warum gibt es in keinem Fall ein gutes Szenario für den Winter? Weil dort, wo die Wärmeenergie-Infrastruktur zerstört wird, es unmöglich sein wird, die Heizung zu betreiben. Das heißt, dass Menschen versuchen werden, sich mit Elektrogeräten zu wärmen. Doch das wird einen noch größeren Strombedarf provozieren, während es an Strom ohnehin schon mangelt. Das wird zu noch größeren Bedarfsspitzen führen, das heißt, die Intervalle der Stromversorgung werden sich weiter verkürzen. Das heißt, dass der Wunsch der Menschen, sich mit Elektrogeräten zu wärmen, dazu führen wird, dass sie noch weniger Strom erhalten", sagt Juschkow.

Es ist fraglich, ob Russland vor dem Winter weitere Angriffe gegen ukrainische Energieobjekte unternehmen wird. "Wie wir sehen, knüpft Russland seine Angriffe an bestimmte spektakuläre Angriffe auf sich selbst an. Deswegen könnte es zu Angriffen kommen, wenn die Ukraine einen bestimmten Angriff gegen uns unternimmt oder wenn sie den Verhandlungsprozess blockieren wird. Deswegen ist es wichtig zu sehen, wohin [Viktor] Orbáns Friedensinitiative führen wird", erklärt der Experte.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 23. Juli bei Wsgljad.

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