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Neuigkeiten von der ukrainischen Justiz: Rechtsradikaler nach Totschlag freigesprochen

Massaker des 2. Mai 2014 in Odessa, Morde an dem Schriftsteller Oles Busina und dem Journalisten Pawel Scheremet, Vergewaltigungen im Donbass und vieles mehr: Für kein rechtsradikales Verbrechen in der Ukraine wurden bekannte und ermittelte Täter zur Verantwortung gezogen. Ein Fall zeigt, was das Kalkül ist: die Verfahren werden bis zur Verjährung verschleppt.
Neuigkeiten von der ukrainischen Justiz: Rechtsradikaler nach Totschlag freigesprochenQuelle: Gettyimages.ru © Maxym Marusenko/NurPhoto

Von Alexej Danckwardt

Die ukrainische Justiz liefert immer wieder Beispiele dafür, wie sie einerseits Andersdenkende und Gegner des aktuellen Kiewer Regimes mit drakonischen Strafen selbst für harmlose Meinungsäußerungen belegt, und andererseits Maidan-Anhänger und Rechtsradikale sogar für Kapitaldelikte wie Mord und Totschlag nicht zur Verantwortung zieht.

Unter den Beispielen für Letzteres ist sicherlich der Fall des 2015 mitten in Kiew erschossenen Journalisten und Schriftstellers Oles Busina am prominentesten, dessen Mördern zwar der Prozess gemacht wurde, diese aber bis heute auf freiem Fuß sind. Die letzten Nachrichten zu diesem Prozess datieren auf das Jahr 2021. Es gab kein Urteil, keinen förmlichen Abschluss. Das Gericht bestimmt einfach keine Termine, der Prozess ist offenbar schlicht "vergessen". Sogar die höchste Verjährungsfrist nach ukrainischem Recht – zehn Jahre – kommt immer näher. 

Ein weiterer Fall, der seit vielen Jahren regelmäßig für Schlagzeilen sorgt, ist der des rechtsradikalen Aktivisten aus Odessa, Sergei Sternenko. Der Maidan-Aktivist und früher Mitglied des "Rechten Sektors" stand wiederholt vor Gericht und entkam jedes Mal einer Bestrafung. Zumindest in einem Fall hat Sternenko sein Glück auf der Anklagebank dem ukrainischen Präsidialamt und Wladimir Selenskij persönlich zu verdanken. Damals ging es um die Entführung eines Abgeordneten in Odessa im Jahr 2015. Sternenko wurde in erster Instanz verurteilt, telefonierte noch im Gerichtssaal mit Selenskij und – oh Wunder! – war sich von da an eines milden Urteils in der Berufungsinstanz sicher. 

In dem jetzt durch Einstellung abgeschlossenen Prozess ging es um weitaus Ernsteres – um Totschlag. Am 24. Mai 2018 tötete Sternenko in Odessa den Militärangehörigen Iwan Kusnezow mit einem mitgeführten Messer. Den Totschlag selbst leugnete der "Aktivist" nicht. Es gab auch wenig zu leugnen, da seine Lebenspartnerin die Tat gefilmt und noch am Tatort veröffentlicht hatte. Das Paar führte sogar einen Livestream vom Ort des Geschehens. Dort wie später vor Gericht verteidigte sich Sternenko mit der Behauptung, Kusnezow und ein weiterer Mann hätten ihn überfallen und er habe sich "nur" verteidigt, als er auf das Opfer mehrfach einstach. 

Ob der behauptete Überfall sich tatsächlich ereignet hat oder – wie Juristen sagen – eine überaus typische Schutzbehauptung ist, kann als unaufgeklärt gelten. Sternenkos Schilderung wird insoweit von seiner Lebenspartnerin bestätigt, allerdings nur von ihr. Der zweite Mann, der an dem "Überfall" beteiligt gewesen sein soll, lebt aktuell in Deutschland, wurde aber nicht als Zeuge befragt. Die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden interessierten sich für ihn nur als Beschuldigten des angeblichen "Überfalls", stellten kein Rechtshilfeersuchen zur Vernehmung als Zeuge des Totschlags. Im Zweifel für den Angeklagten: Dass die ukrainischen Richter offenbar davon ausgehen, dass Sternenko überfallen wurde, begegnet keinen Bedenken. 

Eine Notwehr wird allerdings selbst beim größten Wohlwollen nicht daraus, ist juristisch ausgeschlossen. Es steht nämlich praktisch fest, dass Sternenko sein Opfer nicht dort erstach, wo er auf die beiden Männer traf oder – nach seiner Version – von ihnen überfallen wurde. Mehrere 100 Meter liegen zwischen dem Ort des angeblichen Überfalls und der Stelle, an der Kusnezows Leiche später aufgefunden wurde. Und die Art der Verletzungen ist so, dass Kusnezow sich unmöglich so weit bewegt haben kann, nachdem Sternenko sie ihm zugefügt hatte. Es gibt nur eine Erklärung: Sternenko verfolgte den bereits weglaufenden, vom gezogenen Messer abgeschreckten Mann über diese Distanz, bevor er auf ihn einstach. Dann war die Tötung aber auch keine zur Abwehr eines "gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden Angriffs" erforderliche Handlung. Kurzum: keine Notwehr. 

Viele werteten es als ein Zeichen der Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine nach dem Amtsantritt von Wladimir Selenskij, dass Sternenko im Jahr 2020 angeklagt und vor Gericht gestellt wurde. In Untersuchungshaft musste er nicht, stand nur vorübergehend unter Hausarrest. Wie in der Ukraine nach dem Euromaidan üblich, wurde der Prozess von massiven Protesten und Ausschreitungen Rechtsradikaler begleitet, die einen Freispruch für Sternenko forderten. 

Am 23. Februar 2021 folgte die schon erwähnte Verurteilung des Rechtsradikalen wegen der Entführung des Abgeordneten zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und drei Monaten. Vermutlich durch Einmischung von Selenskijs Präsidialverwaltung wurde daraus schon im Mai desselben Jahres eine Bewährungsstrafe von drei Jahren mit einem Jahr Bewährungszeit. 

Ab diesem Zeitpunkt nahm auch der Prozess wegen des Totschlagsdelikts einen erkennbar auf Verschleppung ausgerichteten Verlauf. Die eigentlich nach der Anzahl der zu erhebenden Beweise überschaubare Hauptverhandlung wurde immer wieder vertagt und kam mit dem Beginn der militärischen Intervention Russlands im Februar 2022 praktisch zum Erliegen. 

Diese Woche wurde nun bekannt, dass das Gericht am 26. Dezember das Verfahren gegen Sternenko eingestellt hat. Der Beschluss ist noch nicht veröffentlicht, aus den Äußerungen der Prozessbeteiligten lässt sich aber schlussfolgern, dass die Einstellung wohl mit dem Ablauf der Verfolgungsverjährungsfrist begründet wird. Fünf Jahre sind seit der Tat vergangen, zu einer Verjährung nach so kurzer Frist kann das Gericht nur kommen, wenn es die Tat nicht als vorsätzlichen Totschlag, sondern als fahrlässige Tötung qualifiziert. Nach Art. 106 des ukrainischen Strafgesetzbuches verjähren nämlich nur "nicht schwere" Taten nach fünf Jahre, schwere nach sieben oder zehn. Angesichts der Schwere und der Anzahl der Stichwunden, die Sternenko seinem Opfer zugefügt hatte, fällt es schwer zu glauben, dass der "Aktivist" nicht einmal bedingten Tötungsvorsatz hatte. 

Es kommen also zwei Umstände zusammen: Zum einen wählt das Gericht überaus fragwürdig die dem Angeklagten günstigste Interpretation des Tatgeschehens, zum anderen hat es das vor drei Jahren begonnene Verfahren über alles Verständliche hinaus verschleppt. Berücksichtigt man, dass Sternenko die ganze Zeit auf freiem Fuß war und nur kurze Zeit unter Hausarrest stand, liegt der Verdacht einer absichtlichen Prozessverschleppung nahe. Das Verfahren wurde regelrecht begraben, und mit ihm auch die 2020 geweckten Hoffnungen auf die Rückkehr der Ukraine zur Rechtsstaatlichkeit.

Dass die ukrainische Strafjustiz in Fällen, in denen es um Andersdenkende geht, ganz anders und überaus effektiv funktioniert, verdeutlichen aktuell zwei andere Fälle. Da sind zum einen die Brüder Alexander und Michail Kononowitsch, die für Facebook-Posts vor Gericht stehen. Zum anderen wurden erst diese Woche in Odessa zwei junge Männer verhaftet. Ihr "Verbrechen": Sie hielten eine öffentliche Ansprache, in der sie meinten, Ukrainer seien auch Russen.  

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