Altkanzler Gerhard Schröder über Russlands neue Rolle in der Welt
Kein internationales Problem sei ohne die Einbeziehung Russlands lösbar. Schröder glaubt, Gespräche mit der russischen Führung abzubrechen oder sie durch falsche Maßnahmen noch zusätzlich unter Druck zu setzen, sei der falsche Weg.
Schröder, der auch Aufsichtsratschef von Nord Stream 2 ist, versucht ein realistisches Bild der internationalen Politik zu liefern. (Titel: "Letzte Chance – Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen", DVA, 22 Euro). Der Altkanzler sieht einiges im Argen liegen. Er wolle "aufrütteln". Dabei fordert er dazu auf, dass sich Europa nicht auf die Krisen in China, Russland und Amerika fixieren solle. Man würde dabei nur übersehen, was sich auf der anderen Seite des Mittelmeers abspielt, also sozusagen vor unserer eigenen Haustür.
Die Krisen, Kriege und Katastrophen aller Art und Dimension, die sich seit Jahrzehnten in Zentralafrika, der Sahelzone und in Nordafrika aufbauen, würden uns unmittelbar betreffen. Die Migration Hunderttausender gen Norden sei nicht zuletzt auch eine Flucht vor den Folgen jahrzehntelanger europäischer Kolonialherrschaft. Schröder sieht eine "neue Weltordnung, die auf der einen Seite von den USA beeinflusst wird und auf der anderen Seite durch Asien unter der Führung von China – einer sehr dynamischen Ökonomie."
Europa habe nur eine Chance, wenn es geeint werde, ökonomisch wie auch politisch. Es müsse auch bereit sein, etwa mit den Franzosen militärisch Verantwortung zu übernehmen. Schröder sagte im Gespräch mit den Nürnberger Nachrichten: "Ohne eine europäische Armee wird es nicht gehen." Eine Idee, für die der französische Präsident Emmanuel Macron von Angela Merkel abgebürstet wurde. Schröder meint: "Die Bundesregierung muss offener werden für seine Vorschläge. Was Macron formuliert hat, das ist durchaus diskussionswürdig – mehr Integration in der Euro-Zone, aber eben auch diese militärische Komponente."
Die Euro-Staaten hätten mit der gemeinsamen Währung schon einmal einen beträchtlichen Teil ihrer nationalstaatlichen Souveränität abgetreten. Deshalb plädiert Schröder jetzt dafür, dass Europa noch einmal entschlossen versuchen solle, was 2004 fast gelungen wäre, nämlich eine "Europäische Verfassung" auf die Beine zu stellen, die diesen Namen verdiene. Wenn wir dieses Fundament nicht legten, werde das "gemeinsame europäische Haus" den Stürmen der Gegenwart und der Zukunft nicht standhalten können.
Schröder wörtlich: "Wenn wir es nicht schaffen, im Euro-Raum mehr als nur die Geldpolitik zu koordinieren, sondern endlich auch andere Felder wie die Finanz-, Wirtschafts- und auch die Sozialpolitik, dann werden wir mit der Währung immer Schwierigkeiten haben." Bereits im Heidelberger Programm der SPD von 1925 sei formuliert worden, dass das langfristige Ziel die Vereinigten Staaten von Europa sein müsse.
Schröder wünscht sich mehr Koordination: "Es geht nicht um Gleichmacherei. Die Kultur in Europa etwa muss nicht vereinheitlicht werden, sie lebt von der Vielfalt. Aber in der Ökonomie ist Vielfalt gelegentlich gefährlich."
Schröder meint, die ersten Positionsbestimmungen des neuen US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden würden zeigen, dass sich etwas in die richtige Richtung bewege. Schröder sagt: "Wiedereintritt in die WHO, ins Pariser Klimaabkommen – die Nagelprobe wird das Verhältnis zum Iran sein und zu anderen großen Mächten wie Russland und China." Biden habe nicht schlecht angefangen, aber das dürfe nicht darüber hinwegtäuschen: "America First" bleibt auch unter Biden die Maxime.
Der Ex-Kanzler – und "Putin-Freund" Schröder, wie er in deutschen Medien gerne genannt wird – schreibt, Russland stecke eigentlich immer schon in der Defensive, "sei eigentlich schwach". Über den Fall Nawalny sagt er: "Sein Fall führt zur Frage: Wie soll unser Verhältnis zu Russland künftig sein? Wir brauchen ein partnerschaftliches Verhältnis, keine Neuauflage des Kalten Krieges. Denn kein internationales Problem ist ohne die Einbeziehung Russlands lösbar." Und Schröder weiter:
"Gegenseitige Sanktionen helfen da nicht. Was wir stattdessen brauchen, sind politische Veränderungen auf beiden Seiten. Und das geht nur über Dialog."
Man müsse dem russischen Sicherheitsbedürfnis Rechnung tragen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion sei auch ein militärischer und politischer, wirtschaftlicher und weltanschaulicher Triumph des Westens über die Sowjetunion gewesen, über ihr Imperium und ihren Militärpakt. Wie sich das aus russischer Sicht darstellt, liege ja wohl auf der Hand. Schröder: "Das müssen wir ernst nehmen."
Regimes, die sich in die Ecke gedrängt fühlen, reagierten nicht selten irrational oder auch durch eine Flucht nach vorn. In dieser Situation das Gespräch mit der russischen Führung abzubrechen oder sie durch falsche Maßnahmen zusätzlich unter Druck zu setzen, sei der falsche Weg.
Gerhard Schröder sieht neben dem politischen Aspekt auch ökonomische Gründe:
"Die Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Export ab. Mit wem sollen wir aber Handel treiben? Ich lese und höre: Mit Russland nicht. Mit Saudi-Arabien nicht wegen des brutalen Mordes an einem Regimekritiker. Mit China nicht, weil das nicht unser System ist. Ich frage mich: Mit wem denn dann? Wir müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Wer glaubt, man könne Länder wie Russland oder China mit Sanktionen zu einer veränderten Politik zwingen, der irrt."
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