Würden die Waffenlieferungen der NATO genügen, um die Ukraine im Kriegsfall zu verteidigen?
Eine Analyse von Michail Chodarjonok
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat Pläne bestätigt, der Ukraine ein neues Paket an militärischer Hilfe zu schicken. "Im Dezember genehmigte Präsident Biden Unterstützung in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, darunter für zusätzliche Javelin-Anti-Panzerraketen und weitere panzerbrechende Waffen, Granatwerfer, große Mengen an Artilleriegeschosse und Munition für Kleinwaffen sowie für zusätzliche Ausrüstung. Diese Lieferungen laufen noch", fügte er hinzu. Neben den Lieferungen von Waffen und militärischer Ausrüstung durch die Vereinigten Staaten und einige Länder der NATO verzeichnete man in der Ukraine eine erhebliche Zunahme der Zahl an NATO-Militärberatern und Experten für verschiedene Waffentypen, die an der Konfliktlinie im Donbass im Einsatz sind.
Welche Waffen liefert der Westen an die Ukraine?
Bemerkenswert ist, dass ein Großteil der gelieferten Waffen der Bekämpfung von gepanzerten Kampffahrzeugen dienen. Über das System zu Panzerabwehr Javelin wurde bereits ausführlich gesprochen. Die ukrainischen Streitkräfte erhalten weiterhin massive Lieferungen dieser Projektile aus den USA. Die taktischen und technischen Merkmale des Javelin-Systems sind wie folgt: Beim FGM-148 Javelin kommt eine gekühlte Infrarot-Suchrakete zum Einsatz, die mit einem zweimodigen Kontakt-/Annäherungszünder ausgestattet ist. Um das Abfangen durch die Verteidigungssysteme eines Panzers zu vermeiden, folgt das Projektil des Javelin einer Flugbahn, die es ihr ermöglicht, das Fahrzeug von oben anzugreifen. Beim Schießen auf maximale Reichweite steigt das Geschoss auf eine Höhe von 160 Meter. Eine Schlagkraft für das Durchdringen von Panzerungen bis zu 800 Millimeter ermöglicht es der Javelin, fast alle Arten gepanzerter Fahrzeuge zu zerstören. Die maximale Schussreichweite beträgt 2.500 Meter.
Zu den Vorteilen dieses Raketensystems gehören:
- eine "Fire-and-Forget"-Fähigkeit, was bedeutet, dass der Schütze die Feuerposition unmittelbar nach dem Start verlassen kann, was die Überlebensfähigkeit der Bedienermannschaft im Gefecht verbessert;
- die Möglichkeit, aus jeder Position zu schießen: sitzend, kniend, stehend und liegend;
- ein "sanfter Abschuss", was bedeutet, dass die Rakete durch den Startmotor aus dem Werfer geschleudert wird und der Flugmotor erst in sicherer Entfernung von der Bedienermannschaft zündet, was das Schießen aus Gebäuden und aus verdeckten Stellungen ermöglicht – sehr wichtig für ein Gefecht in urbaner Umgebung.
Das Vereinigte Königreich lieferte der Ukraine mehr als 1.000 fortschrittliche und tragbare leichte Waffensysteme zur Panzerabwehr der neusten Generation (NLAW). Diese Lieferung erfolgte offenbar kostenlos. Dieses tragbare Raketensystem ist eine gemeinsame britisch-schwedische Entwicklung von SAAB und Thales Air Defence, die derzeit in Dutzenden von Ländern auf Lager ist.
Es handelt sich im Wesentlichen um einen tragbaren Einzelschuss-Granatwerfer zur Panzerabwehr, der ebenfalls nach dem "Fire-and-Forget"-Prinzip arbeitet und eine Schussreichweite von 800 Metern hat. Das NLAW ist gegen alle modernen Typen gepanzerter Fahrzeuge wirksam. Bei einem Gewicht von nur 12,5 Kilogramm hat sie eine Durchschlagskraft bei Panzerungen bis zu 500 Millimetern und kann, genau wie der Javelin, aus verdeckten Stellungen abgefeuert werden.
Darüber hinaus lieferten die USA der Ukraine einen Teil ihrer bunkerbrechenden Munition (BDM) vom Typ M141. Dies ist eine Spezialwaffe, die gegen Bunker und befestigte Stellungen eingesetzt werden kann, daher ist sie besonders nützlich für Militäroperationen in urbanen Gebieten. Die Werfer für diesen Typ Munition wurden für die US-Armee zur Neutralisierung von Befestigungen und Infanterie-Kampffahrzeuge mit leichter Panzerung entwickelt. Die Waffe selbst ist ein SMAW-D-Werfer (Single-Use Shoulder Launched Multipurpose Assault Weapon, zu Deutsch: Schultergestützte Mehrzweckangriffswaffe für den Einzelgebrauch), das Projektil ist ausgestattet mit einem hochexplosiven Sprengkopf für einen doppeltem Verwendungszweck (HEDP), der etwa 200 Millimeter Beton oder 300 Millimeter Ziegel und problemlos eine zwei Meter breite Anhäufung von Sandsäcken durchdringen kann.
Berichten zufolge erhielt die Ukraine auch einige tragbare Raketen (MANPAD) zur Luftabwehr vom Typ Stinger. Estland, Lettland und Litauen gaben kürzlich bekannt, dass sie von Washington die Genehmigung erhalten hatten, die in den USA hergestellte Waffe dieser Klasse an die Ukraine zu schicken. Die Stinger kann feindliche Bedrohungen aus der Luft in geringer Höhe auf bis zu 3.800 Meter angreifen und gegen ungepanzerte Oberflächenziele und Ziele auf dem Wasser eingesetzt werden.
Es gibt auch Berichte darüber, dass die Vereinigten Staaten die Ukraine mit zusätzlichen Radarsystemen zur Artilleriebekämpfung, dem AN/TPQ-36 Firefinder, beliefern werden. Die Firefinder ist das Hauptradar der US-Armee zum Aufspüren feindlicher Artilleriestellungen und könnte als solches den Streitkräften der Ukraine helfen, die Leistung der eigenen Artillerie erheblich zu erhöhen.
Was also sollen all diese Waffenlieferungen der Vereinigten Staaten und der NATO an die Ukraine erreichen? Welche Situation entsteht dadurch?
Einige russische Experten äußerten die Meinung, dass der Westen der Ukraine nichts als veraltete Waffen geschickt habe. Einige Veröffentlichungen nannten sie sogar Altmetall. Dies ist, gelinde gesagt, nicht zutreffend. Die Munition und die Waffen sind modern, auf der globalen Bühne ziemlich konkurrenzfähig und als solche definitiv eine willkommene Aufwertung für die Streitkräfte der Ukraine.
Andererseits stellt sich angesichts der moderaten Mengen dieser Waffenlieferungen – alle waren in kleinen Chargen, die auf dem Luftweg geliefert wurden – die Frage, ob sie die militärischen Arsenale und Kapazitäten der Ukraine erheblich verbessern. Würde das ausreichen, um der ukrainischen Armee zu helfen, einem Angriff der russischen Armee standzuhalten und in einer hypothetischen Schlacht zu siegen?
Die Antwort auf beide Fragen lautet Nein. Das wirtschaftliche und militärische Potenzial Russlands übersteigt das der Ukraine bei Weitem. Keine Versorgung mit Einwegraketenwerfern oder MANPADs kann die bestehenden Kräfte ausgleichen – weshalb alle Beteiligten besser nach einer diplomatischen Lösung suchen sollten.
Weder Moskau noch Kiew wollen Krieg. Kürzlich sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow: "Wenn es von Russland abhängt, wird es keinen Krieg geben. Wir wollen keine Kriege. Aber wir werden auch nicht zulassen, dass unsere Interessen grob mit Füßen getreten und ignoriert werden." Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij forderte derweil die westlichen Nationen auf, ihre Rhetorik in Bezug auf die Situation im Land zu beruhigen, und sagte, es werde "zu viel Panik verbreitet". Auf einer Pressekonferenz sagte er Journalisten: "Ich halte die Situation jetzt nicht für angespannter als zuvor. Im Ausland aber hat man das Gefühl, dass bei uns Krieg herrscht. Das ist nicht der Fall."
Obwohl die Waffen, die von den USA und die NATO an die Ukraine geschickt wurden, die ukrainischen Streitkräfte zweifellos stärkten, reichen sie einfach nicht aus, um das Blatt zugunsten Kiews zu wenden, sollte es zu einer direkten kriegerischen Konfrontation mit Russland kommen. Und eine direkte kriegerischen Konfrontation ist keineswegs unvermeidlich.
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Übersetzt aus dem Englischen.
Michail Chodarjonok ist Militärkommentator für RT.com. Er ist ein Oberst im Ruhestand. Er diente als Offizier in der Hauptdirektion des Generalstabs der russischen Streitkräfte.
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