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Wird die NATO Russland angreifen?

Die zunehmende Verbitterung der westlichen Länder über Russland lässt sich in der Logik eines Präventivkriegs erklären. Dieses Modell betrachtet die Eskalation als Produkt von Zukunftsängsten. In der Geschichte wurden große Kriege in der Regel zum Produkt genau dieser präventiven Logik.
Wird die NATO Russland angreifen?Quelle: Gettyimages.ru © NurPhoto

Von Igor Istomin

Die Frage nach einem großen Krieg in Europa stellt sich heute dringlicher als je zuvor seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Westliche Analytiker diskutieren über unterschiedliche Szenarien eines potenziellen Konflikts, während offizielle Persönlichkeiten sogar offen über seine Wahrscheinlichkeit spekulieren und selbst konkrete Zeithorizonte besprechen.

In seinem jüngsten Auftritt stellte Russlands Präsident Wladimir Putin fest: Die Aktionen der westlichen Regierungen brachten die Welt zu einem "Punkt ohne Wiederkehr". Dabei überwiegt bei Diskussionen innerhalb Russlands der Glaube, dass den USA und ihren Verbündeten die katastrophalen Risiken einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland bewusst seien und dass sie, dem Selbsterhaltungstrieb folgend, versuchen werden, ihn zu vermeiden.

Solche Urteile stützen sich auf die Prämisse, dass sich der Westen trotz seiner Aggressivität und Überheblichkeit in seiner Politik von einer rationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen ‒ ausgehend vom existierenden Kräfteverhältnis ‒ leiten lässt. Dabei spricht die Erfahrung der Vergangenheit nicht für die Fähigkeit der USA und ihrer Verbündeten, einen ausgewogenen, kalkulierten politischen Kurs zu verfolgen.

Im Verlauf der 2000er und 2010er Jahre verstrickten sie sich mehrmals in militärische Abenteuer, aus denen sie anschließend qualvoll nach einem Ausstieg suchten. Man erinnere sich nur an die Beispiele der Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen. Natürlich blieben in all diesen Fällen die Risiken für den Westen bedeutend geringer, als im Fall eines hypothetischen Krieges mit Russland. Doch auf dem Spiel stand ebenfalls viel weniger.

Bezeichnend ist das jüngste Geständnis des US-Präsidenten Joe Biden: "Sollten wir jemals zulassen, dass die Ukraine eine Niederlage erleidet, merken Sie sich meine Worte: Sie werden sehen, wie Polen weggeht, und Sie werden sehen, wie all die Länder entlang der faktischen Grenze Russlands selbstständig verhandeln werden." Es lässt sich feststellen: In den Köpfen der westlichen Strategen nistete sich wieder die gute alte "Domino-Theorie" ein.

Das gespaltene Bewusstsein des Westens

Die zunehmende Verbitterung der westlichen Länder in Bezug auf Russland stimmt mit der Erklärung von bewaffneten Konflikten nach der Logik eines Präventivkriegs überein. Statt zwischenstaatliche Konflikte in Zusammenhang mit einem aggressiven Opportunismus zu stellen, betrachtet dieses Modell die Eskalation als ein Produkt von Zukunftsängsten. Die Überzeugung, dass sich ihre Stellung mit der Zeit verschlechtern werde, treibt die Staaten zu immer abenteuerlicheren Schritten an, bis hin zur Gewalt.

Im Verlauf der Geschichte wurden große Kriege in der Regel zu einem Produkt gerade dieser präventiven Logik – des Strebens, einen Schlag zu versetzen, um der eigenen Schwächung zuvorzukommen. So brachte die Zersetzung des Systems der Kontinentalblockade Napoléon dazu, Russland zu überfallen. Deutschlands Sorgen um die Perspektiven einer Modernisierung der russischen Armee dienten als Auslöser des Ersten Weltkriegs.

Eine ähnliche Dynamik lässt sich heute in der Politik des Westens beobachten, der in die Konfrontation mit Russland bedeutende Ressourcen investierte. Die Tatsache, dass Russland gar nicht verlieren will, sondern sich im Gegenteil einem Erreichen der gestellten Ziele nähert, kann bei den USA und ihren Verbündeten nur für Frust sorgen. Letzterer drängt sie nicht zu einer Versöhnung, sondern zur Suche nach immer stärkeren Mitteln.

Angesichts des Scheiterns der Pläne, Russlands Wirtschaft mit Einschränkungsmaßnahmen zu zerstören und Moskau durch die Hände Kiews eine strategische Niederlage zuzufügen, kommt der Westen immer näher an den Rand einer direkten militärischen Konfrontation. Dabei weist er eine abnehmende Sensibilität für mögliche Folgen eines solchen Szenarios auf. Wie Glücksspieler in einem Casino, erhöhen die USA und ihre Verbündeten mit jeder folgenden Runde ihre Einsätze.

Die zunehmende Abenteuerlichkeit ist in den Debatten um eine Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine gut zu sehen. Zu diesem Thema äußern sich inzwischen nicht nur hysterische europäische Staatsführer, sondern auch scheinbar besonnene US-Generäle. So zog der Generalstabschef des US-Militärs Charles Brown den Schluss, dass die Entsendung von NATO-Truppen ins Land eine unvermeidliche Perspektive sei.

Die Bereitschaft der westlichen Länder, Risiken einzugehen, wird durch ihre widersprüchliche, um nicht zu sagen schizophrene, Sicht auf Russland gestützt. Sie werden nicht müde, zu wiederholen, dass Moskaus Potenzial zuvor stark überschätzt und durch die spezielle Militäroperation zusätzlich geschwächt worden sei. Ohne jegliches Bewusstsein eines Widerspruchs begründen sie dabei die eigene Aufrüstung mit der zugenommenen russischen Bedrohung.

Die Inkonsequenz zeigt sich auch in der Darstellung Russlands als eines unersättlichen Expansionisten, der nach einer Eroberung der Nachbarn strebt, beim gleichzeitigen Glauben an Moskaus Ehrfurcht vor dem Artikel 5 des Washingtoner Abkommens, der den Mitgliedsstaaten der NATO den gegenseitigen Beistand im Fall eines Angriffs auf einen von ihnen garantiert.

Die Darstellung Russlands als "Papiertiger" – eines aggressiven, aber schwachen Akteurs – legt die Grundlagen für eine präventive Eskalation, um die für den Westen ungünstigen Tendenzen der Entwicklung der Konfrontation abzuwenden. Dabei könnten diese Versuche nicht nur in der Ukraine unternommen werden.

Als Beleg dafür dient die in die westlichen Diskussionen bisweilen eingebrachte Idee, Moskau den Zugang zum Baltikum zu beschränken, die eine unvermeidliche Reaktion auf die Bedrohung Kaliningrads ignoriert.

Quo vadis?

Bisher sprechen westliche Politiker den Gedanken eines bewaffneten Überfalls auf Russland nicht offen aus. Gegenwärtig ist die Rede von einer Erhöhung der Einsätze mit dem Hintergedanken, dass Moskau sich nicht trauen werde, darauf zu antworten. Mehr noch, die These, dass die NATO und ihre Mitgliedsstaaten angeblich keine direkte Konfrontation wollen, wird nach wie vor verkündet. Diese Zusicherungen lassen zweierlei Gefahren außer Acht.

Erstens kann sich der Westen im Glauben an die Sicherheit der nuklearen Abschreckung zu sehr ins Spiel hineinsteigern und eine solche Provokation eingehen, die Moskau vor die Notwendigkeit stellen würde, die eigenen Überlebensinteressen mit sämtlichen verfügbaren Mitteln zu verteidigen. Die bereits erwähnten Projekte einer Sperrung des Baltikums erscheinen genau wie ein solches Spiel.

Zweitens legt der sich festgesetzte Trend zur Steigerung der Abenteuerlichkeit die Grundlage für ein weiteres Aufweichen der Grenzen des Zulässigen für die USA und ihre Verbündeten. Die Logik der USA arbeitet auf eine immer weitere Steigerung der Einsätze hin angesichts der bereits aufgebrachten Ausgaben. Im Ergebnis beginnen die verfügbaren Mittel, die gestellten Ziele zu diktieren.

Ein zusätzlicher Faktor, der die Risiken einer Konfrontation erhöht, ist die kollektive Natur des Westens. In den Diskussionen innerhalb Russlands ist es üblich, den ungleichen Charakter der Verhältnisse innerhalb der NATO wegen der eindeutigen Dominanz Washingtons zu betonen. Dabei erhöht ausgerechnet der Vasallenstatus der europäischen Staaten ihr Interesse an einer Eskalation.

Für ein unüberwindbares Entsetzen sorgt bei den US-Verbündeten die Aussicht, dass Washington aus Sorge um die Konkurrenz mit China das Interesse an ihnen verlieren und sich zugunsten asiatischer Angelegenheiten umorientieren werde. Als Verkörperung dieser Gruselgeschichte dient die Figur Donald Trumps, doch herrscht in europäischen Hauptstädten die Befürchtung, dass ein solches Szenario unabhängig von der Person eines konkreten US-Staatschefs umgesetzt wird.

Die Verbündeten der USA gehen davon aus, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Entsprechend nimmt die Konfrontation mit Russland eine instrumentelle Funktion ein und hilft dabei, Washingtons Aufmerksamkeit auf die europäische Agenda zu bündeln. Schon die Debatten im US-Kongress bezüglich der Finanzierung Kiews Anfang 2024 wurden zu einem Warnsignal, denn sie zeigten die Konzentration der USA auf eigene Angelegenheiten.

Der Logik der Prävention folgend, könnten europäische NATO-Mitgliedsstaaten zum Schluss kommen, dass die Provokation eines Konflikts zum jetzigen Zeitpunkt, solange die USA noch in den Ukraine-Konflikt und die Eindämmung Russlands involviert sind, der Perspektive, die Last der Konfrontation mit Moskau künftig allein zu tragen – ein Szenario, das sie nicht ausschließen –, vorzuziehen wäre.

Nicht überraschend ist daher, dass ausgerechnet vonseiten der europäischen Politiker die verantwortungslosesten und radikalsten Vorschläge erfolgen – wie etwa eine Entsendung von Truppen in die Ukraine oder NATO-Garantien für Territorium, das Kiew kontrolliert. Eine Innendynamik im Rahmen des Westens begünstigt den Wettbewerb um den Status des unerbittlichsten Kämpfers gegen Russland.

Von Plänen zur Praxis

Auf praktischer Ebene bereiten sich die NATO-Mitgliedsstaaten aktiv auf eine militärische Konfrontation mit Russland vor. Das neue Modell der Allianztruppen, das noch auf dem Gipfel von Madrid 2022 festgelegt wurde, und die auf seiner Grundlage vorbereiteten regionalen Pläne setzen voraus, dass zusätzlich zu den bereits an Russlands Grenzen stationierten Truppen ein beträchtlicher Truppenverband in der Stärke von 300.000 Mann innerhalb von 30 Tagen aufgestellt wird.

Die Grundlage für Erstere bilden Kontingente aus zentral- und osteuropäischen Ländern, die aktiv aufgestockt und modernisiert werden. Besonders tut sich dabei Polen hervor, das den gleichen Status des Hauptbollwerks der NATO beansprucht, den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bundeswehr innehatte. Die Aufstockung des Militärs auf 300.000 Mann soll Polens Streitkräfte in die größte Landarmee unter den europäischen Mitgliedern der Allianz verwandeln.

Die NATO-Mitglieder üben offen Szenarien von Kampfhandlungen an potenziellen Kriegsschauplätzen in Ost- und Nordeuropa. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Verinnerlichung von Lektionen aus den bewaffneten Kämpfen in der Ukraine gelegt. Dazu wird im polnischen Bydgoszcz ein spezielles Zentrum geschaffen, das einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch zwischen westlichen und ukrainischen Militärs gewährleisten soll.

Lange Zeit stellten die eingeschränkten Möglichkeiten der Rüstungsindustrie die Schwachstelle in den westlichen Bemühungen dar. Dennoch legen die NATO-Mitgliedsstaaten zunehmenden Wert darauf, diese Einschränkung zu überwinden. Es wäre leichtfertig, zu denken, dass es ihnen nicht gelingen würde, die Produktion zu steigern, darunter durch die zunehmende Bindung von europäischen Konzernen an den US-amerikanischen Militärindustriekomplex.

Bei der Beurteilung eines Zwischenstands der westlichen Bemühungen stellten die Spezialisten des einflussreichen Washingtoner Zentrums für strategische und internationale Studien in ihrem jüngsten Bericht fest, dass die NATO für den künftigen Krieg bereit sei. Eine solch lautstarke Ankündigung wird von der Anmerkung begleitet, dass die Allianz noch mehr daran arbeiten solle, sich auf eine dauernde Konfrontation vorzubereiten, in die ein Konflikt mit Russland zu münden droht.

Solch inkonsequente Folgerungen der Experten werden offensichtlich durch die politische Zweckmäßigkeit diktiert – einerseits durch das Bestreben, zu zeigen, dass der gewählte Kurs zur Eindämmung Moskaus richtig war, andererseits durch die Notwendigkeit, gleichzeitig die Allianzmitglieder dahingehend zu mobilisieren, ihre Anstrengungen im militärischen Bereich weiter zu steigern. Diese Schlüsse belegen nochmals die Logik des Spiels zur Erhöhung der Einsätze.

Die Suche nach der "goldenen Mitte"

Bezüglich der titelgebenden Frage zeigt die Analyse, dass die Antwort darauf mit großer Wahrscheinlichkeit positiv ausfallen könnte. In diesem Zusammenhang wird Russland mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, die Eskalation einzudämmen, während der Westen für die an ihn gesendeten Signale unempfindlich ist. Versuche, den Ernst der Lage zu vermitteln, werden entweder von vornherein weggewischt oder als Demonstration russischer Aggressivität ausgelegt.

Vor dem Hintergrund einer solchen Indoktrination des Westens besteht die Gefahr, selbst in eine ähnliche Exaltation zu verfallen und zu versuchen, durch noch risikoreichere Demonstrationen der eigenen Entschlossenheit den Gegner zu zwingen, seinen abenteuerlichen Kurs aufzugeben. Bisher gelang es der russischen Staatsführung, diesen Versuchungen zu widerstehen.

Selbstverständlich müssen die westlichen Versuche einer Einsatzerhöhung beantwortet werden. Dabei sollte der Schaden auf die eigentlichen NATO-Mitgliedsstaaten, und nicht nur auf ihre Marionetten, konzentriert werden. Gerade darin muss die Akzentsetzung auf die sprichwörtlichen "Entscheidungszentren" bestehen. Ankündigungen der möglichen Übergabe von Waffen mit großer Reichweite an die Gegner der USA, wie der Besuch der russischen Militärschiffe auf Kuba, erscheinen in diesem Zusammenhang als logische Schritte.

Möglicherweise könnte das Reaktionsspektrum den Abschuss von Drohnen umfassen, die im Interesse der Ukraine Aufklärung über dem Schwarzen Meer betreiben. Mehr noch, der zuvor genannte Umstand legitimiert ein direktes Verbot ihrer Flüge über angrenzenden Gewässern. Russische Eindämmungsmaßnahmen könnten außerdem durch gemeinsame Manöver mit Staaten, die sich den Status als Gegner des Westens verdient haben, im Baltikum, im Mittelmeer oder im Nordatlantik ergänzt werden.

Die Hoffnung auf Abschreckungsaktionen sollte mit der historischen Erfahrung abgewogen werden. Diese bezeugt, dass sie öfter zu einer Verbitterung des Gegners als zu Eingeständnissen führen. Das stellt insbesondere die Gültigkeit des eingangs genannten Vorschlags von Atomschlägen zu Demonstrationszwecken infrage. Diese Aktionen werden eher zu entgegengesetzten als den von ihren Urhebern angenommenen Konsequenzen führen und die direkte Konfrontation mit der NATO näherbringen, statt sie abzuwenden.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 19. Juni beim Internationalen Diskussionsclub Waldai.

Igor Istomin ist Leiter des Lehrstuhls für angewandte Analyse internationaler Probleme am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen.

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