"Auf ganzer Linie versagt" – Scharfe Kritik an Evakuierung aus Afghanistan

Das Agieren der Bundesregierung bei der Evakuierung von deutschen Staatsangehörigen und ehemaligen Ortskräften aus Afghanistan stößt auf scharfe Kritik in der politischen Öffentlichkeit. Die Opposition wirft der Bundesregierung eine viel zu späte Reaktion auf die Ereignisse vor.

Eine viel zu späte Reaktion auf die Entwicklung in Afghanistan wirft die Opposition im Deutschen Bundestag der Bundesregierung vor. Das Vorgehen bei der Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und ehemaligen Ortskräften wird heftig kritisiert. 

Die ersten Angehörigen der Deutschen Botschaft in Kabul würden noch "im Laufe des Tages" ausgeflogen, erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Sonntagabend. Zudem sollten am frühen Montagmorgen Transportflugzeuge der Bundeswehr starten, um die Evakuierung der Botschaftsmitarbeiter zu unterstützen. Die Deutsche Botschaft wurde geschlossen und die Mitarbeiter zum militärischen Teil des internationalen Flughafens gebracht. 

Die Taliban hatte am Wochenende weitere Großstädte in Afghanistan erobert und die Hauptstadt Kabul eingekesselt. Am Sonntagabend rückten die Einheiten der Taliban dann in die Hauptstadt ein und besetzten unter anderem den Präsidentenpalast.

Scharfe Kritik von Opposition und SPD

Der FDP-Außenexperte Alexander Graf Lambsdorff erklärte, Außenminister Maas, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) hätten "auf ganzer Linie versagt". Es sei "beschämend", dass die Bundesregierung unfähig gewesen sei, den unterstützenden Ortskräften noch rechtzeitig die Evakuierung zu ermöglichen. 

Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) sagte, dass die afghanischen Unterstützer der Bundeswehr jetzt "in akuter Lebensgefahr" seien. Verteidigungs- und Innenministerium hätten es besser wissen müssen. Die "Evakuierung kommt zu spät", dies sei ein "unwürdiges, gefährliches Ende eines langen, wichtigen Einsatzes", so Pistorius weiter.

Pistorius hatte bereits im Juni erklärt, dass man denjenigen helfen müsse, "aus dem Land rauszukommen, die uns über viele Jahre geholfen haben" Er beklagte, dass die Regeln zur Aufnahme von afghanischen Ortskräften zu restriktiv seien. "Wenn wir nochmal Polizeimissionen ausüben wollen als Bundesrepublik Deutschland, werden wir auch in Zukunft angewiesen sein auf Kräfte vor Ort."

Der Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag, Anton Hofreiter, sagte am Sonntagabend: "Man muss sich fragen, warum die Bundesregierung so überrascht wirkt vom schnellen Vorstoß der Taliban." Die Regierung müsse jetzt ganz schnell handeln. "Es ist unverständlich, warum nicht schon spätestens vor einer Woche Leute aus Afghanistan herausgeholt worden sind mit der Möglichkeit, Visa erst in Deutschland auszustellen."

Jan Korte, der Geschäftsführer der Linken im Bundestag, erklärte: "Wie die Bundesregierung, allen voran Außenminister Maas, bei der Evakuierung deutscher Botschaftsangehöriger, Mitarbeiter von NGOs und afghanischer Ortskräfte dilettiert, ist skandalös und gefährdet Menschenleben. Während andere Länder ihre Angehörigen schon seit Tagen aus Afghanistan ausfliegen, bequemt sich die Bundesregierung erst jetzt, Flugzeuge nach Kabul zu schicken".

Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland sagte: "Die Bundesregierung hat offenbar den Zeitpunkt verschlafen, die deutschen Staatsbürger und die einheimischen Ortskräfte, die für uns gearbeitet haben, rechtzeitig in Sicherheit zu bringen." Notfalls müssten die Deutschen und Afghanen unter dem Schutz der Bundeswehr aus Afghanistan herausgeholt werden.  

Laschet verlangt Luftbrücke aus Afghanistan

CDU-Chef Armin Laschet hat unterdessen eine breit angelegte Luftbrücke der Bundeswehr verlangt, die neben Deutschen und Ortskräften etwa auch Frauenrechtlerinnen aus Afghanistan holen soll. Es sei wichtig, dass die Bundeswehr ihre Luftbrücke so lange wie möglich aufrechterhalte, sagte der Unions-Kanzlerkandidat am Montag beim Eintreffen zu Beratungen der CDU-Spitzengremien in Berlin.

"Diese Luftbrücke darf sich nicht nur beziehen auf Ortskräfte, nicht nur auf deutsche Staatsangehörige, die noch in Afghanistan sind, sondern muss auch aktive Frauen-, Menschenrechtlerinnen, Aktivistinnen, Bürgermeisterinnen und andere umfassen. Das muss im Mandat mit vermerkt sein", sagte Laschet. Das Kabinett will an diesem Mittwoch ein Mandat für den Hilfseinsatz der Bundeswehr beschließen.

Laschet fordert weiter, die Europäische Union (EU) müsse sich darauf vorbereiten, dass es Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa geben könne. Diesmal müsse rechtzeitig in der Region und den Herkunftsländern humanitäre Hilfe geleistet werden. "2015 darf sich nicht wiederholen. Wir brauchen einen geordneten Schutz für die, die Richtung Europa streben." 2015 und in den Folgejahren hatte eine große Migrationsbewegung nach Europa und Deutschland zu einer schweren innen- und sicherheitspolitischen Krise und dem Erstarken der AfD geführt.

Er habe am Morgen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesprochen, sagte Laschet. "Die EU wird in großem Umfang ihre humanitäre Hilfe, die sie jetzt heute schon hat, in der Region verstärken." Es sei wichtig, dass schon in den nächsten Tagen die EU-Außenminister zu einem Sonderrat zusammenkommen, um die Lage zu analysieren. "Wir müssen wissen: Es ist keine Mission Europas. Es ist keine EU-Mission. Sondern es war eine NATO-Mission", sagte Laschet mit Blick auf den Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan. "Dennoch war Europa immer präsent. Und dennoch muss gerade in den humanitären Fragen Europa jetzt auch vor Ort sichtbar werden."

Nach dem Eroberungsfeldzug der radikal-islamischen Taliban bis in die Hauptstadt Kabul wird mit hunderttausenden Flüchtlingen gerechnet, die sich teilweise auf den Weg nach Europa machen könnten. 

Das Bundeskabinett will am kommenden Mittwoch das Mandat für den Einsatz zur Evakuierung beschließen. Darüber unterrichtete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntagabend die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen telefonisch. In der darauffolgenden Woche soll der Bundestag dann beraten und entscheiden.

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(rt/dpa)