Von Alexander Karpow und Aljona Medwedewa
Kiews unmissverständliche Andeutungen über seine Bereitschaft, Massenvernichtungswaffen gegen Russland einzusetzen, sowie Androhungen der Wiederaufnahme eines Atomprogramms stellten einen der Gründe für die Sonderoperation in der Ukraine dar. Hieran erinnerte der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew. Dabei sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass Wladimir Selenskij im Februar 2022, kurz vor Beginn der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine, auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärte, Kiew sei bereit, seinen Verzicht auf den Besitz von Atomwaffen zu "überdenken". Experten weisen zu Recht darauf hin, dass Russland solche Drohungen nicht einfach hätte ignorieren können. Dabei bestehen in der Ukraine nach Einschätzung von Analysten nach wie vor die Möglichkeiten zum Bau einer "schmutzigen Bombe".
Die ukrainischen Eliten würden über die gemäß des Budapester Memorandums von 1994 aufgenommene Verpflichtung, das im Land befindliche und von der UdSSR geerbte Atomwaffenarsenal abzuziehen, "bitterlich weinen". In einem Beitrag auf seiner Präsenz im russischen sozialen Netzwerk VKontakte betonte Medwedew, dass die ukrainische Führung hiervon stets als von einem erzwungenen Schritt gesprochen habe – "obwohl Kiew keine Mittel hatte, um die ihm zufällig vor die Füße gefallene 'Macht' zu unterhalten".
"Und auch davon, dass sie es mit teuflischem Vergnügen gegen uns und ihre eigenen Bürger einsetzen würden. Das wurde denn auch unmissverständlich angedeutet, als sie mit der Wiederaufnahme ihres Atomprogramms drohten. Und das war einer der Gründe für die Durchführung der militärischen Sonderoperation."
Dabei sei die Entscheidung, das Atomwaffenarsenal aus dem ukrainischen Hoheitsgebiet abzuziehen, einst unter starkem Druck aus Washington gefällt worden, so der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates.
Vor diesem Hintergrund wies Medwedew auf Südafrika als Gegenbeispiel zu diesem Vorgehen hin: Es sei "das erste und de facto einzige Land", das Atomwaffen, Kapazitäten zu ihrer Herstellung sowie Kontrollsysteme und Trägermittel besessen, jedoch "die wichtige politische Entscheidung" getroffen habe, dies alles freiwillig aufzugeben:
"Die demokratische Regierung nahm eine verantwortungsbewusste und souveräne Haltung gegenüber ihrem Volk, den Nachbarländern und der gesamten Weltgemeinschaft ein. Auch heute bereuen sie die vor 30 Jahren getroffene Entscheidung nicht, sie sind stolz darauf und weisen mit ihrem Beispiel anderen den Weg."
Nuklearfreier Status …
Die Ukraine hatte nach dem Zusammenbruch der UdSSR das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt geerbt, das Raketensilos und mobile Abschussrampen samt zugehörigen Nuklearwaffen, taktische Nuklearwaffen, strategische Bomber und Hunderte von Sprengköpfen verschiedener Typen umfasste.
Grundlage für die nukleare Abrüstung des Landes waren sowohl internationale Vereinbarungen als auch nationale Rechtsvorschriften. Am 16. Juli 1990 verabschiedete Kiew eine Erklärung über die staatliche Souveränität der Ukraine, in der es den atomwaffenfreien Status, d. h. den Verzicht der Ukraine auf Erwerb, Herstellung und Verbreitung von Nuklearwaffen manifestiert.
Am 5. Dezember 1994 schließlich unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs Russlands, der USA, Großbritanniens und der Ukraine in Budapest ein Memorandum, in dem sich Kiew verpflichtete, alle von der Sowjetunion geerbten Atomwaffenarsenale an Russland als deren Nachfolgerstaat zu übertragen – im Austausch für Sicherheitsgarantien der anderen Unterzeichnerstaaten.
… und seine Revision
In den letzten Jahren jedoch hatten ukrainische Beamte und Politiker verschiedener Ebenen regelmäßig erklärt, dass die Aufgabe der Atomwaffen durch die Ukraine ein Fehler gewesen sei. Im Jahr 2018 wurde diese These beispielsweise von Oleksandr Turtschynow, dem damaligen Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates des Landes, geäußert.
Im Jahr 2021 erklärte der damalige ukrainische Botschafter in Deutschland Andrei Melnyk gegenüber deutschen Medien, dass Kiew gut daran täte, die Wiedererlangung seines Status als Nuklearmacht in Erwägung zu ziehen – falls die NATO der Ukraine keine Mitgliedschaft in der Allianz gewähren sollte:
"Entweder sind wir Teil eines Bündnisses wie der NATO und tragen auch dazu bei, dass dieses Europa stärker wird, dass dieses Europa selbstbewusster wird, oder wir haben eine einzige Option, dann selbst aufzurüsten, vielleicht auch wieder über einen nuklearen Status nachzudenken. Wie sonst können wir unsere Verteidigung garantieren?"
Und schließlich drohte auch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 damit, den Verzicht des Landes auf Atomwaffen zu überdenken.
Gefährliche Provokationen
Nach der Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums, wonach die Ukraine eine Provokation mit einer sogenannten schmutzigen Bombe oder aber einem nuklearen Sprengkopf mit geringer Sprengkraft plant, hat Kiews möglicher Besitz von Atomwaffen erneut die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hiervor warnte Generalleutnant Igor Kirillow, der Leiter der Strahlen-, Chemie- und Biologieschutztruppen der russischen Streitkräfte, am 24. Oktober bei einem Sonderbriefing:
"Der Zweck dieser Provokation ist es, Russland des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz zu bezichtigen und so eine starke antirussische Kampagne in der Welt zu starten, die das Vertrauen in Moskau untergraben soll. […]
Darüber hinaus liegen uns Daten über Kontakte zwischen dem ukrainischen Präsidialamt und Vertretern Großbritanniens vor, bei denen es um die mögliche Beschaffung von Technologien zur Herstellung von Atomwaffen ging. Die Ukraine verfügt über die entsprechende Produktionsbasis und das wissenschaftliche Potenzial dafür."
Die vom Verteidigungsministerium veröffentlichten Daten legen nahe, dass die Ukraine tatsächlich an der Entwicklung eigener Nuklearwaffen arbeitet, wertet der Militärexperte Alexei Leonkow:
"Die Äußerungen der Ukraine über ihren Wunsch, eine Atommacht zu werden, waren nicht unbegründet. Kiew hatte bereits alle Möglichkeiten, eine 'schmutzige Bombe' oder eine taktische Atomwaffe herzustellen. Das einzige Problem war das Fehlen eines Mittels, um diesen Sprengkopf an das Ziel zu bringen."
Hierbei wüssten die westlichen Drahtzieher des Kiewer Regimes in den USA und Großbritannien über die Pläne der ukrainischen Seite bestens Bescheid, so Leonkow – und würden sie zumindest billigend hinnehmen:
"Die Weltgemeinschaft hätte sehr schmerzhaft auf den Einsatz von Atomwaffen im Gebiet der Spezialoperation in der Ukraine reagiert. Wenn so etwas passiert wäre, hätte sich die Reaktion in der ganzen Welt durch die Bemühungen des Westens gegen Russland gerichtet."
Nationale Sicherheit
Russland konnte die Drohungen Kiews nicht ignorieren, als von dort Absichtserklärungen erklangen, Atomwaffen zu erwerben. Wadim Kosjulin, Leiter des Zentrums für globale Studien und internationale Beziehungen am Institut für aktuelle internationale Probleme an der Diplomatischen Akademie des russischen Außenministeriums erinnert an die Gefahr, die für Russland von Atomwaffen in den Händen eines aktiv russophoben Regimes ausgeht, das die ethnische Zugehörigkeit als Anlass für Vertreibung deklarierte und wo Genozid längst salonfähig ist:
"In den letzten Jahren machten Politiker verschiedener Ebenen in Kiew Äußerungen, die in Russland als Absicht verstanden wurden, eine eigene Atombombe zu bauen. Abgesehen davon, dass dies ein Verstoß gegen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen wäre, würde es eine ernsthafte Bedrohung für Russland erschaffen. Dies ist einer der wichtigsten Gründe für die Sorge um unsere nationale Sicherheit."
Inzwischen spekulieren westliche Länder auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine, um neutrale Länder und ihre Verbündeten von Russland zu entfremden, so der Politikwissenschaftler:
"Ein nuklearer Zwischenfall in der Ukraine käme Washington gelegen, wo man sich bemüht, Verbündete von Russland zu entfremden und neutrale und schwankende Länder, die die Mehrheit in der Welt ausmachen, auf die eigene Seite zu ziehen. Außerdem würde dies erlauben, Russland des Einsatzes seiner Atomwaffen unter Verletzung seiner internationalen Verpflichtungen und Garantien im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags zu beschuldigen."
Das Potenzial für die Schaffung von Kernwaffen in der Ukraine war vor Russlands Sonderoperation recht hoch. Darüber hinaus wäre auch der Bau entsprechender Trägermittel nur eine Frage der Zeit, so der führende Experte des Zentrums für militärische und politische Studien am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Doktor der Politikwissenschaften Michail Alexandrow:
"Die Ukraine hatte sowohl wissenschaftliches Personal als auch Zugang zu Nuklearmaterial. Wenn Kiew beschlossen hätte, Atomwaffen zu bauen, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen. Probleme gäbe es nach wie vor in Bezug auf die Art der Lieferung – jedoch hätten im Laufe der Zeit ballistische Mittel- und Kurzstreckenraketen entwickelt werden können, die eine direkte Bedrohung für Russland dargestellt hätten."
Die russische Spezialoperation konnte ein solches Szenario verhindern und untergräbt weiterhin die für ein Atomprogramm erforderlichen Kapazitäten der Ukraine, wertet Alexandrow. Gebannt ist die Gefahr aber noch nicht:
"Je länger die Sonderoperation andauert, desto geringer sind die Chancen der ukrainischen Seite, vollwertige Atomwaffen zu bauen. Jetzt kann Kiew eine 'schmutzige Bombe' nur mit Material aus den von ihm kontrollierten Kernkraftwerken herstellen."
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