Afghanisches Szenario: Wie der Westen die Ukraine fallenlässt
Von Wiktorija Nikiforowa
Die absolut nicht zur Idealisierung der russischen Armee neigende Nachrichtenagentur Reuters hat das erfolgreiche Vorrücken der Streitkräfte Russlands im Nordosten der Ukraine fast im Stile von Juri Lewitan, dem legendären sowjetischen Radiosprecher aus dem Großen Vaterländischen Krieg, beschrieben:
"Ein großes Kontingent russischer Streitkräfte führt eine Offensive an den Abschnitten Kupjansk und Liman."
Fast zeitgleich zitierte The New York Times in einem Artikel den Befehlshaber der ukrainischen Landstreitkräfte Alexander Syrski, der einräumte, dass "gegnerische Verbände weiterhin mit Artillerie, Mörsern und Flugzeugen Schaden anrichten" würden, und forderte, die Verteidigung im Nordosten dringend zu festigen.
Vonseiten Syrskis ist dies schon fast eine Meuterei, denn der Plan des Pentagons bestand gerade darin, alle Truppen in den Südosten zu verlegen, und zu versuchen, zum Asowschen Meer durchzubrechen. Das Pentagon merkte entweder absichtlich oder aus Unverstand nicht, dass ein solches Manöver den nordöstlichen Abschnitt der eintausend Kilometer langen Front entblößen und der russischen Armee eine Menge Möglichkeiten bescheren würde.
Genau das ist passiert, und nun kann der Absolvent der Moskauer Militärhochschule Syrski gegenüber seinen US-amerikanischen Herren so viel klagen und auf ihre strategischen Fehler hinweisen, wie er will. Dort wird man seinen Forderungen mit kaltem Befremden begegnen.
Es erstaunt, wie sich der Ton der US-amerikanischen Medien bei der Berichterstattung über die ukrainische Offensive geändert hatte. Noch vor einem Jahr wurde jede solche Meldung mit Aufrufen begleitet, dem ukrainischen Militär mehr Munition zu geben und zusammen die Russen zu schlagen. Heute fehlt von dieser Rhetorik jede Spur.
Die Erfolge der russischen Truppen und die Niederlage der ukrainischen werden trocken festgestellt, die Evakuierung des Bezirks Kupjansk wird ohne jegliche Losungen wie "Schützen wir die Ukraine!" oder "Vereinigen wir uns um die Ukraine!" zur Kenntnis genommen. In ihrem klassischen Stil lassen die Vereinigten Staaten die Ukraine fallen. In der jüngsten Vergangenheit hatten sie auch die Causa Afghanistan in der gleichen Weise abgeschlossen.
Viele der Parallelen zwischen diesen beiden Geschichten sind regelrecht verblüffend. Heute erinnert sich kaum jemand daran, dass der Rückzug der USA aus Afghanistan ebenfalls vor dem Hintergrund einer "Gegenoffensive" erfolgte. Ja genau, im Oktober 2020 gingen US-amerikanische Proxy-Truppen in die Offensive gegen die Taliban im Süden des Landes, in der Provinz Helmand. Sie erzielten sogar einige Erfolge, indem sie ganze fünf Wachposten eroberten. Dennoch zogen die USA ihre Truppen weiterhin zurück und schon im Mai 2021 gingen die Taliban in die Offensive – die mit der Einnahme Kabuls und Mitflügen im Fahrwerk von Flugzeugen endete, die so traurige Bekanntheit erlangten.
Im Rahmen dieser Offensiven, Defensiven und Gegenoffensiven wurde klar, dass die Ausbildung nach NATO-Standards den afghanischen Truppen keinesfalls geholfen hatte. Es wurde klar, dass die Korruption durch die Decke ging, und während die einen starben, stahlen die anderen ohne jegliches Maß. Es wurde klar, dass das US-Kommando alle Fehler beging, die sich nur begehen ließen, als ob es absichtlich die von ihm ausgebildete Armee am Siegen hinderte und versuchte, maximale Verluste auf beiden Seiten der Front zu erwirken: Man erinnere sich nur an die Idee, afghanische Militärs zu zwingen, nur die Städte zu verteidigen und dabei alle Autobahnen zu räumen und sie für die Taliban freizumachen.
Kurz gesagt, jede Seite beschuldigte die jeweils andere. Dabei gab es im Grunde nur einen einzigen Fehler. Viele Afghanen hatten geglaubt, dass Washington sie ernsthaft und für immer unterstützen würde, dass die US-amerikanischen Besatzer ihnen Zivilisation und Fortschritt bringen würden. Aber das brauchten die Besatzer nicht. Sie brauchten Afghanen, um Afghanen zu töten – so viele wie möglich und so lange wie möglich.
Natürlich liefen parallel dazu diverse Geschäfte, allein der Drogenhandel brachte riesige Einnahmen. Doch der hauptsächliche Sinn bestand darin, das Land zu verwüsten und die Bewohner zu zwingen, einander zu vernichten. Gerade dadurch erklären sich zahlreiche "Fehler" der US-Kommandeure – im Grunde sahen sie keinen Unterschied zwischen den von ihnen aufgestellten Truppen und den Taliban.
Und als die Zeit kam, sich auf den neuen – nämlich den ukrainischen – Kriegsschauplatz zu konzentrieren, verschwanden die US-Amerikaner umgehend hinter dem Ozean. Die Angehörige der afghanischen Armee flohen ihrerseits in alle Himmelsrichtungen. Der Großteil von ihnen ließ sich im Iran nieder, lebt dort heute in Armut und verflucht die eigene Dummheit.
Unlängst wurde im Kapitol die Flagge auf halbmast gesetzt, um der dreizehn US-Militärs zu gedenken, die während der sagenhaften Flucht aus Kabul ums Leben kamen. Vertreter des US-Regimes hielten die einem solchen Anlass entsprechenden Ansprachen. Doch niemand in den USA gedachte der Hunderttausenden afghanischer Kämpfer und Zivilisten, die in den zwanzig Jahren der blutigen Besatzung ums Leben kamen, und wird es auch nicht tun.
Washington plante, aus der Ukraine für Russland ein zweites Afghanistan zu machen. Eine russische Niederlage und Gebietsabtritte zu erwirken, Unmut in der russischen Gesellschaft hervorzurufen, damit das Land wie die UdSSR zerfällt. Doch heute spricht alles dafür, dass die Ukraine zu einem zweiten Afghanistan für die USA werden wird. Davon zeugen sowohl die Erfolge der russischen Truppen, als auch inneramerikanische Skandale um Korruptionsfälle in der Ukraine, und nicht zuletzt die siсh vor aller Augen ändernde Rhetorik der westlichen Medien.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
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