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Zwei Jahre eines neuen Kalten Krieges: Analyse und Schlussfolgerungen

Fünf wichtige Trends können als die bedeutendsten großen strategischen Faktoren angesehen werden, von denen zu erwarten ist, dass sie im kommenden Jahr den größten Einfluss auf den globalen Systemwandel haben werden.
Zwei Jahre eines neuen Kalten Krieges: Analyse und SchlussfolgerungenQuelle: Gettyimages.ru

Von Andrew Korybko

Die bisherige Bipolarität ist einer Tripolarität gewichen

Erstens hat sich das chinesisch-US-amerikanische bipolare System, das die Jahre vor der militärischen Operation Russlands in der Ukraine prägte, infolge des erfolgreichen Aufstiegs Indiens zu einer weltweit bedeutenden Großmacht zu einem tripolaren System entwickelt. Die entstehende Weltordnung wird nun durch das Zusammenspiel zwischen dem von den USA geführten kollektiven Westen, der chinesisch-russischen Entente und dem informell von Indien geführten globalen Süden geprägt, in dem sich mehrere unabhängige Großmächte etabliert haben. Im Laufe der Zeit wird dieses System das Stadium der komplexen Multipolarität erreichen – und somit wohl seine vorläufig endgültige Gestalt annehmen.

Die "Festung Europa" ist das neue Projekt der USA zur Eindämmung Russlands

Zweitens veranlasste das Scheitern der Kiewer Gegenoffensive die USA, über alternative Strategien zur Eindämmung Russlands nachzudenken, nachdem klar wurde, dass die NATO ihren Gegner in der Ukraine strategisch nicht besiegen kann. Die Unterordnung Polens unter Deutschland nach der Rückkehr von Donald Tusk in das Amt des polnischen Premierministers ermöglicht es Berlin, mit Unterstützung der USA den Aufbau der "Festung Europa" zu beschleunigen, um seinen Kurs in Richtung zu einer Großmacht wieder aufzunehmen. Das soll die "Festung Europa" möglich machen und gleichzeitig US-Streitkräfte freisetzen, die zur Eindämmung Chinas nach Asien verlegt werden können .

Die militärisch-industriellen Mittel des Westens sind schwächer als erwartet

Drittens wird weder Deutschland in absehbarer Zeit wieder eine Großmacht werden, noch werden die USA China in der kommenden Zukunft energischer im Zaum halten können, da sich die militärisch-industriellen Möglichkeiten des Westens schwächer gezeigt haben als erwartet, wie das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive belegt, ebenso wie die Unfähigkeit, die Verluste an Waffen und Munition in angemessener Zeit zu ersetzen. Die New York Times räumte bereits im vergangenen September ein, dass Russland im "Wettlauf der Logistik" und im "Zermürbungskrieg" weit vor der NATO liegt, was wiederum erklärt, warum sich der Ukraine-Konflikt in letzter Zeit zu konsolidieren begann.

Jede absichtlich von den USA kalkulierte Krise mit China wird wahrscheinlich verzögert

Viertens ist es anknüpfend an die vorangehend geschilderten Beobachtung wahrscheinlich, dass jede bewusst kalkulierte US-amerikanische Krise mit China zumindest durch die USA bis zum Ende des Jahrzehnts hinausgezögert wird, weil der überraschend schwache militärisch-industrieller Komplex der USA Zeit braucht, um die US-Streitkräfte wieder aufzurüsten und auszustatten und obendrein regionale Verbündete zu bewaffnen. Eine vergleichsweise kleine Krise könnte durch eine Fehleinschätzung entstehen, vielleicht aufgrund eines möglichen chinesisch-philippinischen Streits über die Stationierung von US-Truppen in dem Inselstaat. Aber die USA würden Schwierigkeiten haben, eine große, selbst verursachte Krise zu bewältigen, geschweige denn, zum jetzigen Zeitpunkt einen großen Krieg zu führen.

Die Region um das Rote Meer ist der neue Krisenherd im globalen Süden

Fünftens wurde die Hauptroute für den Handel zwischen Europa und Asien durch die Blockade der Huthi auf den Seeweg bei Bab al-Mandab stark beeinträchtigt. Die Sicherheit dieser Handelsroute durch das Rote Meer bleibt ungewiss, selbst wenn die Blockade aufgehoben wird, weil Somalia dabei ist, eine regionale Koalition mit Eritrea, Ägypten – und möglicherweise mit der Türkei und den USA – zu etablieren, um die Pläne Äthiopiens zu vereiteln, einen Marinestützpunkt in Somaliland zu errichten. Die Interessen aller wichtigen Großmächte – der USA, Chinas, der EU, Russlands und Indiens – prallen in der Region des Roten Meeres aufeinander, was diese Region zum neuen Brennpunkt des globalen Südens macht, den es genau im Auge zu behalten gilt.

Diese fünf aufgezählten Trends gelten als die bedeutendsten großen geostrategischen Trends, was jedoch nicht bedeutet, dass andere Trends – wie jene in der Sahelzone oder die Beschleunigung der Prozesse bei der finanziellen Multipolarität – nicht auch wichtig sind. Aber aus den dargelegten Gründen werden die hier aufgezählten fünf Trends voraussichtlich den größten Einfluss auf den sich abzeichnenden globalen Systemwandel haben.

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Aus dem Englischen

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

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