Eine Analyse von Rainer Rupp
In einem dramaturgisch ausgefeilten Auftritt auf der sogenannten Sicherheitskonferenz in München am 19. Februar 2022 hat der gelernte Schauspieler und Komiker Wladimir Selenskij in seiner Rolle als Präsident der Ukraine der NATO gedroht, und zwar mit der atomaren Wiederbewaffnung der Ukraine. Wahrscheinlich hat er geglaubt, damit den Russen Angst einjagen zu können, aber tatsächlich dürfte er mit seinem Wahnsinnsplan seine westlichen NATO-Unterstützer weitaus mehr erschreckt haben.
Die Ukraine habe jedes Recht, wieder eine Atommacht zu werden, unterstrich Selenskij und verwies auf ein Dokument, das von führenden Weltmächten unterzeichnet worden war, nachdem Kiew nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugestimmt hatte, sowjetische Atomwaffen im Austausch gegen Sicherheitsgarantien an Russland zurückzugeben. Bei dem Dokument handelt es sich um das sogenannte Budapest Memorandum.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Ukraine für kurze Zeit die drittgrößte Atommacht der Welt. Ihr nukleares Arsenal war Teil des atomaren Vermächtnisses der Sowjetunion, das in den drei neuen unabhängigen Staaten Weißrussland, Kasachstan und Ukraine zurückgeblieben war. Insgesamt hatte die Ukraine etwa 1.700 strategische Atomsprengköpfe und Hunderte von Trägerwaffen, über die in der Praxis jedoch Moskau, genauer gesagt der Kreml, die Kontrolle nie aufgegeben hatte.
Die Gefahr, dass im damaligen "Wilden Osten" Tausende von sowjetischen Atomwaffen in den instabilen ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR lagerten und womöglich auf "Wanderschaft" in den terroristischen Untergrund gehen konnten, war damals für die Westmächte ein einziges Horrorszenario. Mit politischen Versprechungen und viel Geld als Schmiermittel gelang es den Westmächten, die Regierungen der drei betroffenen Länder zu überzeugen, ihre gefährlichen Atomwaffen-Vorräte an Russland, den eigentlichen Besitzer und legalen Nachfolgestaat der Sowjetunion, zurückzugeben.
Im Budapest Memorandum hatten sich die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan verpflichtet, ihre Atomwaffenarsenale abzubauen beziehungsweise an Russland zurückzugeben und den Atomwaffensperrvertrag (NPT) zu unterzeichnen. Neben den drei ehemaligen Sowjetrepubliken wurde das Memorandum auch von den USA, Großbritannien und Russland als Garantiemächte unterzeichnet. Diese hatten sich ihrerseits gegenüber der Ukraine verpflichtet, für deren "Unabhängigkeit und Souveränität" und "die bestehenden Grenzen" der Nation einzustehen. Sie verpflichteten sich auch, die Androhung militärischer Gewalt oder wirtschaftlichen Zwangs gegen die Ukraine nicht anzuwenden und ihre Position im UN-Sicherheitsrat zur Verteidigung der Ukraine zu nutzen, "wenn die Ukraine Opfer einer Aggression oder Objekt einer Bedrohung durch Aggression werden sollte, bei der Atomwaffen eingesetzt werden".
In den Jahren nach dem von den USA geförderten und mit 5 Milliarden US-Dollar finanzierten blutigen Maidan-Putsch gegen den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch ist es immer wieder zu kontroversen Interpretationen des Budapest-Abkommens gekommen. Kiew argumentiert seit 2014, dass Russland das Abkommen gebrochen habe, als es die Krim und Teile der Ostukraine "besetzte". Moskau bestreitet dies. Die Menschen auf der Krim, so argumentieren die Russen, übten angesichts der Bedrohung durch die aus Kiew vorrückenden, schwer bewaffneten faschistischen Freiwilligen-Bataillone ihr Recht auf Selbstbestimmung gemäß der UN-Charta aus. In einem Referendum sprach sich die Bevölkerung der Krim mit sehr großer Mehrheit dafür aus, aus der Ukraine auszutreten und die Aufnahme in die Russische Föderation zu beantragen, was vom russischen Parlament angenommen und vom Präsidenten unterschrieben wurde. Der Konflikt im Donbass, so Russland weiter, sei ein von Kiew begonnener Bürgerkrieg gegen abtrünnige Regionen und kein internationaler Konflikt. Zugleich haben auch die USA und Großbritannien ihren Verpflichtungen aus dem Budapest-Memorandum nicht gebrochen, denn zu keiner Zeit war die Ukraine durch einen Einsatz von Atomwaffen bedroht worden. Auch hat, wie vonseiten Kiews gerne behauptet wird, Russland der Ukraine nie den Krieg erklärt.
Soweit der historische und juristische Hintergrund zur ehemaligen, wenn auch nur kurzzeitigen Nuklearmacht Ukraine. Aber wie stehen nun die Chancen Kiews für eine atomare Wiederbewaffnung? Juristisch wird die Ukraine durch nichts daran gehindert, sich aus dem Atomwaffensperrvertrag zurückzuziehen und ihre eigenen Atomwaffen zu entwickeln. Nordkorea ist diesen Weg erfolgreich gegangen, trotz aller internationalen Bemühungen, Pjöngjang zu stoppen. Es gibt auch die Beispiele Indien und Pakistan, die Atomwaffen für eine gegenseitige Abschreckung entwickelt haben, sowie das Beispiel Israel. Kiews technische Fähigkeit, Atomwaffen herzustellen, ist eine andere Sache. Zwar hat die Ukraine einige nukleare Forschungseinrichtungen und eine entwickelte zivile Atomindustrie mit einigen alten Reaktoren in Kraftwerken, die in der Sowjetzeit gebaut wurden. Was die Trägerwaffen betrifft, so hatte die Ukraine früher eine gut entwickelte, inzwischen aber veraltete Luft- und Raumfahrtindustrie, die einst in der Lage war, Interkontinentalraketen und schwere Bomber herzustellen.
Andererseits hatte die Ukraine nie Anlagen zur Urananreicherung oder Plutoniumwiederaufbereitung, die benötigt werden, um waffenfähiges Material herzustellen. Es gab auch keine Fabriken, die Atomwaffen auf ukrainischem Territorium produziert hatten. Was die Rohstoffe betrifft, so hat das Land uranhaltige Bergbaubetriebe seit den 1950er-Jahren betrieben. Aber die Produktion ist in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Die Minen erfordern enorme Investitionen und somit viel Geld, das die Ukraine nicht hat, um wieder produktiv zu werden.
Einige ukrainische Experten, wie der pensionierte General Petro Garashchuk, behaupteten laut einem Bericht von RT-International, dass die Ukraine genug technisches Know-how behalten habe, um eine vollständige Palette von Atomwaffen und Trägersystemen zu herzustellen. Dies wird laut RT auch von Ilya Kramnik, einem Forscher am Zentrum für Nordamerikastudien am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen bestätigt: "Technisch gesehen hat die Ukraine eine Industrie, die mit einigen Veränderungen in der Lage sein sollte, Atomwaffensysteme zu produzieren", so Kramnik. Das Problem liegt in dem Begriff "mit einigen Veränderungen". Dabei handelt es sich um Hochtechnologien, die von der Ukraine nicht hergestellt werden und somit aus dem Ausland importiert werden müssten. Diese Technologien fallen jedoch unter den Nichtweiterverbreitungsvertrag (NPT) und somit ist ihr Export verboten. Es ist auch kaum vorstellbar, dass die USA oder andere westliche Ukraine-Unterstützer Kiew diesbezüglich zu Hilfe kommen würden. Dafür gibt es mehrere Gründe:
- An der Ostflanke der NATO eine instabile, aber atomar bewaffnete Ukraine zu wissen, deren Sicherheitsorgane und Ministerien von nationalistischen Extremisten und offenen Faschisten durchsetzt sind, die jederzeit mit Russland einen Krieg beginnen können, würde weder in Washington noch in den NATO-europäischen Hauptstädten die Verantwortlichen ruhig schlafen lassen
- Mit der Lieferung von NPT-verbotenen Technologien an die Ukraine würden die USA und andere westliche Staaten den Damm durchbrechen, den sie selbst mit viel Mühe über Jahrzehnte NPT-Exportpolitik zum Beispiel gegen Iran und andere Länder im Mittleren Osten aufgeschüttet haben.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass Kiew nicht in der Lage wäre, Atomwaffen heimlich zu entwickeln. Zumindest müsste es Tests durchführen, um zu bestätigen, dass seine Entwürfe tatsächlich funktionieren. Andere Teile eines erfolgreichen Atomwaffenprogramms wären ebenfalls sowohl von westlichen Nationen als auch von Russland nachweisbar. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Moskau die Drohung, dass die Ukraine heimlich nuklear geht, mit größerem Wohlwollen verfolgt als dies damals Israel tat, als es im Irak die Nuklearanlagen weggebombt hat.
Angesichts all der Probleme, die auf die westlichen Unterstützer der Ukraine zukommen würden, wenn Kiew offen seine Absicht erklärte, Nuklearwaffen zu entwickeln, kann mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Westen Kiew nicht nur jede Hilfe versagt, sondern alles tun wird, um seine Pläne zu stoppen. Zudem ist ein Atomprogramm sehr teuer. Und ausländische Investitionen würden erst recht ausbleiben, wenn bekannt würde, dass die Ukraine ein Atomwaffenprogramm hätte. Statt Wirtschaftshilfe und Geldspritzen wären sogar Wirtschaftssanktionen wahrscheinlich. "Ich persönlich glaube, dass es keine einzige Atommacht gibt, die der Ukraine helfen wird, diesen Weg zu gehen", sagte Kramnik. "Einfach, weil sich niemand mit den unvermeidlichen Folgeproblemen befassen will, die an dem Tag auftreten werden, an dem sicher bekannt wird, dass die Ukraine Atomwaffen entwickelt."
Anstatt ihre Zustimmung und Hilfe anzubieten, würden die USA und ihre Verbündeten ab dem ersten Tag gegen ukrainische Atomwaffenpläne arbeiten und möglicherweise sogar Wirtschaftssanktionen verhängen. Die derzeitige Wirtschaftslage der Ukraine und die Abhängigkeit der Regierung von ausländischer Hilfe lassen Kiews Chancen, das zu tun, was Nordkorea getan hat, zweifelhaft erscheinen.
Es ist kaum vorstellbar, dass sich der ukrainische Präsident oder die Leute, die ihn beraten und seine Reden schreiben, nicht wissen, dass ein ukrainisches Atomwaffenprogramm eine Luftnummer ist. Und dennoch hat Selenskij dies zu einem zentralen Punkt seiner Rede in München gemacht. Seine an die eigenen Unterstützer gerichtete Drohung mit einer ukrainischen Atomwaffe ist auch nicht neu. Seit Jahren geistert sie im Diskurs ukrainischer Außenpolitiker herum. Allen voran tut sich diesbezüglich der Freund der deutschen Grünen, Andrei Melnyk hervor, seines Zeichens Botschafter Kiews in Berlin. Ja, es ist der Melnyk, der glaubt, die deutsche Regierung und den Bundestag noch schlimmer anpöbeln zu können, als es vor nicht allzu langer Zeit der größenwahnsinnige US-Cowboy, Botschafter Richard Grenell, getan hat.
Eine mögliche Erklärung für dieses seltsame Verhalten hat Selenskij in München selbst genannt, als er an das illustre Publikum der "UN-Sicherheitskonferenz" appellierte: "Gebt uns Geld, ohne Bedingungen daran zu knüpfen. Warum müssen Sie jedes Mal, wenn Sie uns diese oder jene Summe zuteilen, die Umsetzung von einer, zwei, drei, vier, fünf, sieben, acht, zehn Reformen daran knüpfen?", sagte er bei einer Podiumsdiskussion im Anschluss an seine Rede. "Schauen Sie, es gibt auch den Krieg. Gibt es eine andere Nation auf der Welt, die im Osten eine so starke Armee hat und Reformen umsetzt? Das ist nicht einfach", fügte Selenskij hinzu.
Die in München zur Schau gestellten nuklearen Ambitionen der Ukraine scheinen also lediglich Teil einer nach Aufmerksamkeit heischenden Kampagne zu sein, um die westlichen Geberländer zu bewegen, noch mehr Steuergelder in dem ukrainischen Fass ohne Boden zu versenken. Dennoch sollten die ukrainischen Strategiespielchen mit Atomwaffen nicht verharmlost werden, denn sie zeigen wes Geistes Kind die Russen hassenden Eliten in den ukrainischen Schlüsselpositionen von Militär, Polizei, Geheimdienste, Sicherheitsrat und Justiz sind.
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