Kujat: "Der Ukraine-Krieg könnte zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden"
General der deutschen Luftwaffe a.D. Harald Kujat sieht die Menschheit auf dem Weg in einen neuen Weltkrieg. Der Konflikt in der Ukraine könnte zur "Urkatastrophe" des 21. Jahrhunderts werden, analog zum Ersten Weltkrieg, der die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts war.
Die aktuelle militärische Lage der Ukraine sei "äußerst schwierig", sagte Kujat in einem am Dienstag veröffentlichten Interview mit der Schweizer Zeitschrift Weltwoche. Das Interview führte der Weltwoche-Chef Roger Köppel.
Die Front sei überdehnt und könne mit dem Potenzial der Ukraine nicht gehalten werden, so die Analyse des Generals. Die ukrainische Armee habe schwere Verluste erlitten und sei aktuell nicht in der Lage, diese auszugleichen. Es sei seiner Auffassung nach nicht mehr möglich, also "ausgeschlossen", dass die Ukraine ihre Kriegsziele wie die Rückeroberung des Donbass und der Krim noch erreichen werde.
Darum habe Wladimir Selenskij, der ukrainische Staatschef, dessen von der Verfassung vorgesehene Amtszeit inzwischen abgelaufen ist, drei Forderungen an den Westen gestellt. Die erste Forderung sei, westliche Waffen auf russischem Territorium einsetzen zu dürfen. Die zweite Forderung bestehe darin, dass der Westen ukrainische Soldaten in räumlicher Nähe zur Front ausbildet. Selenskijs dritte Forderung war der Abschuss russischer Raketen durch die Luftabwehr der Nachbarstaaten, die Mitglied in der NATO sind.
Kujat erinnerte daran, dass die Ukraine auch bisher schon russisches Territorium mit westlichen Waffen attackiert hat, darunter auch mit völkerrechtlich geächteter Streumunition. Vor allem zivile Objekte – der General erinnerte an den ukrainischen Beschuss von Belgorod mit zahlreichen getöteten und verletzten Zivilisten – werden angegriffen. Ebenso werde im Westen nicht berichtet, dass die Ukraine wochenlang russische Raffinerien angreift. Berichtet werde dann nur von den russischen Vergeltungsangriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur.
Als "verantwortungslos" qualifizierte Kujat die Angriffe auf russische strategische Frühwarnsysteme in den letzten Wochen. Dies seien Handlungen eines "politischen Hasardeurs", so der General. Dies könnte einen unbeabsichtigten Atomkrieg auslösen, wenn Russland die Gefährlichkeit des Starts ballistischer Raketen im Westen nicht mehr sicher einschätzen kann.
Das Kalkül von Selenskij sei, Russland zu einer massiven Gegenreaktion zu provozieren, was die NATO im nächsten Schritt dazu zwingen würde, ihre Truppen in die Ukraine zu entsenden oder sonst offen in den Krieg einzugreifen.
Auch die Forderung nach frontnaher Ausbildung habe keinen anderen Sinn als denjenigen, als die NATO unmittelbar in den Krieg zu verwickeln. Denn früher oder später werde die NATO die an der Front eingesetzten Ausbilder schützen müssen. Bei der dritten Forderung sei die Eskalationsgefahr offensichtlich, so Kujat.
In einer Linie damit sieht der General a.D. auch die Initiativen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, französische Truppen und Truppen anderer NATO-Mitgliedsländer in die Ukraine zu entsenden. Diese werden nach Auffassung von Kujat immer konkreter und gefährlicher.
Es gebe im Westen jedoch bislang keine einheitliche Position und keine allgemeine "Weltkriegsbereitschaft", so Kujat. Der Westen habe massiv finanzielles und politisches Kapital in die Ukraine investiert, sei angesichts der enttäuschten Erwartungen und der geradezu entgegengesetzten Ergebnisse "in Panik" und versuche nun zu retten, was zu retten ist.
Seiner Einschätzung nach eskalierten die USA bislang vorsichtig. Das Risiko bestehe auch dabei darin, dass die Schmerzgrenze Moskaus nicht erkannt werde, so Kujat. Außerdem nehme der Druck auf Biden durch seine Berater zu, namentlich nannte er den Staatssekretär Antony Blinken, russische Warnungen nicht ernst zu nehmen.
Dagegen seien das Verhalten und die Äußerungen europäischer Politiker vollends verantwortungslos, ein "Va-Banque"-Spiel, so der General. Während Biden bislang nur taktische Entscheidungen getroffen hat, führe die Bereitschaft zum Beispiel deutscher Politiker, Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine zu liefern, unmittelbar in die unkontrollierte Eskalation. Mit Taurus könne sogar der Kreml angegriffen werden, und zwar "so dass er danach nicht mehr steht", so Kujat.
Die eigentliche Gefahr bestehe darin, dass inzwischen ein Stadium erreicht ist, in dem es "ganz schwierig" ist, die Eskalationsspirale an einem bestimmten Punkt anzuhalten. In den Ersten Weltkrieg seien schließlich "alle begeistert gezogen", die Situation heute sei mit damals vergleichbar, sagte Kujat auf eine ausdrückliche Frage von Roger Köppel.
Vor diesem Hintergrund sei es töricht, dass man die Chancen zu ernsthaften Verhandlungen nicht nutze. Die ukrainische Bevölkerung wünsche sich Frieden und Verhandlungen, der Krieg werde über ihre Köpfe geführt. Auch in Deutschland gebe es eine große schweigende Mehrheit, obgleich zunehmend kritische Fragen gestellt werden. Den heutigen Regierungen in Deutschland und Frankreich traue er einen Ausbruch aus der Kriegslogik nicht mehr zu, sagte der General a.D. resümierend:
"Ich bin da sehr, sehr skeptisch."
Zum Abschluss des Interviews gab es aber auch eine Portion Zweckoptimismus:
"Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, Herr Köppel. Irgendwann setzt sich doch die Vernunft durch, das ist immer meine Hoffnung gewesen. Vielleicht hat der liebe Gott Mitleid mit unseren Herrschenden und schüttet Geist aus von oben."
Kujat war von 2000 bis 2002 als 13. Generalinspekteur der ranghöchste Offizier der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
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