Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft hat in seiner jährlichen Pressekonferenz Bilanz über das erste Halbjahr 2021 gezogen und die Kernforderungen an die künftige Bundesregierung formuliert. Der deutsche Außenhandel mit den 29 Staaten Mittel- und Osteuropas nahm gegenüber dem Vorjahr um fast ein Viertel zu und damit stärker als der gesamte deutsche Außenhandel.
"Osteuropa meldet sich als Wirtschaftspartner Deutschlands eindrucksvoll zurück", sagte der Ost-Ausschuss-Vorsitzende Oliver Hermes.
"Der deutsche Produktionsverbund mit Mittel- und Osteuropa leistet dabei einen maßgeblichen Beitrag zur globalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie." Nach jüngsten Angaben der Deutschen Bundesbank hatten deutsche Unternehmen bis Ende 2019 fast 145 Milliarden Euro in Mittel- und Osteuropa investiert und damit gut 1,9 Millionen Arbeitsplätze geschaffen.
Vor diesem Hintergrund sieht sich der Ostausschuss besonders gestärkt, konkrete Kernforderungen an die künftige Bundesregierung zu formulieren. Russland und von Russland mitgetragene Integrationsprojekte wie die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) kommen dabei eine besondere Rolle zu. Wie ein roter Faden zog sich durch den virtuell gehaltenen Vortrag von Hermes der Wunsch, mit Russland eine gemeinsame Zukunft auszugestalten – trotz aller politischer Differenzen.
Gemessen an dem russischen Anteil im gesamten deutschen Handelsumsatz erscheint das auf den ersten Blick unlogisch. Mit 27,7 Milliarden Euro Umsatz im ersten Halbjahr 2021 belegt der deutsch-russische Handel nur den 14. Platz und liegt damit hinter viel kleineren Ländern wie Ungarn, Belgien oder die Niederlande. Dabei gehören elf von dreizehn Ländern, die auf der Liste vor Russland stehen, der EU an plus die Schweiz, mit der die EU seit Langem ein Freihandelsabkommen hat. Die Handelsbedingungen innerhalb der EU kommen im Wesentlichen denen eines Binnenmarktes gleich.
Dieser Vergleich gehört dennoch zum Lieblingsargument der zahlreichen Russland-Skeptiker in der deutschen Politik. Man dürfe Interessen unserer Partner in Mittel-/Osteuropa, mit denen wir viel mehr Handel treiben als mit Russland, nicht vernachlässigen. Insbesondere wird dabei Polen als Beispiel genannt. Dieses Argument kann man oft aus den Reihen der Grünen hören – zuletzt in Bezug auf die Pipeline Nord Stream 2, die Polen als Russlands gegen Europa gerichtete Waffe bewertet.
Das neue strategische Projekt, das der Ost-Ausschuss der künftigen Bundesregierung anbietet, zeigt, wie weit deutsche Wirtschaftsvertreter von solchen konfrontativ gehaltenen Ansätzen entfernt sind. Es kommt einem kompletten Paradigmenwechsel sehr nahe. "Wir brauchen endlich einen geostrategischen Ansatz Deutschlands in der Außenwirtschaftspolitik." Dazu gehöre der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern Mittel- und Osteuropas innerhalb und außerhalb der EU.
Das setzt in erster Linie Verzicht auf Politik der Überlegenheit und Regime-Change-Gedanken voraus. Natürlich formuliert der Ost-Ausschuss das viel diplomatischer und legt dieser Forderung ein wichtiges Argument zugrunde, die darin besteht, wegen den vielen unterbrochenen Produktions- und Lieferketten (globale Entkopplung) nunmehr auf Stärkung der regionalen Kooperation zu setzen.
Unter der eigenen Makroregion, wo Deutschland sich künftig zu Hause fühlen soll, versteht sich der schon auch in der Vergangenheit viel beschworene, aber nicht umgesetzte gemeinsame Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok – dazu später mehr.
"Unsere Leitforderung ist, dass die neue Bundesregierung im Sinne der verantwortungsvollen Koexistenz unterschiedlicher politischer Systeme dem Schreckgespenst des globalen Decoupling entgegenwirkt und multilaterale Ansätze fördert".
Nach einer journalistischen Nachfrage wird der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses Michael Harms präziser. Wir müssten die Unterschiedlichkeit unserer politischen Systeme mit Russland aushalten können, sagt er. Die Felder der gemeinsamen Zusammenarbeit, die auch mit der jetzigen politischen Führung in Russland möglich ist, sind nun groß wie nie zuvor. Dazu kommt auch die Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2 wie gelegen. "Erdgas und seine Infrastruktur bauen eine Brücke in die Welt CO2-freier oder -neutraler Gase wie Wasserstoff", sagte Hermes und fordert:
"Nord Stream 2 darf auch von einer neuen Bundesregierung politisch nicht nachträglich in Frage gestellt werden."
In der Presse werden Russland und die Ukraine oft als untereinander verfeindete Gegner dargestellt, jedoch in der Welt neuer Technologien gleichermaßen als wichtige Partner Deutschlands bezeichnet:
"Russland und die Ukraine haben in unserer unmittelbaren Nachbarschaft das größte Potenzial, Partner für grüne Energie zu werden. Aus diesem Grund begrüßte der Ost-Ausschuss auch die jüngst erzielte deutsch-amerikanische Verständigung über Nord Stream 2 und die jüngsten Besuche von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Moskau und Kiew", sagte Hermes.
Der Klimagedanke lässt auch ein weiteres altes, aber noch nicht vergessenes Projekt in neuen Farben erleuchten. Die neue Koalition solle auch die Idee eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok in Brüssel vorantreiben und um den Aspekt eines gemeinsamen Umweltraums erweitern. "Ein erster konkreter Schritt könnte ein Dialog mit der Eurasischen Wirtschaftsunion über gemeinsame Normen und Standards sein," sagte Hermes. "Wenn wir es nicht tun, werden andere weltweit die Standards setzen – gerade China wird hier zunehmend aktiv."
Damit hat der Ost-Ausschuss noch einmal deutlich gemacht, wen es als Premium-Partner und wen als Konkurrenten sieht. Dabei wird Russland zusätzlich ein spezielles Kapitel in der Wunschliste an die Regierung gewidmet.
So forderte Hermes eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland ganz ausdrücklich. "Die neue Bundesregierung sollte sich in Brüssel weiter für einen EU-Russland-Gipfel einsetzen", sagte er. "Dies wäre ein wichtiges Signal, um auf höchster Ebene ins Gespräch zu kommen." Ohne Russland sei eine Lösung vieler europäischer und internationaler Probleme unrealistisch, egal ob es um Umwelt, Sicherheits- oder Wirtschaftsfragen geht.
"Die Bundeskanzlerin hat mit ihrem Abschiedsbesuch in Moskau ein Zeichen für den Dialog gesetzt – auch an die künftige Bundesregierung", sagte Hermes.
Der Ost-Ausschuss-Vorsitzende hob hervor, dass alle Parteien in ihren Wahlprogrammen eine enge Zusammenarbeit mit Russland beim Klimaschutz für dringend notwendig befinden und diese sogar fordern. "Auf solche Felder gemeinsamer Interessen sollten wir uns wieder stärker konzentrieren", sagte er. Mit angestrebter Annäherung an Russland hat er auch die Meinung der Bürger hinter sich. Laut Umfragen wünschten sich 75 Prozent der Bundesbürger eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland, betonte er.
Laut dem Politexperten und Unternehmensberater Alexander Rahr dürfte der Einfluss des Ost-Ausschusses als Lobbyverband nicht überbewertet werden. Es wehe ein starker Gegenwind, sagte er im Gespräch mit RT DE. Wegen der Sanktionspolitik meiden viele Unternehmer immer noch den russischen Markt. "Außerdem setzen deutsche Unternehmen in China, den USA oder Indien ihre Interessen auch stark durch".
Trotzdem kann laut dem Experten der energische Vorstoß des Ost-Auschusses eine Kehrtwende bedeuten. "Es wird derzeit im Grunde neue Ostpolitik formuliert, wie es Otto Wolff von Amerongen, der legendäre Gründer des Ost-Ausschusses schon einmal gemacht hat".
Es werde versucht, neue Abhängigkeiten zu schaffen, die diesmal nicht auf dem Handel mit fossilen Energieträgern basieren, sondern auf Technologien in den Bereichen Klimaschutz, Umwelt oder Digitalisierung.
"Die Wirtschaftskapitäne spüren, dass die neue Regierung eines Laschet oder Scholz viel pragmatischer in Wirtschaftsfragen handeln wird. Merkel ließ sich viele Jahre gegenüber Russland von einer werteorientierten Politik leiten. Beide Kanzlerkandidaten zeigen wenig Interesse diese Linie fortzusetzen", prognostizierte Rahr. Eine grüne Kanzlerin schloss er derzeit aus.
Auch den Wertestreit der EU mit Ungarn und Polen will der Ost-Ausschuss schnellstens beilegen und warnte vor einer Einmischung vonseiten Brüssels. Der Vorsitzende Hermes verzichtete dabei auf eine politische Stellungnahme und setzte dagegen viel mehr auf Geduld und Vermittlung.
"Angesichts der herausragenden Bedeutung dieser Länder für die deutsche Wirtschaft erwarten wir von der neuen Bundesregierung, dass sie in Brüssel, Warschau und Budapest aktiv vermittelt, um hier eine nachhaltige Lösung zu erreichen." Dabei forderte er von allen Beteiligten Kompromissbereitschaft. Allein in Polen und Ungarn beschäftigen deutsche Unternehmen über 600.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter."
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