Auf die Frage nach einem Energieembargo der EU gegenüber Russland erklärte die ehemalige Chefdiplomatin, es gehe nicht nur um Erdgas als Brennstoff, sondern als Energieträger für die Stromerzeugung und als Rohstoff für die chemische Industrie sowie für viele andere Bereiche der Industrie. Das deutsche Bundeswirtschaftsministerium unter Robert Habeck spiele bereits verschiedene Szenarien durch, und die Raumtemperatur in den Wohungen sei nur ein Aspekt unter vielen.
Was die knappen Füllstände der Gasspeicher betrifft und wie darauf zu reagieren sei, meinte Kneissl, dass diese Frage seit April 2021 diskutiert werde. Schon in den letzten beiden Jahren seien die Gasspeicher nicht genügend aufgefüllt worden. Wer für die niedrigen Füllstande verantwortlich ist, entziehe sich ihrer Kenntnis, so Kneissl. Allerdings stelle ein knapper Füllstand ein "gewaltiges" Problem dar. Eine mögliche Abhilfe werde zudem durch den Föderalismus in Deutschland und ähnlich auch in Österreich behindert.
So sei dabei unklar, mit welchem Gas und zu welchem Preis man die Speicher wieder auffüllen könne. Im Wirtschaftsministerium in Berlin sei man offenbar der Auffassung, irgendwie bis zum Frühherbst durchkommen zu können – durch geschickte Ausnutzung der Reserven in den Speichern und Gasimport aus dem Ausland. Das Thema sei bekannt und "nicht erst seit gestern auf dem Tisch." Auf die Frage, inwiefern Enteignungen der russischen Energieunternehmen in Deutschland Abhilfe schaffen könnten, antwortete Kneissl skeptisch.
Berlin habe zum 1. April die ehemalige "Gazprom Germania" unter Treuhandverwaltung gestellt, nachdem "Gazprom" sein deutsches Tochterunternehmen zum 31. März aufgegeben hatte. Als Begründung werde von deutscher Seite angeführt, dass angeblich zuvor von russischer Seite nicht alle erforderlichen rechtlichen und administrativen Schritte eingehalten worden wären.
Was die vom russischen Ölkonzern "Rosneft" betriebenen Raffinerien in Deutschland angehe, beispielsweise die Raffinerie in Schwedt an der Oder, die einen großen Teil des Kerosins für den Berliner Flughafen und die Dieselversorgung in Norddeutschland sicherstellt, konnte Kneissl nicht sagen, ob auch in diesem Fall eine treuhänderische Verwaltung eingesetzt werde oder sogar eine Enteignung geplant sei.
Zur Begründung all dieser Schritte werde in der deutschen Debatte stets die Notwendigkeit unterstrichen, die Energieversorgung aufrechtzuerhalten. Sollte es zu Enteignungen als "ultima ratio" kommen, so spiele die russische Seite dafür bereits mögliche Reaktionen durch. Zu vermuten sei, dass man in Moskau auch in einem solchen Falle 'symmetrisch' vorgehen werde und deutsche Unternehmen in Russland enteignen könnte.
Grundsätzlich stelle das Mittel der Enteignung jedoch auf dem Feld der Energiepolitik nichts Neues dar, denn beispielsweise wurde im Rahmen der deutschen "Energiewende" früher bereits zu diesem Mittel gegriffen, etwa um Flächen für Energieerzeugungsanlagen freizumachen.
Bis vor wenigen Wochen sei vor allem über Klimapolitik und Dekarbonisierung gesprochen worden, nun sei "der eigentliche Kern jeder Energiepolitik" wieder das "Hauptthema" geworden. Denn in der aktuellen Debatte geht es wieder zuallererst um die Versorgung von Industrie und Haushalten – zu "leistbaren Preisen". Und die Versorgung solle darüber hinaus zuverlässig sein: "wenn möglich eine 24-Stunden-Versorgung".
Kneissl warnte vor der Illusion, russisches Erdgas sei ohne Umstände zu ersetzen, wenn erst einmal Terminals (etwa für LNG) gebaut sind und die nötige Infratstruktur geschaffen sei. Denn auch die chemische Zusammensetzung der verschiedenen Gassorten spiele eine erhebliche Rolle für den weiteren Einsatz. Die gesamte Verarbeitung in der chemischen Industrie müsse umgestellt werden, sollte es zur Nutzung von Fracking- oder Flüssiggas kommen.
Die frühere Außenministerin machte auf einen in der Debatte wenig beachteten Aspekt aufmerksam: Deutschland befände sich – gemeinsam mit Österreich und Ungarn – unter großem Druck der anderen EU-Staaten und der Weltpolitik, vordergründig wegen der Bilder vom Krieg in der Ukraine.
Hinzu komme allerdings, dass nun diejenigen EU-Länder, die vor wenigen Jahren unter der deutschen Austeritätspolitik und den strengen "Reformauflagen" der Regierung Merkel zur Rettung des Euro gelitten haben, jetzt wenig Verständnis für die plötzlichen wirtschaftlichen Nöte der Mitteleuropäer zeigen. Beispielsweise könne man aus Griechenland, Italien oder Spanien, die drakonische Sparauflagen der EU und damit gewaltige wirtschaftliche Einbußen hinnehmen mussten, heutzutage hören, dass man vor zehn Jahren selbst stark gelitten habe und nun eben Deutschland an der Reihe sei. Wobei der Wirtschaftsrückgang in Deutschland längst nicht so scharf ausfallen würde wie bei den südeuropäischen Nachbarn infolge der EU-Auflagen. Diese Spannungen innerhalb der EU könnten möglicherweise noch schwerer ins Gewicht fallen und langfristigere Auswirkungen haben als die Folgen eines Lieferstopps für Energieträger aus Russland.
Jedenfalls stünde der "Exportweltmeister" Deutschland, die wichtigste Volkswirtschaft innerhalb der EU, auch wegen seiner Russlandpolitik der letzten 20 Jahre unter gewaltigem internationalen Druck.
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