20 Jahre nach Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA: Ballistische Raketen neuer Generation

In dieser Woche vor 20 Jahren haben die USA angekündigt, aus dem ABM-Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen auszutreten. Er war 1972 zwischen Moskau und Washington unterzeichnet worden. Was hat sich seitdem getan?

Eine Analyse von Michail Chodarjonok

Am 13. Dezember 2001 informierte der damalige US-Präsident George W. Bush Russland förmlich über die Entscheidung der USA, aus dem ABM-Vertrag auszutreten. Der Austritt trat gemäß Artikel 15 des Vertrags sechs Monate später, am 13. Juni 2002, in Kraft. Russland verurteilte diesen Beschluss umgehend als eine Fehlentscheidung und bestand darauf, den bilateralen Vertrag intakt zu halten, unter Berufung auf seine internationale Bedeutung und als "einen Eckpfeiler der strategischen Stabilität und Sicherheit".

Die USA jedoch hatten wiederholt ihre Absicht bekundet, aus dem Vertrag auszutreten – mit der Begründung, er sei überholt – und um sich den Freiraum zu schaffen, ein eigenes Raketenabwehrsystem zu entwickeln. Alle Experten, die ihr Geld wert sind – sowohl in Russland als auch im Westen – geben jedoch zu, dass kein Raketenabwehrsystem in der Lage sein würde, das Territorium eines Landes zu schützen, das einem ersten, groß angelegten Atomangriff ausgesetzt ist.

Hätte man den Vertrag aufrecht erhalten können?

Mit der Unterzeichnung des ABM-Vertrags und des daraus entstandenen Protokolls von 1974 versuchten die UdSSR und die USA, ihre strategischen Nuklearstützpunkte und Kommandozentralen zu schützen, um im Falle einer Aggression der jeweils anderen Seite, eine symmetrische Reaktion zu gewährleisten. Solche Verträge werden natürlich nur bei einer strategischen Parität unterzeichnet und eingehalten. Kein Staat würde einen Vertrag mit einer politischen und militärischen Leiche abschließen, geschweige denn seinen Verpflichtungen nachkommen – und ich würde argumentieren, dass Russland Ende der 1990er Jahre in dem traurigen Zustand einer Leiche war. Dennoch sind sich viele Experten einig, dass es damals, Anfang der 2000er Jahre, durchaus Raum für Kompromisse gab. Die USA wollten die Beschränkungen des ABM-Vertrags loswerden, waren aber bereit, dafür etwas anzubieten. Russland war jedoch entschlossen, den Vertrag so einzuhalten, wie er beschlossen worden war. 

Wie viele Argumente wurden vorgebracht dafür, dass die Raketenabwehrsysteme "auf niemanden gerichtet" werden sollten? Raketenabwehrsysteme sind keine Angriffswaffen oder Kanonen, sie zielen nirgendwo hin. Sie dienen der umfassenden Verteidigung eines bestimmten Standorts, an dem sich wichtige Einrichtungen befinden.

Wie viele Diplomaten versuchten – und scheiterten –, die USA dazu zu bringen, zu garantieren, dass ihre Raketenabwehrsysteme nicht gegen Russland eingesetzt werden? Schauen wir uns ein stark vereinfachtes Beispiel an, in dem Versuch zu verstehen, über welche Art von Garantien man reden könnte.

Zunächst einmal werden die USA niemandem Garantien geben, wenn es um Raketenabwehr geht. Man stelle sich aber vor, es gäbe eine Schlacht im europäischen Luftraum, an der die NATO und einige Länder des Nahen Ostens, Zentralasiens oder des Fernen Ostens beteiligt sind, die über Raketentechnologie und andere relevante Waffenarten verfügen würden (wann dies tatsächlich der Fall sein könnte, ist allerdings eine völlig andere Frage). Wenn Russland keine Konfliktpartei wäre, welche Garantien würden man dann brauchen?

Es ist unvorstellbar, dass in diesem hypothetischen Konflikt zwischen Ost und West, der sich im europäischen Luftraum entfaltet, plötzlich eine Salve russischer Raketen aus dem Nichts auftaucht und dass die US-amerikanischen und europäischen Raketenabwehrsysteme sie nicht auf Grund bestehender verbindlicher Verpflichtungen abschießen. Wenn wir jetzt annehmen, dass Russland tatsächlich Teil dieses hypothetischen Konflikts wäre, welche Garantien könnte es dann geben? Kaum welche. In Anbetracht all dessen, was oben beschrieben wurde, welche Chancen gab es bei den Gesprächen zum ABM-Vertrag Fortschritte zu erzielen?

Man schaue sich die Konferenzen, Tagungen oder Vorträge zum Thema Rüstung und Waffen genauer an – wer sind die Spezialisten, die daran teilnehmen? Es sind Politologen, Ökonomen, Rechtsexperten, Psychologen und so weiter. Es scheint, als ob unsere Universitäten ihre Studiengänge um das Thema Raketenabwehr erweitert hätten, indem sie Kurse in Radartechnologie, der Theorie elektromagnetischer Felder, der Superhochfrequenz-Technologie und der Technologie zur Funkübertragung, der automatischen Lenk- und Einsatztheorie und der Funkwellenübertragung anbieten. Andererseits glauben alle, dass diejenigen, die über Fragen der Raketenabwehr verhandeln, keine theoretischen oder praktischen Kenntnisse auf diesem Gebiet benötigen. Sie sind gute Verhandler, und das war's. Man kann nur hoffen, dass die nächste Gesprächsrunde mit den USA hochqualifizierte Experten mit einbezieht. Es ist jedoch fraglich, ob daraus Lehren gezogen wurden.

Aktuell wird in Russland darüber debattiert, dass die USA und die NATO Russland schriftliche Garantien dafür geben sollen, dass Washington und Brüssel der Osterweiterung des Bündnisses Einhalt gebieten. Diese Forderung könnte jedoch das gleiche Schicksal ereilen wie den ABM-Vertrag von 1972. Ein anderes Szenario wäre nur möglich, wenn Russland ein größeres BIP und eine bessere Marine als die USA hätte, während die russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte und die russische Armee mit so moderner Hardware und Waffen ausgestattet wären, dass sie sowohl das Pentagon als auch die Granden der NATO vor Neid erblassen ließen. Anderenfalls werden voraussichtlich keine Garantien, insbesondere nicht in Schriftform, angeboten. 

US-Stützpunkte in Polen und Rumänien

Kurz nach dem Austritt im Jahre 2002 aus dem ABM-Vertrag von 1972, begannen die USA im nördlichen Teil Polens mit der Installation des bodengestützten Systems zur Raketenabwehr Aegis. Obschon sich die Anlage für Raketenabwehr in Redzikowo noch im Bau befindet und voraussichtlich 2022 den Betrieb aufnehmen soll, wurde im vergangenen März das Radar- und Feuerleitsystem getestet. Der amerikanische Stützpunkt zur Raketenabwehr in Polen hat den Zweck, ballistische Raketen aus Russland kommend zu erkennen, zu erfassen und abzufangen. Die USA sind jedoch der Meinung, dass diese Anlage – trotz ihrer Lage nahe der russischen Grenze –, das strategische Potenzial Russlands nicht gefährden wird.

Bei dem in Polen im Aufbau befindlichen Standort zur Raketenabwehr handelt es sich um eine landgestützte Komponente, die mit Raketen vom Typ SM-3 und deren Modifikationen ausgestattet ist. Aegis Ashore verwendet die Ausrüstung, die üblicherweise von der Marine in landgestützten Einrichtungen verwendet wird. Die für Kriegsschiffe spezifischen Elemente wurden aus Aegis Ashore entfernt und für einen landgestützten Standort modifiziert. Eine Stahlkonstruktion, vier Stockwerke hoch und etwa 900 Tonnen schwer, repliziert die sonst übliche Behausung der Raketen in einem Lenkwaffenkreuzer der Ticonderoga-Klasse. Die Ausrüstung von Aegis Ashore umfasst das Radarsystem vom Typ SPY-1 sowie das Vertikalstartsystem Mark 41 für SM-3-Raketen. Washington hat wiederholt erklärt, dass diese Basis dazu beitragen soll, Westeuropa vor iranischen Raketen zu schützen.

Im Jahr 2016 wurde nahe dem rumänischen Luftwaffenstützpunkt Deveselu das Aegis Ashore als erster landgestützter europäischer Komplex für die Raketenabwehr in Betrieb genommen. Die Einrichtungen in Rumänien und Polen, sowie die vier dauerhaft in Spanien stationierten Lenkwaffenzerstörer der US-Marine, sind die Hauptkomponenten des europäischen phasengesteuerten adaptiven Systems zur Raketenabwehr.

Das Aegis Ashore-System kann bis zu einem gewissen Grad eine Abwehr von Raketenangriffen garantieren, die nicht massiv sind. Kein Verteidigungssystem kann die rein hypothetische Situation, eines groß angelegten Austauschs von Angriffen mit Atomraketen, zwischen den Vereinigten Staaten und Russland bewältigen. Und es gibt überhaupt keine effektiven Verteidigungsfähigkeiten gegen Russlands Hyperschall-Angriffswaffen vom Typ Avangard. Sie existieren zu diesem Zeitpunkt schlicht und einfach nicht. Die Entwicklung des Aegis Ashore-Komplexes in Polen beunruhigt Russland. Und hier liegt das Problem: Das Abschusssystem Mark 41 kann zeitnah modifiziert und die SM-3-Raketen durch Tomahawk-Marschflugkörper für Landangriffe ersetzt werden.

Was soll Russland in dieser Situation tun, wenn eine solche Modifikation des landgestützten Aegis-Systems in Polen eine sehr reale Bedrohung für seine nationale Sicherheit darstellen kann? Polen und Rumänien müssen sich darüber klar werden, dass bei einem Konflikt zwischen Russland und der NATO die Stellungen zur Raketenabwehr in Redzikowo und Deveselu die ersten Ziele eines nuklearen Angriffs sein werden.

In einer kurzen Anfangsphase eines bewaffneten Konflikts werden wahrscheinlich nur konventionelle Waffen zum Einsatz kommen und der Standort in Nordpolen, der auf der Liste der potenziellen Ziele ganz oben stehen wird, kann mit Kh-101-Marschflugkörpern und mit seegestützten Kalibr-NK oder Kalibr-PL angegriffen werden. Die polnische Aegis Ashore Anlage wird auch ein vorrangiges Ziel für Russlands ballistisches Kurzstreckenraketen-System Iskander-M sein.

Welche Vorteile hat Russland?

Gemäß dem ABM-Vertrag von 1972 durfte jede Partei nicht mehr als zwei Raketenabwehrsysteme haben (um die Hauptstadt herum und in der Nähe des Standorts von Silos für Interkontinentalraketen). Im Umkreis von 150 km durften nicht mehr als 100 stationäre Raketenabwehrsysteme positioniert werden. Später, im Juli 1974, unterzeichneten beide Länder ein Protokoll, das den Einsatz strategischer Verteidigungswaffen weiter einschränkte. Das Protokoll beschränkte jede Seite auf nur einen Standort. Die Sowjetunion entschied sich, ihre Verteidigung gemäß ABM-Vertrag bei Moskau aufrechtzuerhalten und die Vereinigten Staaten beschlossen, ihre Stellung für Interkontinentalraketen in der Nähe der Luftwaffenbasis Vandenberg zu verteidigen.

Die A-135 – Russlands einziges strategisches Abwehrsystem gemäß ABM-Vertrag, das in der Nähe von Moskau stationiert ist – umfasst eine Kommandozentrale, die mit Computereinrichtungen und Systemsteuerungen ausgestattet ist; einem PRS-1 System für das Abfangen von Kurzstreckenraketen; dem Don-2N phasengesteuerten Gefechtsmanagement-Radar mit 360°-Abdeckung; nuklearen Sprengköpfen für die Raketen und Silos für deren Start. Das A-135-System ist vollständig automatisiert.

Auch wenn das A-135-System hervorragend ist, hat es aber auch zwei große Mängel. Erstens ist es ein stationäres System – das Don-2N-Radar ähnelt einer ägyptischen Pyramide mit mehreren unterirdischen Ebenen und Startsilos. Zweitens kann der Hochgeschwindigkeits-Abfänger PRS-1 nur einen nuklearen Sprengkopf verwenden, was die Kampffähigkeiten des A-135 erheblich einschränkt. Eine Nuklearexplosion direkt über der Hauptstadt wäre eine Katastrophe, daher würde niemand das A-135-System nutzen, um ballistische Interkontinentalraketen in unmittelbarer Nähe von Moskau abzufangen. 

Aus diesem Grund sind die neuen Systeme S-550 und Nudol, die sich in der Entwicklung befinden und potenziell zu strategischen Komponenten für die Raketenabwehr werden könnten, mit mobilen und nichtnuklearen Optionen ausgestattet. Dies würde den Einsatz der Systeme auf jedem Schlachtfeld ermöglichen und eine effiziente strategische Raketenabwehr für die Streitkräfte und die Schlüsselinfrastruktur bieten. Russland wird sehr bald in der Lage sein, ein Raketenabwehrsystem in jedem potenziellen Konfliktgebiet einzusetzen. Und die beiden neuen Systeme S-550- und Nudol könnten sowohl als Abschreckungsfaktor als auch als effektive Angriffswaffe dienen.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Michail Chodarjonok ist Militärkommentator für RT.com. Er ist ein Oberst im Ruhestand. Er diente als Offizier in der Hauptdirektion des Generalstabs der russischen Streitkräfte.

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