von Christian Harde
In der jüngsten Migrationskrise überschlagen sich die Nachrichten. Die Macht der Bilder von der weißrussischen Grenze verfehlt nicht ihre Wirkung. Aus der Sicht des Berliner Tagesspiegels ist die Sache völlig klar:
"Wer hier der Schurke ist, lässt sich leicht ausmachen: Alexander Lukaschenko, der autoritäre Herrscher von Belarus, betreibt staatlich organisierten Menschenhandel. Er benutzt Migranten als Waffe, um die EU zu destabilisieren."
Dem Tagesspiegel ist bewusst, vor welchem Dilemma Warschau – und damit die EU – steht:
"Entweder schaffen sie [die Migranten] den gewaltsamen Durchbruch, dann sieht die EU schwach aus. Oder die EU-Grenzer verhindern dies, im Zweifel ebenfalls mit Gewalt. Dann steht die EU als Heuchlerin da, die Werte predigt, aber Brutalität zeigt. Lukaschenko spielt mit unseren Gefühlen und unserem Gewissen."
Allerdings ist die Klemme, in der EU-Europa steckt, größtenteils selbstgemacht – in Brüssel, aber auch in den einzelnen Hauptstädten der EU-Mitgliedsländer, nicht zuletzt von der NATO und ihrer Vormacht jenseits des Atlantiks. Daher lohnt ein Blick zunächst nach Polen, auf das vor allem die Augen der Westeuropäer derzeit gerichtet sind, und auf die Vorgeschichte der jetzigen Krise.
Krise vor der Krise
Bevor die Migrationskrise Fahrt aufnahm, lagen Berlin und Warschau selbst miteinander über Kreuz. Die – wie sie gern genannt wird – nationalkonservative Regierung in Warschau, die vor kaum einer Provokation zurückschreckt, muss man zwar nicht mögen – weder ihren innenpolitischen Kurs noch ihren demonstrativen transatlantischen Gehorsam gegenüber Washington. Die deutsche Kritik an der polnischen Politik wiederum ist weder besonders schlüssig in der Sache, noch wahrt sie den gebotenen Takt gegenüber Warschau, wenn man an das nach wie vor historisch belastete deutsch-polnische Verhältnis und nachvollziehbare Empfindlichkeiten in Polen denkt. Und so verstricken sich Berlin und die Brüsseler EU in unlösbare Widersprüche.
Jedoch blieb es nicht allein bei besserwisserischer Nörgelei der Deutschen gegenüber dem EU-Mitglied im Osten, das noch nicht so lange dem Brüsseler Klub angehört. Die Gemengelage der gegenseitigen Vorwürfe und Anschuldigungen ist so verworren, dass ein kurzer Rückblick auf diesen jüngsten Beziehungskonflikt in der EU angebracht scheint.
Justizreform in Polen
Der momentan etwas in den Hintergrund getretene Streit zwischen Warschau und der EU schwelt mehr als einen Monat – und ein Ende ist nicht absehbar. Die Wurzeln des aktuellen Konflikts liegen in der polnischen Justizreform, die die Regierungspartei PiS seit 2015 durchgesetzt hat. Hauptstreitpunkt ist das System der Ernennung von Richtern, das ausgerechnet in Berlin und anderen Hauptstädten der alten EU-Länder als durch und durch politisch kritisiert wird, als ob man nicht auch in dieser Hinsicht vor der eigenen Tür zu kehren hätte. Der "Fall Harbarth" und die jüngere Rechtsfindungspraxis in Karlsruhe etwa zu den Themen Klima und Corona lassen grüßen – und führen den Deutschen vor Augen, wie politisiert Entscheidungen des eigenen Verfassungsgerichts bisweilen zu sein pflegen.
In Polen kann die sogenannte Disziplinarkammer missliebige Richter und Staatsanwälte entlassen. Die Mitglieder der Disziplinarkammer werden ihrerseits vom Landesjustizrat ernannt, der wiederum nach der PiS-Justizreform 2017 vollständig vom polnischen Parlament, dem Sejm, bestimmt wird.
Der letzte Anlass für die neuerliche Eskalation zwischen Brüssel und Warschau war die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober, Teile der EU-Verträge seien unvereinbar mit der polnischen Verfassung und polnisches Recht habe Vorrang vor EU-Recht.
Das EU-Parlament wiederum sieht im polnischen Urteil einen "Präzedenzfall" und forderte die EU-Kommission am 21. Oktober auf, rechtliche Schritte gegen Polen einzuleiten. Ähnliche Urteile in anderen EU-Ländern wurden vom EU-Parlament nicht kritisiert, was man zwischen Oder und Weichsel sehr wohl registrierte. In den letzten Wochen wurde – fast im Stil westlich administrierter "Farbrevolutionen" – zu Demonstrationen in Polen gegen den Spruch des Verfassungsgerichts ermuntert; besonders tat sich dabei der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk hervor.
Erpressung durch die EU?!
Längst hatte auch die Chefin der EU-Kommission Ursula von der Leyen angekündigt, die Auszahlung von über 23 Milliarden Euro an Polen aus dem EU-Wideraufbaufonds auszusetzen. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof eine Strafe von täglich einer Million Euro verhängt, die Warschau zahlen soll, bis die EuGH-Entscheidung zur polnischen Justizreform umgesetzt ist. Weigert sich Polen, wird Brüssel die entsprechenden Summen von anderen EU-Zahlungen abziehen, die für Warschau bestimmt sind.
Macron verneinte bei einem Gespräch mit Morawiecki vor dem letzten EU-Gipfel, dass es sich um "Erpressung" handele, doch der neue österreichische Bundeskanzler Schallenberg sprach von einer "finanziellen Drohkulisse", die Polen ernst nehmen müsse. Der polnische Justizminister Ziobro hat seinerseits deutlich gemacht, dass Polen "nicht einen einzigen Zloty" nach Brüssel überweisen wird. Der polnische Premier nahm schon das Wort vom "Dritten Weltkrieg" in den Mund. Mehr Kakophonie und Heuchelei sind kaum vorstellbar.
Der Kreis schließt sich
Als sei diese Lage noch nicht verfahren genug, spielt dieser Konflikt in einen anderen hinein, den sich Brüssel in diesem Falle mit Minsk liefert: die Sanktionsspirale gegen den weißrussischen Präsidenten. Hier allerdings steht Warschau an der Seite der EU, und Brüssel ist auf Polen bei seinem Vorgehen gegen Lukaschenko angewiesen.
Der "letzte Diktator Europas" – oder nach neuerer Diktion: der "Machthaber in Minsk", wie man Lukaschenko im Westen seit den Präsidentschaftswahlen vom Sommer 2020, die man nicht anerkennen will, gern nennt – revanchiert sich damit, so in diesem Falle die einhellige Meinung von Paris bis einschließlich Warschau, Flüchtlinge in organisierter Form aus den Krisenregionen der Welt an die EU-Außengrenzen zu schicken.
Nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ursula von der Leyen werfen Lukaschenko "Menschenhandel" vor; sie sprechen – wie der deutsche Innenminister Horst Seehofer und mancher seiner Kollegen in den Bundesländern – seit Tagen von einem "hybriden Angriff".
Dass die Herkunftsregionen der Flüchtlinge wie der Irak, Syrien oder Libyen häufig erst durch westliche (Militär-)Interventionen zu geschundenen Ländern geworden, vielmehr gemacht worden sind, fällt bei den Klagen über den weißrussischen Präsidenten regelmäßig unter den Tisch.
Und schon ist in den Hauptstädten der alten EU die Forderung zu hören, Polen wie auch die baltischen Staaten möchten doch, freilich finanziell unterstützt aus Brüssel, die Migranten aus Weißrussland aufnehmen – und die neue Flüchtlingskrise ("2015 darf sich nicht wiederholen") den Westeuropäern vom Leibe halten. Wenig verwunderlich, dass nun Forderungen laut werden, der seit dem Putsch von 2014 pro-westlich gewendeten Ukraine die Rolle eines Aufnahmelands für die Migranten aus Weißrussland zu zusprechen. So bekommen die EU-Neulinge und diejenigen, die in den Brüsseler Klub erst noch eintreten wollen, die neue Art von 'Souveränität' vorgeführt, wie sie im westlichen Block verstanden wird.
Ende der Heuchelei?
Eigentlich gäbe es eine naheliegende Lösung für Brüssel, wenn sie auch den EU-Eliten nicht schmecken dürfte: Würde man sich von den überheblichen Doppelstandards bei Innen- und Außenpolitik verabschieden, von der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens oder Weißrusslands Abstand nehmen, ließen sich die allermeisten – selbst erzeugten – Konflikte ausräumen. Aber auch Warschau müsste von den geliebten doppelten Standards lassen: Es sieht schlecht aus, sich über Brüsseler Sanktionen zu beschweren, während man selbst neue Sanktionen gegen Moskau im Zusammenhang mit "Nord Stream 2" und der EU-Energiepolitik einfordert.
Die moralische Selbstüberhöhung hat im "alten" wie "neuen" Europa den Blick für die politischen und ökonomischen Realitäten getrübt. Würde man zu den tradierten völkerrechtlichen Prinzipien von Souveränität und Nichteinmischung zurückkehren, hätte die EU noch eine Chance, nicht an nationalen Egoismen und Zwistigkeiten zugrunde zu gehen. Doch schon macht das Wort vom "Polexit" die Runde. Kein Wunder, denn es hat den Anschein, als hätten Berlin und auch Paris nichts aus dem Brexit gelernt – oder den falschen Schluss gezogen, weiterhin, vielleicht sogar "jetzt erst recht" über Brüsseler Bande spielen zu können. Am deutschen Wesen wird die EU jedenfalls nicht genesen.
Wer weiß, vielleicht malt der Tagesspiegel im eingangs erwähnten Artikel den Teufel an die Wand:
"Warum sollten Polen oder Litauen eine EU um Hilfe bitten, die offenkundig nicht weiter weiß? Dann wenden sie sich in Sachen Grenzsicherung eher an die NATO."
So käme möglicherweise zur Kenntlichkeit, was momentan noch durch moralisierenden, selbstgerechten EUropäismus verdeckt wird.
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