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Man beachte, was NATO-Chef Stoltenberg in seiner jüngsten Ansprache nicht erwähnt hat

Es gibt es keine Garantie dafür, dass die USA die Waffenlieferungen an die Ukraine unterbrechen werden. Die nachfolgende Analyse weist jedoch darauf hin, dass Stoltenberg in seiner jüngsten Ansprache auffällig versäumt hat, Waffenlieferungen zu erwähnen, worüber man unbedingt nachdenken muss.
Man beachte, was NATO-Chef Stoltenberg in seiner jüngsten Ansprache nicht erwähnt hatQuelle: AFP © John Thys

Von Andrew Korybko

Alle Augen sind derzeit auf die NATO gerichtet, die kommende Woche in Vilnius zu einem Gipfeltreffen zusammenkommt, und Beobachter fragen sich, ob es dabei zu bahnbrechenden Entwicklungen in den Beziehungen des Bündnisses mit der Ukraine kommen wird. Generalsekretär Jens Stoltenberg gab am Freitag einen Ausblick auf die Veranstaltung und teilte mit, was seiner Meinung nach zwischen den Mitgliedern der Allianz zur Sprache kommen wird. Dabei handelt es sich jedoch nicht wirklich um etwas Überraschendes, wie man seinen Worten entnehmen kann, die auf der offiziellen Webseite der NATO transkribiert wurden:

"Ich gehe davon aus, dass sich die Staats- und Regierungschefs der Allianz auf ein Paket mit drei Elementen einigen werden, um die Ukraine näher an die NATO heranzuführen. Zunächst vereinbaren wir ein mehrjähriges Hilfsprogramm zur Gewährleistung der vollständigen Interoperabilität zwischen den ukrainischen Streitkräften und der NATO. Zweitens werden wir unsere politischen Beziehungen vertiefen, durch die Gründung des NATO-Ukraine-Rates. Und drittens gehe ich davon aus, dass die Staatschefs der Allianz bekräftigen werden, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden wird und [dass sie] gemeinsam daran arbeiten werden, die Ukraine diesem Ziel näherzubringen."

Der mehrjährige Hilfsplan ist de facto schon seit einiger Zeit in Kraft, daher ist dieser Teil seiner jüngsten Ansprache nur eine Bestätigung dafür, dass er auf unbestimmte Zeit in Kraft bleiben wird. Was den NATO-Ukraine-Rat anbelangt, so stellt dies lediglich die Institutionalisierung der Beziehung zur Ukraine seit Beginn der russischen Sonderoperation dar und ist somit ebenfalls nichts Neues. Und schließlich ist der letzte Teil des Pakets, den Stoltenberg vorhersagt, lediglich eine politische – wenn auch provokative – Erklärung.

Unter diesen Umständen wird dieses voraussichtliche Ergebnis die ukrainische Führung in Kiew wahrscheinlich enttäuschen, die unrealistisch große Hoffnungen auf bahnbrechende Entwicklungen in den Beziehungen zur NATO gesetzt hatte. Man hätte dies jedoch vorhersehen können, da es innerhalb der Allianz nie eine glaubwürdige Chance gab, einen Konsens über die formelle Mitgliedschaft dieser ehemaligen Sowjetrepublik zu erzielen. Man könnte sich in Kiew hingegen große Sorgen machen, wenn man noch einmal nachlesen würde, was Stoltenberg gesagt hat, und bemerken, dass er auffällig etwas nicht gesagt hat.

Das Festhalten an der "vollständigen Interoperabilität" zwischen der NATO und der Ukraine, die Institutionalisierung ihrer neu gewonnenen Beziehungen und die Wiederholung einer politischen Erklärung über eine künftige Mitgliedschaft garantieren nicht, dass das Tempo, das Ausmaß und der Umfang der Waffenlieferungen für Kiew beibehalten wird. Das Scheitern der von der NATO unterstützten Gegenoffensive der Ukraine führte offenbar dazu, dass es der Allianz sauer aufzustoßen beginnt, dass sie ihren ukrainischen Stellvertreter im Krieg gegen Russland dauerhaft unterstützen muss, auf Kosten der eigenen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsbedürfnisse.

Hätte die Ukraine im Vorfeld des Gipfels beeindruckende Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen können, dann hätte Stoltenberg unmissverständlich versprochen, dass das Tempo, das Ausmaß und der Umfang der Waffenlieferungen für Kiew bis zum "endgültigen Sieg" fortgesetzt werden, um den Schwung aufrechtzuerhalten. Stattdessen muss sich die Führung der Ukraine nun mit oberflächlichen politischen Zusagen trösten und dies dem eigenen Volk irgendwie so vermitteln, dass es den Anschein trägt, dass sich die Opfer der vergangenen 17 Monate gelohnt hätten.

Selenskij und seine Clique könnten auch das Gefühl bekommen, dass die NATO indirekt ihre Bereitschaft signalisiert, sich stärker auf den asiatisch-pazifischen Raum zu konzentrieren, was möglicherweise auf Kosten der Interessen der Ukraine geht, nachdem Stoltenberg in derselben Ansprache angekündigt hatte, dass "die Staatschefs von Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea zu uns stoßen werden". Diese Mitglieder der Gruppierung AUKUS+ und zugleich De-facto-Mitglieder der NATO sind bereit, im asiatisch-pazifischen Raum an der Eindämmung Chinas teilzunehmen, was nach dem Ende des Stellvertreterkriegs mit Russland Priorität haben soll.

Zum letztgenannten Szenario: Präsident Putin, Außenminister Lawrow und der ehemalige stellvertretende Präsident des Sicherheitsrates, Medwedew, sagten kürzlich, dass der Krieg in der Ukraine sofort enden könnte, wenn die NATO die Waffenlieferungen an Kiew beendet. Auch wenn es verfrüht ist, vorherzusagen, ob dies trotz des Scheiterns der Gegenoffensive in absehbarer Zeit geschehen wird, ist es erwähnenswert, dass der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko vergangenen Donnerstag vorhergesagt hat, dass Friedensgespräche zwischen Moskau und Kiew im Herbst wieder aufgenommen werden könnten.

Lukaschenko sagt manchmal Dinge, die im Widerspruch zur russischen Politik stehen und die daher gelegentlich vom Sprecher des Kreml, Dmitri Peskow, öffentlich dementiert werden müssen, etwa als Lukaschenko behauptete, dass der Vertragsentwurf vom Frühjahr 2022 auch Einzelheiten über ein "Leasing" der Krim von Kiew durch Moskau enthielt. Aber in den meisten Fällen ist er ziemlich zuverlässig. Der "Wettlauf der Logistik" und der "Zermürbungskrieg", den Stoltenberg Mitte Februar einräumte, scheint einen Tribut von der NATO zu fordern, wie er in seiner jüngsten Ansprache andeutete, indem er die Fortsetzung der Waffenlieferungen für Kiew einfach nicht erwähnte.

Dies könnte auch erklären, weshalb Präsident Putin, Lawrow und Medwedew über ein mögliches Einfrieren des Konflikts nach der Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen sprachen, die stattfinden könnten, sobald die NATO die Waffenlieferungen unterbricht. Somit könnte man Stoltenbergs auffälliges Versäumnis in den Kontext von Lukaschenkos Vorhersage stellen. Die Ankündigung des NATO-Chefs, dass die asiatisch-pazifischen Mitglieder der AUKUS+ am Gipfeltreffen in der kommenden Woche teilnehmen werden, könnte ebenfalls ein Signal dafür sein, dass man sich darauf vorbereitet, den Stellvertreterkrieg gegen Russland zu beenden, um der Eindämmung Chinas den Vorrang zu geben.

Um es deutlich zu sagen und damit diese Analyse nicht falsch interpretiert wird: Es gibt keine Garantie dafür, dass die USA die Waffenlieferungen an die Ukraine beenden, die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden und der Konflikt erfolgreich eingefroren wird. Die vorliegende Analyse weist lediglich darauf hin, dass Stoltenbergs jüngste Ansprache nichts Neues in Bezug auf die Beziehungen zu Kiew beinhaltete, dass er es auffällig versäumte, Waffenlieferungen zu erwähnen, und dass seltsamerweise Verbündete aus dem asiatisch-pazifischen Raum zum Gipfeltreffen eingeladen worden sind – worüber man unbedingt nachdenken muss.

Es kann immer noch alles passieren, um den oben beschriebenen Verlauf der Ereignisse zur Makulatur zu machen, wie zum Beispiel, dass Kiew eine Provokation unter falscher Flagge beim Kernkraftwerk Saporoschje durchführt. Aber bisher scheint sich aus den dargelegten Gründen tatsächlich alles in die oben beschriebene Richtung zu entwickeln. Ohne das erwähnte Szenario beim Kernkraftwerk oder ähnliches und unter der Annahme, dass die von der NATO unterstützte Gegenoffensive weiterhin scheitert, besteht daher eine reale Möglichkeit, dass Lukaschenkos Vorhersage eintreffen wird.

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Aus dem Englischen

Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.

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