Bedroht der Ukraine-Krieg Ankaras Balanceakt zwischen dem Westen und Osten?
von Isaak Funke
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine stellt die Türkei vor schwierige Herausforderungen. Zahlreiche westliche Staaten haben aufgrund des russischen Einmarsches in die Ukraine Sanktionen gegen Russland beschlossen. Der Westen übt großen Druck auf die Türkei aus, sich ihm anzuschließen.
Bisher jedoch gibt es kein Anzeichen dafür, dass Ankara der verbalen Verurteilung des Einmarsches – Ankara hatte etwa für die Resolution der UN-Vollversammlung gestimmt, in der Russland verurteilt wird – auch harte Maßnahmen folgen lassen wird. Im Gegenteil. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hatte auf einem diplomatischen Forum in Antalya Mitte März sehr deutlich erklärt, dass Sanktionen nicht zu einer Lösung des Ukraine-Konfliktes beitragen würden. Diese Position wurde von verschiedenen türkischen Regierungsvertretern mehrmals betont. Wenige Tage vor Çavuşoğlus Auftritt in Antalya hatte Ibrahim Kalın, der Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, gesagt, dass die Türkei keine Sanktionen gegen Moskau verhängen werde. Stattdessen werde Ankara "den Kanal des Vertrauens" offenlassen.
Ankara wolle auch mögliche negative wirtschaftliche Konsequenzen vermeiden. Die türkische Regierung strebe danach, zwischen beiden Kriegsparteien zu vermitteln. Bereits Ende Februar hatte Kalın gegenüber der Welt erklärt, dass Sanktionen gegen Russland "nutzlos" seien. Es sei besser, die strategischen Bedenken der Gegenseite zu erfassen und zu verstehen. Bisher verhängte Ankara weder irgendwelche wirtschaftlichen Sanktionen, noch schloss es, im Gegensatz zu den meisten anderen westlichen Staaten, seinen Luftraum für russische Flugzeuge. Lediglich der Zugang durch den Bosporus für Kriegsschiffe wurde von Ankara gesperrt. Diese Maßnahme trifft allerdings alle Staaten, wobei Russland und andere Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres insofern im Vorteil sind, als der internationale Vertrag, der den Zugang durch die Meerengen regelt, Ausnahmeregelungen für Schiffe vorsieht, deren Stützpunkt sich im Schwarzen Meer befindet.
Ankaras Verhältnis zu Russland kann dabei nicht einfach als einseitig positiv beschrieben werden. Es gibt verschiedene Konflikte, in denen beide Staaten gegensätzliche Seiten unterstützen, so etwa in Syrien, Libyen und im Kaukasus. Ankara fürchtet sich darüber hinaus, dass Russland die Ambitionen der syrischen Kurden für mehr Autonomie oder gar einen eigenen Staat anfachen könnte. Im Rahmen der Ausweitung der türkischen Rüstungsexporte verkaufte Ankara an die Ukraine waffenfähige Drohnen aus eigener Produktion, die nun gegen russische Truppenverbände eingesetzt werden.
Andererseits ist die Türkei auch auf russische Unterstützung angewiesen, um diese Konflikte zu regulieren. Zudem beschaffte sich die Türkei das russische Flugabwehrsystem S-400, nachdem die USA sich geweigert hatten, ein ähnliches System zu verkaufen. Atilla Yeşilada, ein türkischer Analyst des Unternehmens GlobalSource Partners, erklärte gegenüber Reuters:
"Es ist die Aussicht auf einen längeren unblutigen Konflikt oder substanzielle Sanktionen gegen Russlands Energieexporte, die die Türkei tief verletzen (und die wirtschaftliche Stabilität bedrohen) könnte."
Zwischen beiden Staaten bestehen enge wirtschaftliche Verbindungen: Die Türkei importiert aus Russland Energie und russische Touristen tragen zur türkischen Wirtschaft bei. Während Russland ein wichtiger Markt für türkische Gemüsehersteller ist, kauft die Türkei in Russland andere landwirtschaftliche Produkte, etwa Getreide, ein. Da die türkische Wirtschaft derzeit ohnehin äußerst labil ist, will Ankara jeden zusätzlichen Schock vermeiden. Allein im letzten Quartal 2021 verlor die türkische Währung Lira rund 45 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar. Millionen Türken droht somit die Armut. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges verlor die Lira weitere sechs Prozent. Die türkische Wirtschaft spürt bereits erste Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. Da das Schwarze Meer jetzt unmittelbar an ein Kriegsgebiet grenzt, ist ein Großteil der türkischen Schifffahrtsbranche betroffen, die rund 2,4 Prozent Anteil am BIP hat. Das hat zuletzt der türkische Schifffahrtskammer mitgeteilt. Der teilweise Ausschluss Russlands aus dem Bankeninformationsnetzwerk SWIFT erschwert den Handel zwischen Unternehmen.
Einige Beobachter erklärten, dass Russland versuche, über die Türkei die Sanktionen zu umgehen. Tim Ash, ein Stratege für das Londoner Unternehmen BlueBay Asset Management, erklärte gegenüber dem Nachrichtenportal Ahval, der Westen brauche eine nüchterne Einschätzung gegenüber der Türkei, um Russland erfolgreich von finanziellen Strömen, Märkten und dem internationalen Handel abzuschneiden. Ash fügte hinzu, dass die westlichen Sanktionen Wirkung auf türkische Firmen zeigen würden, trotz der offiziellen Haltung Ankaras:
"Unabhängig von den Maßnahmen der türkischen Regierung denke ich, dass die meisten türkischen Finanzinstitute die Warnungen vor westlichen Sanktionen ernst nehmen werden. Zumindest die Privatbanken. Sie sind hochprofessionell, verfügen über ein ausgeprägtes Risikomanagement und sind sich der Konsequenzen bewusst, wenn sie bei der Verletzung westlicher Sanktionen erwischt werden."
Einige Banken könnten jedoch aufgrund der Aussicht auf hohe Profite versuchen, die Sanktionen zu umgehen, so Ash. Diese müsse man "ermutigen", die Sanktionen zu befolgen. Laut einem Bericht der führenden türkischen Finanzzeitung Dünya hätten viele Russen Konten bei türkischen Banken eröffnet, nachdem die russische Regierung Kapitalkontrollen einführte. Türkische Unternehmer würden auf mehr Geschäfte mit russischen Partnern hoffen, so Dünya.
In einigen Bereichen soll es schon zu ersten Versuchen russischer Unternehmen gekommen sein, die Türkei als Standort zur Umgehung westlicher Sanktionen zu nutzen. Sechzig russische Flugzeuge seien inzwischen in der Türkei angemeldet und russische Fuggesellschaften würden Subunternehmen in der Türkei gründen, berichtete das türkische Portal airlinehaber.com.
Andererseits gibt es auch Berichte über zögerliches Verhalten türkischer Unternehmen. Private Geldverleiher seien gegenüber in der Türkei neu angekommenen Russen vorsichtig, schrieb die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf "verschiedene Quellen". Sie würden die Darlehensanfragen mehrmals nach der Übereinstimmung mit nationalen und internationalen Regelungen prüfen. Ein anonymer Banker erklärte:
"Vor allem die Privatbanken sind bei neuen russischen Einlagen sehr vorsichtig und fürchten sich vor Sanktionen."
Özgür Ünlühisarcıklı, der Leiter des Türkei-Programms der US-Denkfabrik German Marshall Fund, erklärte gegenüber DW die Zurückhaltung der türkischen Regierung damit, dass sich in der Vergangenheit Sanktionen, an die sich die Türkei halten musste, negativ auf die türkische Wirtschaft ausgewirkt hätten. Zudem sei die türkische Regierung bei der Verhängung von Sanktionen von den westlichen Staaten nicht nach ihrer Meinung befragt worden. Ankara habe Angst vor möglichen Gegensanktionen Russlands.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass die türkische Regierung in den letzten Jahren zunehmend auf Distanz zu den westlichen Staaten gegangen ist, da sie vermutet, diese könnten in Versuche verwickelt sein, Erdoğan zu stürzen. So wurde in regierungsnahen türkischen Medien offen über eine mögliche Beteiligung der USA an dem gescheiterten Putschversuch gegen den türkischen Präsidenten im Juli 2016 spekuliert. Zudem verwickelte sich Erdoğan in eine Reihe aggressiver Polemiken mit verschiedenen westlichen Vertretern, so etwa mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Während ein NATO-Austritt der Türkei aus sicherheitspolitischen Gründen als nahezu ausgeschlossen gilt, ist offensichtlich, dass Ankara – aus knallharten Eigeninteressen – versucht, eine Multivektoren-Außenpolitik zu fahren und Russland sowie China als Gegengewicht gegen die NATO-Staaten in Stellung zu bringen.
Einige prowestliche türkische Beobachter äußerten die Hoffnung, dass die aktuelle Krise eine Chance sei, sich wieder dem Westen anzunähern. Der pensionierte Botschafter Oğuz Demiralp verwies im Gespräch mit DW auf das historische Beispiel des Krimkrieges im Jahr 1856, als das Osmanische Reich sich mit Frankreich und Großbritannien gegen Russland verbündete:
"Die Türkei kann vielleicht die Sanktionen nicht einhalten, sollte aber immer deutlich machen, dass sie gemeinsam mit dem Westen handelt. Unser Platz ist der Westen. Wir müssen die allgemeine Haltung der NATO, die allgemeinen westliche Haltung gegenüber der Aggression unterstützen."
Dabei kann Erdoğan bei seinem Versuch, einen Balanceakt zwischen dem Westen und Osten auszuführen, durchaus an gewisse historische Traditionen anknüpfen. Seit dem 19. Jahrhundert war das Osmanische Reich bereits zu schwach, um auf Basis der eigenen Kapazitäten mögliche äußere Gefahren abzuwehren, sodass dessen Herrscher zunehmend zu der Strategie übergingen, die verschiedenen imperialen Großmächte gegeneinander auszuspielen – mit einigem Erfolg. Letztendlich bestand das Osmanische Reich, das als "kranker Mann Europas" galt, sogar einige Jahre länger als dessen Erzrivale, das zaristische Russland.
Auch der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, die neue Republik Türkei, die in der Glut einer antikolonialistischen Widerstandbewegung entstanden war, knüpfte in gewisser Weise an diese Außenpolitik an: Einerseits lehnte sie sich eng an die junge Sowjetunion an, die den türkischen Patrioten für den Kampf gegen die Besatzungsmächte Waffen geliefert hatte. Zumal die Sowjetunion selbst auf der Suche nach möglichen Partnern zur Absicherung der eigenen Existenz war – schließlich hatten nach der Oktoberrevolution 14 verschiedene Staaten auf der Seite der Weißgardisten im Russischen Bürgerkrieg interveniert. Und andererseits pflegte Ankara auch weiterhin Kontakte zu den westlichen Staaten. Diese Tradition wurde sogar nach dem NATO-Beitritt der Türkei im Jahr 1952 nicht aufgegeben. In den 1960er und 1970er Jahren gab es etwa mehrere türkisch-sowjetische Kooperationsprojekte im wirtschaftlichen Bereich.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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