Erdoğan hat den NATO-Gipfel gerettet – und die Ukraine vorgeführt

Es zeichnet sich ab, dass die Ukraine der große Verlierer des NATO-Gipfels in Vilnius werden wird. Die NATO selbst wurde in Vilnius ausgerechnet durch den türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor einem Debakel bewahrt. Er setzte nach seinem monatelangen Pokern um den Beitritt Schwedens zum Militärbündnis und nunmehr mit seinem Einlenken in letzter Minute das alles andere überschattende Thema.

Von Irina Alksnis, RIA Nowosti

Das Ränke- und Ratespiel um den NATO-Gipfel in Vilnius hat sich endlich erledigt.

Tatsache ist, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa im Vorfeld des Gipfeltreffens in einer eher unangenehmen Lage befanden. Dank der monatelangen Bemühungen westlicher Politiker und Medien wurden enorme Erwartungen an dieses Ereignis geknüpft. Die waren in erster Linie mit dem erhofften Erfolg der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte verbunden, der dem Westen so unvermeidlich schien wie ein Sonnenaufgang. Dies wiederum sollte dem eingeschlafenen transatlantischen Bündnis neuen Schwung durch die Verabschiedung strategisch bedeutsamer Beschlüsse für weitere gemeinsame Aktionen verleihen.

Die Hoffnungen der Ukraine selbst konzentrierten sich natürlich ganz auf die Einleitung eines Beitrittsverfahrens zur NATO, was nicht ganz abwegig schien, da diese Idee in den herrschenden Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks ihre Befürworter hatte und weiterhin hat.

Aber irgendetwas ist schief gelaufen. Kiew hat in den letzten Wochen nicht nur keine beeindruckenden militärischen Erfolge vorweisen können. Die Entwicklungen an der Front haben einen Teil des westlichen Establishments dazu gezwungen, die Realität anzuerkennen, dass die Wette auf einen militärischen Sieg über Russland zumindest falsch war und im schlimmsten Fall fatal enden wird. Das bedeutet, dass alle Bemühungen in dieser Richtung eine nutzlose und sinnlose Verschwendung von Geld, Ressourcen und knapper militärischer Ausrüstung sind, von dem angeschlagenen Ruf der Hersteller eben dieser Ausrüstung ganz abgesehen.

So wurden in den letzten Tagen vor dem Gipfel die Uneinigkeit und das Schwanken in den ohnehin schon recht instabilen transatlantischen Reihen offensichtlich. Die Welt jenseits des Westens Welt verharrte in Erwartung des Gipfels von Vilnius, der sich als grandioser Flop zu entpuppen drohte.

Der Westen stand vor der Aufgabe, die Situation und das Gesicht der NATO zu retten – und hier kam Recep Tayyip Erdoğan ins Spiel. Ihm ist es zu verdanken, dass das wichtigste Ergebnis der Veranstaltung in Vilnius darin besteht, den Beitritt Schwedens zum Bündnis voranzubringen, während die ukrainische Frage, die eigentlich gescheitert ist, dadurch in den Hintergrund gerückt ist.

Die Ukraine wird natürlich ihren gebührenden Anteil an Aufmerksamkeit und Zusagen erhalten, aber nicht annähernd jene erhofften Zusagen, die dort zuvor erwartet wurden. Der prophylaktischen Hysterie von Wladimir Selenskij kurz vorher nach zu urteilen, der die litauische Hauptstadt noch nicht erreicht hatte, wird man in Kiew die traurigen Aussichten inzwischen erkannt haben.

Es stellt sich die Frage: Wieso macht Erdoğan das?

Es gibt Vermutungen, dass es der Führung in Washington, D.C. gelungen ist, den Widerstand der türkischen Führung zu brechen und Ankara vollständig seinem Willen zu unterwerfen, wie es zuvor etwa auch mit Berlin und anderen europäischen Hauptstädten geschehen ist. Das ist aber eine Fehleinschätzung.

Erdoğan betreibt vielmehr eine souveräne Politik und balanciert seit vielen Jahren geschickt zwischen den Großmächten. Indem er seine Einwände gegen die NATO-Mitgliedschaft Schwedens selbst aus dem Weg räumte, hat er dem Bündnis und insbesondere den USA einen großen Gefallen getan – und das zu geringen oder gar keinen Kosten für sich selbst. Einige Probleme innerhalb des Landes sind zwar nicht ausgeschlossen, wo die Gegner des türkischen Präsidenten ihn bereits beschuldigen, nun doch einem Land zu helfen, in dem der Koran verbrannt wird und "Terroristen" (gemeint sind die Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans) durch die Straßen ziehen. Diese Kritik ist jedoch keine reale Gefahr für Erdoğan.

Dafür sind die außenpolitischen Vorteile für die Türkei zahlreich. Erdoğan hat einige der aufgestauten Spannungen mit dem Westen nun abgebaut (und davon gab und gibt es viele) und dabei zugleich sehr wahrscheinlich neue Boni für die Türkei ausgehandelt. Offenbar haben die USA Zugeständnisse bei der Lieferung und Modernisierung der türkischen Flotte von F-16-Kampfflugzeugen gemacht. Und das neuerlich von ihm aufgeworfene Thema eines türkischen EU-Beitritts deutet darauf hin, dass er in Ankara sein Bestes tun wird, um das alte Europa für vergangene Demütigungen zu bestrafen.

Die Beziehungen zu Moskau werden durch den Schritt der Türkei mit Sicherheit nicht beeinträchtigt. Zur Überraschung vieler hat Russland auf die Pläne der Skandinavier, dem Bündnis beizutreten, sofort gelassen reagiert, und nach dem Beitritt Finnlands dürfte auch der Schritt Schwedens, in dieselben Fußstapfen zu treten, keine scharfe Reaktion hervorrufen. Die ersten offiziellen Stellungnahmen aus dem Kreml und dem Außenministerium bestätigen dies sogar.

Und schließlich, um nicht zu voreilig zu sein: Die Zustimmung Erdoğans zum NATO-Beitritt Schwedens ist keine Garantie dafür, dass dieser Prozess erfolgreich abgeschlossen werden kann. Türkischen Medien zufolge wird das türkische Parlament die Entscheidung bis Ende nächster Woche ratifizieren können. Es ist davon auszugehen, dass im Falle einer Nichtumsetzung der bei den Verhandlungen getroffenen Vereinbarungen im Handumdrehen Umstände und Einwände zutage treten werden, die diese parlamentarische Zustimmung kategorisch unmöglich machen.

Das Haupt-"Opfer" all dieser Intrigen ist die Führung in Kiew. Da kann man nichts machen. Die Ukraine hat zahlreiche und vielfältige Beispiele dafür gesehen, wie Souveränität und nationale Interessen verteidigt werden können und sollten (die Türkei ist nur eines davon). Sie hat sich jedoch entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen, der sie zu den aktuellen Zuständen geführt hat. Und es wird weiter bergab gehen.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen auf ria.ru am 11. Juli 2023.

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