Selenskij malt sich in München eine Welt zusammen

Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij war am Sonnabend Gast auf der Münchener Sicherheitskonferenz und hat dort eine Rede gehalten. Mit Forderungen, Drohungen und Showeinlagen.

Eine Analyse von Anton Gentzen

Angeblich steht sein Land unmittelbar vor einem Einmarsch russischer Truppen. Die Zeit nach München zu reisen und dort eine Ansprache an die Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz zu halten, hatte Präsident Selenskij dennoch. 

Überraschend oder neu war an der Rede letztlich nichts: Dieselbe Mischung aus Vorwürfen an die "westlichen Partner der Ukraine" und Forderungen, vorgetragen mit Mimik und Stimmlage eines bockigen kleinen Kindes. 

Die Politik des Appeasements führe zu nichts, belehrt Selenskij die Zuhörer und wirft dem Westen Komplizenschaft mit Russland vor. Die Sicherheitsarchitektur der Welt sei obsolet und die anderen Länder reite "Egoismus, Arroganz und Unverantwortlichkeit". Die fünftausend Helme, setzt er nach, seien keine "milde Gabe, um die man gebettelt habe" und für die dankbar sein müsse, die Ukraine verteidige schließlich Europa und den Westen gegenüber dem russischen Aggressor. 

Er spricht über Kinder, die unter Artilleriebeschuss zur Schule laufen, und über zerstörte Schulgebäude. Diese Bilder kennt die Welt vornehmlich aus dem abtrünnigen Teil des Donbass. Dort sind 80 und mehr Prozent der zivilen Opfer des ukrainischen Bürgerkrieges zu verzeichnen, getötet vom Beschuss durch die ukrainischen Regierungstruppen. Selenskij, der all das bestens weiß, erweckt bewusst den Eindruck, als seien dies Bilder aus dem ukrainisch kontrollierten Teil der Region. 

Nicht alles in der Rede ist aber gelogen: "Nicht der Flughafen in München liegt in Trümmern, sondern der in Donezk", sagt der ukrainische Präsident – und das ist die Wahrheit. Ob sich jedoch einer der Anwesenden in dem Münchner Nobelhotel oder zuhause im Livestream in diesem Moment fragt, wessen Artillerie das erst zur Europameisterschaft neu gebaute Terminal in Donezk so zugerichtet hat? 

Selenskij malt sich die Welt, wie sie ihm gefällt, und sie gefällt ihm schwarz-weiß: hier der Aggressor Russland, da das unschuldige Opfer, die Ukraine. Kritische Fragen muss er nicht fürchten. Niemand wird ihn fragen, wie es um die Menschenrechte und Bürgerfreiheiten in seinem Land bestellt ist. Daher kann er bedenkenlos die angeblichen Menschenrechtsverstöße auf der Krim anprangern. Keiner wird ihn nach dem Schicksal der willkürlich abgeschalteten ukrainischen Fernsehsender fragen, und so kann er in München ein Bild der Ukraine als Bastion der Demokratie und der Freiheit zeichnen. 

Fehler oder Fehlverhalten auf der eigenen Seite leugnet Selenskij rundum. Alle von den Minsker Verträgen vorgesehenen Gesetzesentwürfe habe man längst vorgelegt, die Welt nehme sie nur nicht zur Kenntnis. Was im abtrünnigen Teil des Donbass geschieht? Nichts als Provokation und zynisches Schauspiel, meint der Präsident, der für sich in Anspruch nimmt, auch der Präsident der Ostukrainer zu sein: 

"Das, was etwa gestern gezeigt wurde, in den vorübergehend besetzten Gebieten – irgendwelche Geschosse, dass sie von unserer Seite angeflogen gekommen seien, und dass etwas davon in der Region Rostow eingeschlagen sein soll – das ist alles Provokation, das ist alles reinster Stunk: Da gibt es keinerlei Todesopfer, niemand ist verwundet! Das ist schlicht Zynismus auf derartigem Niveau, dass sie sich selbst sprengen, sich selbst beschießen. Es wäre auch nicht das erste Mal, beginnend im Jahr 2014 – dass die Waffen gewendet werden und sie selber auf ihr eigenes … vorübergehend besetztes Territorium schießen, ich meine damit, sie schießen auf das Territorium, das sie kontrollieren."

"Sie" sprengen sich selbst in die Luft und beschießen sich selbst – auch das ist nichts Neues. Ukrainische Rhetorik seit 2014. 

Dann kommen seine Forderungen: Präventive Sanktionen gegen Russland, Europa soll seinem Land den Beitritt in die EU versprechen und die NATO konkrete Schritte zur Aufnahme der Ukraine in das Bündnis unternehmen. Ein "Recht auf Wahrheit" haben die Ukrainer, "offene Türen sind gut, aber wir brauchen offene Antworten". Die Wortspiele gehen ihm so glatt von der Zunge wie früher die auswendig gelernten Pointen in seiner Comedy-Show. 

Die Ukraine sei es, die ein Recht habe, Sicherheitsgarantien einzufordern. Deshalb verlange er hier und jetzt, dass sich die Garantiestaaten des Budapester Memorandums versammeln und ihre Sicherheitsgarantien einlösen. Zum letzten Mal fordere er dies. Was, wenn die Forderung nicht erfüllt wird? Dann seien die Vereinbarungen von Budapest hinfällig.

Eine unverhohlene Drohung mit ukrainischen Atomwaffen ist dies, man habe ja früher das drittgrößte Arsenal nuklearer Waffen besessen und sei technisch jederzeit in der Lage es wieder zu werden. 

Damit sie auch niemand vergisst, wiederholt Selenskij seine Forderungen, zum Mitschreiben so zu sagen: 

- Eine klare europäische Perspektive.

- Eine Zeitlinie für die Vollmitgliedschaft in der NATO.

- Ein Paket präventiver Sanktionen gegen Russland. Sofort.

- Die energetische Integration der Ukraine in die EU. Sofort. 

"Wir brauchen die Sanktionen nicht, nachdem unser Land zerbombt wurde oder keine Grenzen mehr hat", 

kommt er später noch einmal auf die Forderung nach Sanktionen zu sprechen. Unverkennbar, dass sie ihm das Wichtigste sind. North Stream 2 erwähnt er in München allerdings nicht ausdrücklich.

Ein paar Lacher und verhaltenen Applaus erntet Selenskij für eine spontane Comedy-Einlage: Die Übersetzung funktioniere nicht mehr, sagt er plötzlich und nimmt die Kopfhörer ab:

"Ich brauche neue. Muss ein Cyberangriff sein. Sie sehen, Russland ist nicht hier, aber es ist hier." 

Hatte er denn Angst, nach München zu kommen?

"Warum sollte ich, hier sind doch Freunde."

"Nein, nein",unterbricht die Moderatorin, "ich meinte, das Haus in dieser Situation ohne Aufsicht zu lassen."

"Es ist in guten Händen und ich habe dort heute gut gefrühstückt",

antwortet der Präsident und zieht von dannen. Zu Treffen mit "wichtigen Partnern", wie er sagt. 

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