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Pokerspiel – Warum Macron wirklich Neuwahlen will

Kaum stand das Ergebnis der EU-Wahlen fest, überraschte der französische Präsident Emmanuel Macron sein Land – und die internationale Gemeinschaft – mit der Ankündigung von sofortigen Neuwahlen. Übermut oder eiskaltes Kalkül?
Pokerspiel – Warum Macron wirklich Neuwahlen will© Thierry Monasse/Getty Images

Von Pierre Lévy

"Pokerspiel", "Banque-Spiel", "Sprung ins Leere"... Die Auflösung der Nationalversammlung, die Emmanuel Macron nur eine Stunde nach Bekanntgabe der ersten französischen Ergebnisse der Wahlen vom 9. Juni ankündigte, hat viele Kommentatoren und politische Analysten in Erstaunen versetzt. Ebenso verunsicherte – und beunruhigte – sie zahlreiche Persönlichkeiten in der EU, auch wenn diese sich diskret verhielten.

Der französische Präsident nahm das sehr hohe Ergebnis für den Rassemblement National – 31,4 Prozent – zum Anlass, die Franzosen am 30. Juni und 7. Juli an die Urnen zu rufen. Dies bestätigt, dass es keine Europawahl gab, sondern 27 nationale Wahlen in Ländern, die sich in Bezug auf den Kontext, die Aktualität, die Folgen, aber auch die nationale Geschichte und politische Kultur unterscheiden (auch wenn einige globale Trends analysiert werden sollten).

Natürlich hat der Herr des Élysée-Palasts diese Entscheidung nicht in wenigen Minuten getroffen. Wie einige seiner engsten Vertrauten berichten, hatte er schon seit Monaten darüber nachgedacht; die Entscheidung scheint bei einem Mittagessen mit einigen Beratern am 20. Mai gereift zu sein. Die Umfragen sagten bereits ein sehr starkes Ergebnis für die Rassemblement National und eine Katastrophe für die macronistische Liste voraus, die von der Liberalen Valérie Hayer angeführt wurde. Diese erhielt schließlich 14,6 Prozent der Stimmen und lag damit zwar auf dem zweiten Platz, aber mit einem abgrundtiefen Abstand zur Liste des Siegers, Jordan Bardella.

In seiner kurzen Ansprache musste der Staatschef implizit seine Niederlage eingestehen. Er hatte sich nämlich im Mai 2022 mit dem erklärten Ziel wiederwählen lassen, den als "nationalistisch" und "antieuropäisch" bezeichneten RN zugunsten einer Strategie der Fortsetzung der europäischen Integration, die er seit 2017 verkörpert, zu schwächen.

Zwar hat der RN viel Wasser in seinen Wein geschüttet in der Hoffnung, in den Kreis der Eliten aufgenommen zu werden, also salonfähig zu sein. Seine historische Chefin und schon Elysée-Kandidatin Marine Le Pen hat offiziell darauf verzichtet, die Franzosen über die Mitgliedschaft in der EU zu befragen – eigentlich hatte sich ihre Partei nie für einen Austritt aus der EU eingesetzt. Ebenso schwor die Partei, dass sie künftig der westlichen Unterstützung für die Ukraine treu bleiben würde.

Nichtsdestotrotz: Für sehr viele Wähler verkörpert der RN weiterhin die Opposition gegen Brüssel. Und er behält das Image einer Partei, die weniger moskaufeindlich und friedensfreundlicher ist als die traditionellen politischen Kräfte – was diese ihm im Übrigen immer wieder vorgeworfen haben. In diesem Zusammenhang stellt das Ergebnis vom 9. Juni einen Rückschlag nicht nur für Emmanuel Macron, sondern auch für die "europäische Idee" dar, mit der sich Macron identifiziert hat.

Da sich diese monumentale Ohrfeige nicht verbergen ließ, gingen die Strategen im Élysée-Palast davon aus, dass sie als Gelegenheit dienen könnte, die Karten neu zu mischen. Denn seit 2022 verfügt der Staatschef nicht mehr über eine Mehrheit in der Nationalversammlung. Daher muss jedes Projekt und jedes Gesetz endlos verhandelt werden, bevor es verabschiedet werden kann. Manchmal enden die Verhandlungen im Parlament in einer Sackgasse, sodass die Regierung verfassungsrechtliche Tricks anwenden muss, um Texte ohne Abstimmung durchzusetzen.

Dies war der Fall, als die unpopuläre Rentenreform durchgesetzt werden sollte. Auch die Verabschiedung von Haushaltstexten bereitet Kopfzerbrechen. Kurzum, seit vielen Monaten herrscht eine Lähmung des politischen Handelns. Und das zu einer Zeit, in der die EU die Wiederaufnahme von "Reformen" und Haushaltskürzungen fordert. Im Übrigen ist der französische Präsident, der versucht, seinen Einfluss in Brüssel zu festigen, durch das Image eines nicht reformierbaren Landes mit ständigen Defiziten behindert.

Das strategische Ziel des Präsidenten besteht also darin, aus dieser Situation herauszukommen. Nebenbei spielten auch taktische Ziele eine Rolle: Emmanuel Macron, der 2027 nicht erneut kandidieren darf, versucht, die Kontrolle über die Wahl seines Nachfolgers zu behalten. Das bedeutet, dass er einige Bewerber überrumpeln muss, die sich schon fast im Wahlkampf befanden.

Eine Frage bleibt natürlich: Hat das Pokern des Staatschefs angesichts des Wahldesasters vom 9. Juni und seiner sehr großen Unbeliebtheit, die dazu beigetragen hat, überhaupt eine Chance auf Erfolg? Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, um eine eindeutige Antwort zu geben.

Dies gilt insbesondere für die Tragfähigkeit der präsidialen Berechnungen. Diese beruhen auf dem Slogan: "Ich oder das Chaos", wobei das "Chaos" hier durch das fantastische Gespenst der Rückkehr der "braunen Pest" und der "dunkelsten Stunden unserer Geschichte" dargestellt wird. Ein Gespenst, gegen das ein heiliger Bund geschlossen werden solle. Dieser Aufruf richtet sich in erster Linie an die Partei der klassischen Rechten, Les Républicains (LR).

Der Präsident hofft, auf diese Weise große Teile der LR unter seinem Banner einfangen zu können, zumal es bereits zu punktuellen Anschlüssen gekommen ist, die manchmal mit Ministerposten belohnt wurden. Es stimmt, dass es keine ideologischen Hindernisse zwischen den Freunden Emmanuel Macrons und der LR gibt (einer Partei, die mit 7,2 Prozent der Stimmen nach wie vor blutleer bleibt).

Es gibt auch keine ideologische Kluft zur Sozialistischen Partei (deren Liste 13,8 Prozent der Stimmen erhielt, was angesichts deren Geschichte ein klägliches Ergebnis ist, aber immerhin doppelt so viel wie 2019). Auf dieser Seite ist das makronistische Kalkül jedoch anders. Indem er die kürzestmögliche Kampagne durchsetzt, hofft der Élysée-Palast (wahrscheinlich erfolglos), jegliche Allianz innerhalb der "Linken" zu überrumpeln.

Zwar rufen die verschiedenen Parteien dieser Seite alle zu einer "Volksfront" gegen den RN auf. Aber zwischen der PS, die sich treu an den Dogmen der EU orientiert, und La France insoumise (LFI), die eine radikalere Sprache spricht und auf die Notwendigkeit besteht, sich auf ein klares Programm zu einigen, sind die Spannungen, insbesondere in den letzten Monaten, immer stärker geworden. Wird es daher möglich sein, wie 2022, aber diesmal innerhalb weniger Tage, gemeinsame Kandidaturen und ein gemeinsames Programm aufzustellen?

All dies wird das Profil der nächsten Nationalversammlung bestimmen: Ausgestattet mit einer absoluten Mehrheit von Macron-freundlichen Abgeordneten? Erobert von einer heterogenen, linken Mehrheit? Dominiert von der RN? Oder zersplittert und noch unregierbarer als die scheidende Kammer?

Keine dieser Hypothesen ist bislang ausgeschlossen. Die letzten beiden sind nicht die unwahrscheinlichsten – und sind genau die, die in Brüssel gefürchtet werden. Denn für eine Europäische Union, die bereits durch ihre Spaltungen und Widersprüche zwischen den Mitgliedstaaten bei wichtigen Themen (Haushaltszwänge, gemeinsame Anleihen, Industrie- und Handelspolitik, Umwelt, Erweiterung, Einwanderung usw...) belastet ist, würde die "Destabilisierung" der zweitgrößten Macht des Klubs ein zusätzliches großes Handicap darstellen.

Ganz nebenbei erschwert die Auflösung der französischen Nationalversammlung bereits jetzt die diskreten und ohnehin schon komplexen Verhandlungen zwischen den Hauptstädten über die Besetzung der höchsten EU-Posten (Kommissions- und Ratspräsident, Hoher Vertreter...).

Wie dem auch sei, angesichts der Kürze der Kampagne wird man bald mehr Klarheit haben.

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