Von Andrew Korybko
Niemand sollte überrascht sein, dass die Türkei gegen die Asowstal-Vereinbarung verstoßen hat, zumal die meisten Beobachter davon ausgegangen waren, dass diese faschistischen bewaffneten Banden wahrscheinlich doch vor dem Ende des Kriegs in der Ukraine freigelassen werden, nachdem sie aus russischer Kriegsgefangenschaft in die Türkei abgeschoben wurden. Dennoch muss diese Entwicklung für den russischen Präsidenten zutiefst enttäuschend gewesen sein, der zuvor oft die persönliche Integrität seines türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan in höchsten Tönen gelobt hatte. Zum Beispiel das, was er im Dezember 2020 sagte:
"Wir haben mit Präsident Erdoğan in bestimmten Angelegenheiten unterschiedliche, teilweise auch gegensätzliche Ansichten. Aber er hält sein Wort wie ein aufrechter Staatsmann. Er wedelt nicht mit dem Schwanz. Wenn er denkt, dass etwas gut für sein Land ist, dann handelt er entsprechend. Hier geht es um Vorhersehbarkeit. Es ist wichtig zu wissen, mit wem man es zu tun hat."
Fast zwei Jahre später, im Oktober 2022, sah es Präsident Putin immer noch genauso:
"Präsident Erdoğan ist ein beständiger und verlässlicher Partner. Das ist wohl seine wichtigste Eigenschaft, dass er ein verlässlicher Partner ist. Wir wissen: Nachdem wir einen schwierigen Weg zurückgelegt haben und es schwierig war, zu einer Einigung zu kommen, wir aber ebendiese Einigung trotzdem erreicht haben, dann können wir sicher sein, dass diese Einigung auch so in Kraft treten wird."
Kurz darauf, Anfang Dezember 2022, gab die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu, dass ihre öffentlich verlautbarte politische Unterstützung für das Minsker Abkommen nur eine Finte war, um Zeit für die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte zu gewinnen – für die geplante Rückeroberung des Donbass. Der russische Präsident Putin vertraute bis dahin ebenso sehr darauf, dass Merkel aufrichtig zu ihren Erklärungen stehen würde, wie er es im Fall von Präsident Erdoğan getan hatte. Deshalb zeigte er sich auch von Merkels Eingeständnis zutiefst enttäuscht, wie Putin es während einer Pressekonferenz im Dezember 2022 zu erkennen gab:
"Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, so etwas von der ehemaligen Bundeskanzlerin zu hören, weil ich immer davon ausging, dass die Staatsoberhäupter der Bundesrepublik Deutschland uns gegenüber stets aufrichtig waren. ... Augenscheinlich haben wir uns – offen gesagt – zu spät zurechtgefunden."
Russlands Strategie bestand bis zum Beginn seiner militärischen Sonderoperation darin, mit den USA eine Einigung über die Ukraine zu erzielen, die Moskaus Sicherheitsbedürfnisse auf friedliche Weise erfüllt und gleichzeitig ermöglicht hätte, dass Russland weiter als wirtschaftliche Brücke zwischen der EU und China agieren kann. Dies war, im Nachhinein betrachtet, von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil Putin – der weder ein Monster noch ein Verrückter und auch nicht der Strippenzieher ist, als den er im Westen stets karikiert wird – seine eigene, rationale Weltsicht auf den Westen projizierte.
Wladimir Putin erkannte erst, als es bereits zu spät war, dass seine westlichen Ansprechpartner allesamt unverbesserliche neoliberale Globalisten sind, die sogar bereit sind, die jeweiligen objektiv eigenen nationalen Interessen zu opfern, um ihre radikale Ideologie voranzutreiben. Dies erklärt, warum sie ihn so lange täuschen konnten. Obwohl russische Präsident sich erst spät mit dieser Realität auseinandersetzen musste, blieb er noch immer davon überzeugt, dass sein türkischer Amtskollege anders aufgestellt sei, sowohl, weil dieser kein "westliches" Staatsoberhaupt ist, als auch, weil Erdoğan selbst auch mehrere Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen hat.
Um ehrlich zu sein, unterscheidet sich Präsident Erdoğan in der Tat von einem Joe Biden, einer Angela Merkel oder einem Emmanuel Macron, da er nicht wie diese ein neoliberaler Globalist ist. Umso enttäuschender ist es daher, dass er im Fall der Asowstal-Vereinbarung sein Wort doch nicht gehalten hat. Auch wenn die Freilassung dieser faschistischen "Asow"-Schergen von den türkischen Medien als eine Art "Geste des guten Willens" dargestellt wurde, weil kurz zuvor Selenskij in Istanbul zu Besuch war, kann davon ausgegangen werden, dass diese Freilassung in Wahrheit Teil einer übergeordneten Strategie in Ankara war, die darauf ausgerichtet ist, eine Annäherung an den Westen zu ermöglichen.
Wenige Tage nach der Freilassung der Kämpfer von Asowstal gab Präsident Erdoğan in einer Presseerklärung bekannt, Schwedens Antrag zum Beitritt in die NATO zu unterstützen, im Gegenzug dafür, dass Stockholm "die Bemühungen zur Neubelebung des EU-Beitrittsprozesses der Türkei, einschließlich der Revitalisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei und die Liberalisierung in Fragen der Einreisevisa, aktiv unterstützt". Der Nationale Sicherheitsberater der USA Jake Sullivan gab daraufhin seinerseits bekannt, dass der US-Präsident Biden dem Verkauf von Kampfflugzeugen vom Typ F-16 an die Türkei ohne "Vorbehalte oder Bedingungen" zustimme. Beide Kehrtwendungen tragen dazu bei, die bisher problematischen türkisch-westlichen Beziehungen zu verbessern.
Erdoğan handelte somit im Einklang mit dem, was Putin durchaus von ihm erwartet hatte, nämlich das zu tun, was nach Meinung von Erdoğan gut für sein eigenes Land ist – selbst auf Kosten eines Verstoßes gegen das Asowstal-Abkommen mit Russland. Zusammen mit der Freilassung dieser faschistischen Bande ergriff Erdoğan konkrete Maßnahmen und unterstützt nun doch Schwedens Antrag zum NATO-Beitritt – im Gegenzug für vage Versprechungen, dass Fortschritte bei der Verbesserung der sozioökonomischen und militärischen Beziehungen der Türkei zur EU und zu den USA erzielt werden.
Das soll nicht bedeuten, dass weder die EU noch die USA ihr Wort halten werden. Es liegt in deren beider Interesse, tunlichst nicht wortbrüchig zu werden – einfach deshalb, um Erdoğan nicht zu verärgern, weil der in einem solchen Fall vor seinem Volk wie ein Idiot dastehen würde, der ausgenutzt wurde. Damit würde auch die Wahrscheinlichkeit steigen, dass sich die Türkei endgültig in Richtung Osten verabschiedet. Es geht vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass die diplomatischen Gesten bisher einseitig waren, weil Ankara im Austausch für recht vage Versprechen aus den USA und der EU bereits konkrete Maßnahmen ergriffen hat. Ein solcher Schritt wurde von jemandem, der ansonsten so rational wie Präsident Erdoğan denkt, bisher nicht erwartet.
Diese Beobachtung bestätigt auch die vom Kremlsprecher Dmitri Peskow geäußerte Vermutung, dass die Türkei im Vorfeld des NATO-Gipfels dazu "gezwungen" worden sein könnte, gegen die Asowstal-Vereinbarung zu verstoßen. Er fügte aber auch hinzu, dass "ein Verstoß gegen eine Vereinbarung niemandem schmeichelt". Dies werde sich aber nicht auf die Gas-Vorhaben beider Länder oder in anderen Bereichen der "für beide Seiten vorteilhaften Handels- und Wirtschaftskooperation" auswirken. Moskau werde jedoch "sicherlich die aktuelle Situation berücksichtigen, wenn es künftige Abkommen mit Ankara in anderen Bereichen abschließt".
Das aufrichtige Wohlwollen, das die Türkei zuvor bei den politischen Entscheidungsträgern in Russland genossen hat, schwindet, wie auch die Warnung von Wiktor Bondarew als Vorsitzender des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses des russischen Föderationsrates deutlich macht. Er sagte, dass die Türkei nun Gefahr läuft, nach diesem Skandal als "unfreundlich" eingestuft zu werden, und zudem weiter:
"Natürlich haben die nationale Sicherheit und das nationale Interesse Vorrang. Aber selbst unter starkem westlichen Druck sollte man sein Gesicht wahren können, so wie es der ungarische Staatschef Viktor Orbán wiederholt getan hat."
Auch diese Reaktion war völlig vorhersehbar, sodass der türkische Präsident auf keinen Fall überrascht gewesen sein muss. Das kann nur bedeuten, dass er gegen das Asowstal-Abkommen verstoßen hat, obwohl er wusste, welche Konsequenzen dies für sein persönliches Verhältnis zum Präsidenten Putin und für die Art und Weise der Wahrnehmung der Türkei in Russland haben wird. Vor diesem Hintergrund könnte es durchaus sein, dass Erdoğan von der NATO bereits vor ihrem Gipfeltreffen zu einer Entscheidung in einem Nullsummenspiel "gezwungen" wurde, um sich erkennbar zwischen Russland und dem Westen zu entscheiden.
Man kann nur spekulieren, welche Folgen es gehabt haben könnte, wenn sich Erdoğan geweigert hätte, diese Gesten in Richtung Westen zu senden. Aber sie waren offenbar schwerwiegend genug, dass Erdoğan zu dem Schluss kam, es wäre den nationalen Interessen seines Landes besser gedient, wenn man sich jetzt den Erwartungen des Westens unterordnet, als sich diesen zu widersetzen. Das soll keine Entschuldigung für das sein, was Erdoğan getan hat, sondern eine Erklärung als ein gut gemeinter Versuch, sein Verhalten auf eine Art und Weise zu verstehen, die völlig im Gegensatz zu dem steht, was der russische Präsident von ihm erwartet hatte.
Erdoğan hat treffend kalkuliert, dass Putin zu rational handelt, um als Reaktion auf seine Entscheidung die "für beide Seiten vorteilhafte Handels- und Wirtschaftskooperation" auszusetzen, obwohl er gleichzeitig auch wusste, dass ein Verstoß gegen dieses Asowstal-Abkommen ihre künftige Zusammenarbeit wahrscheinlich genauso tangieren wird, wie es Peskow nun schon angedeutet hat. Dennoch ging Erdoğan davon aus, dass es diese Konsequenz wert sei, um die Beziehungen zum Westen zu verbessern und den damit verbundenen Druck auf die Türkei zu verringern, obwohl die erhofften Leistungen bisher nur einseitig erbracht wurden.
Erdoğan hätte dieses sprichwörtliche "Zuckerbrot" wahrscheinlich nicht akzeptiert, wenn ihm nicht gedroht worden wäre, sein Land einige "Peitschen" spüren zu lassen. Und so hat er seinen hart erkämpften Ruf als ein "Mann, der sein Wort hält", öffentlich diskreditiert. Um somit noch einmal auf die Einschätzung des russischen Präsidenten über seinen türkischen Amtskollegen zurückzukommen: Man kann sagen, dass Putin teilweise richtig, aber teilweise auch falsch lag. Der russische Staatschef hatte nicht damit gerechnet, dass sein stolzer türkischer Amtskollege sich selbst derart diskreditieren würde. Das Gleiche gilt übrigens auch für alle jene Anhänger von Erdoğan, die bisher ebenfalls davon ausgingen, dass er mehr Selbstachtung hätte.
Übersetzt aus dem Englischen.
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.
Mehr zum Thema - Niemand sollte überrascht sein, dass die Türkei gegen die Asowstal-Vereinbarung verstoßen hat