Was steckt hinter dem Schlagabtausch zwischen Erdoğan und Macron?
von Dennis Simon
Nach dem Wortgefecht zwischen den Präsidenten der Türkei und Frankreichs gleichen die Beziehungen zwischen beiden Staaten einem Scherbenhaufen. Es dürfte Jahre dauern, ehe wieder ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen und Respekt geschaffen werden kann. Zuletzt zitierte das türkische Außenministerium den Geschäftsträger der französischen Botschaft in Ankara zu sich – der Botschafter selbst wurde von Paris vor mehreren Tagen aus Protest gegen die Angriffe des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan auf Emmanuel Macron abgezogen. Mit diesem Schritt wollte die türkische Regierung gegen die Veröffentlichung von Erdoğan-Karikaturen durch die französische Zeitschrift Charlie Hebdo protestieren. Wie konnte es zu diesem Punkt kommen, und was steckt hinter den gegenseitigen rhetorischen Watschen? Um das zu erklären, muss einerseits der historische Hintergrund, vor dem sich der Streit abspielt, betrachtet und müssen andererseits aktuelle innen- sowie außenpolitische Faktoren untersucht werden.
Frankreich gehört zu jenen europäischen Staaten, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein Kolonialreich in überwiegend muslimischen Regionen aufbauten. Zu den von Frankreich verwalteten Gebieten gehörten unter anderem Algerien, Tunesien, Syrien und der Libanon. Wie andere europäische Kolonialmächte ging Paris gegen Widerstand der Einheimischen nicht zimperlich vor, etwa in Algerien, das Frankreich für mehr als 130 Jahre regierte, von 1830 bis 1962. Hier begingen die französischen Besatzer zahllose Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen und andere Verbrechen, vor allem während des Algerischen Unabhängigkeitskrieges ab 1954. Im Zuge der gewaltsamen Unterdrückung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung starben Hunderttausende Algerier.
Auch in Syrien, das Frankreich vom zerfallenden Osmanischen Reich erbeutet hatte, hinterließen französische Soldaten Blutspuren, etwa bei der Niederschlagung eines großen Aufstandes Mitte der 1920er-Jahre. Im Nahen Osten ist das geheime Sykes-Picot-Abkommen von 1916, mit dem sich die beiden imperialistischen Mächte Frankreich und Großbritannien die Region ohne Rücksicht auf die Wünsche der dortigen Menschen aufteilten, unvergessen. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg besetzte Frankreich vorübergehend auch Teile der Türkei. Erst durch bewaffneten Widerstand konnte Paris zur Räumung der türkischen Gebiete bewegt werden.
Während Frankreich den Anspruch hatte, ein aufgeklärter, zivilisierter Staat zu sein, prägte sich den Einwohnern des Nahen Ostens und des Maghrebs aufgrund dieser brutalen Kolonialpolitik dauerhaft ein negatives Bild ein. Macrons Äußerungen zum Islam oder die französische Außenpolitik im Maghreb und im Nahen Osten allgemein werden von den Einwohnern dieser Gebiete vor diesem Hintergrund bewertet. Erdoğan ist sich dessen freilich bewusst und nutzt das in seiner Rhetorik geschickt aus, um sich als Verteidiger des Islams und antiimperialistischer Kämpfer auszugeben. Somit versucht er, auch die Regierungen jener arabischen Staaten unter Druck zu setzen, mit denen sich die Türkei in letzter Zeit aufgrund von Konflikten um Einflusssphären im Nahen Osten verfeindete. Diese historischen Begebenheiten müssen berücksichtigt werden, um die aktuelle rhetorische Auseinandersetzung Macrons und Erdoğans richtig einordnen zu können.
Wie kam es nun zu diesem Streit? Die neueste Runde der Zankereien zwischen Ankara und Paris begann nach dem Mord des französischen Lehrers Samuel Paty, der seiner Klasse umstrittene Karikaturen Mohammeds gezeigt hatte. Als Reaktion darauf kündigte Macron an, "die Aktionen gegen den islamistischen Extremismus im Land" zu intensivieren. Als Teil dieser Kampagne gegen den "islamistischen Separatismus" gab Paris bekannt, eine Pariser Moschee zu schließen. Zudem verteidigte Macron das Veröffentlichen religiöser Karikaturen. Am letzten Wochenende griff Erdoğan die Politik der französischen Regierung und insbesondere Macron persönlich massiv an. Angesichts seiner angeblich antiislamischen Politik müsse der Geisteszustand des französischen Präsidenten überprüft werden. Macron sei überheblich, wenn er die Neustrukturierung des Islams fordere. Erdoğan hatte bereits wiederholt den westlichen Staaten vorgeworfen, eine muslimfeindliche Politik zu verfolgen.
Es ist fraglich, inwiefern es Macron und Erdoğan wirklich um die vordergründige Debatte um den Islam geht. Denn zwischen beiden NATO-Staaten tobt seit Jahren ein eiskalter Machtkampf um Einfluss im Mittelmeer, in Afrika und im Nahen Osten. In Libyen setzt Paris auf den Feldherrn Chalifa Haftar, der sich gegen den politischen Islam positioniert und sich somit zum Feind der türkischen Regierung gemacht hatte, die eng mit der islamistisch-ausgerichteten international anerkannten libyschen Regierung in Tripolis verbündet ist. Während die Türkei islamistische Söldner aus Syrien nach Libyen brachte, um auf der Seite der Tripolis-Regierung gegen den Vormarsch der Haftar-Truppen auf die libysche Hauptstadt im letzten Jahr zu kämpfen, hatte Frankreich die Armee Haftars heimlich – trotz eines UN-Waffenembargos – unterstützt, um unter anderem die Interessen von französischen Petrochemiekonzernen in Libyen zu wahren. Neben Frankreich unterstützten beispielsweise auch die Vereinigten Arabischen Emirate Haftar, die sich ebenfalls in einem geopolitischen Konflikt mit der Türkei befinden. Die französische Unterstützung gelangte im Jahr 2016 mit dem Tod von drei französischen Spezialkräften aufgrund eines Helikopterunfalls an die Öffentlichkeit.
Aufgrund ihrer Differenzen gerieten die Militärs beider Staaten beinahe in einen Konflikt: Im Sommer dieses Jahres beschuldigte Frankreich die türkische Marine, vor der Küste Libyens auf ein französisches Kriegsschiff gezielt zu haben – was Ankara dementierte. Nach dem Scheitern der Haftar-Offensive, das nicht zuletzt der türkischen Intervention zu geschuldet ist, musste Macron um Sommer dieses Jahres erklären, dass Frankreich mittlerweile im Libyen-Konflikt eine neutrale Haltung verfolgt und den UN-unterstützen Friedensplan voll unterstützt.
Syrien ist ein weiterer Staat, in dem die gegensätzlichen Interessen Frankreichs und der Türkei aufeinanderprallen. Ursprünglich unterstützten beide Staaten die islamistischen Rebellen der sogenannten Freien Syrischen Armee gegen die legitime Regierung in Damaskus. Doch nachdem es um die Erfolgschancen dieser Gruppe zunehmend schlechter stand, setzte Paris vor allem auf eher säkular ausgerichtete kurdische Kräfte im Nordosten Syriens, die Ankara als Schwesterorganisation der in der Türkei und in vielen europäischen Staaten als Terrororganisation verbotenen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) betrachtet. Die türkische Regierung baute dagegen ihren Einfluss auf die diversen islamistischen Gruppen aus und forcierte die Gründung der sogenannten Syrischen Nationalarmee im Jahr 2017, mit deren Hilfe sie anschließend mehrere vorher von den Kurden kontrollierte Gebiete in Syrien besetzte.
Auch im Streit um die Erdgasreserven im östlichen Mittelmeer positionierte sich Paris gegen die Türkei. Frankreich unterstützt die Ansprüche Griechenlands und der zyprischen Regierung, die sich mit jenen Ankaras überlappen. Ankara entsendet in die umstrittenen Meeresgebiete regelmäßig Erdgasforschungsschiffe, was Athen und Nikosia als Provokationen auffassen. Nach dem oben erwähnten Vorfall vor Libyen entsandte der französische Präsident Mitte August zwei Kampfflugzeuge und eine Fregatte in das östliche Mittelmeer – ein klares Signal an Ankara. Offenbar meint man in Paris, dass Erdoğan nur die Sprache der Macht versteht.
Ganz selbstlos ist Frankreichs Unterstützung für Griechenland freilich nicht; Athen möchte sechs neue und zwölf gebrauchte französische Kampfflugzeuge des Typs Rafale kaufen. Berichten zufolge belaufen sich die Kosten auf zwei Milliarden Euro. Im letzten Jahr unterzeichneten Frankreich und Griechenland Verträge im Wert von etwa einer Viertelmilliarde Euro zur Instandhaltung der griechischen Mirage-2000-5-Kampfflugzeuge, die ebenfalls aus französischer Produktion stammen. Athen kauft seit Anfang der 1970er-Jahre regelmäßig Kampfjets von Frankreich. Zusätzlich soll laut Medienberichten eine langfristige Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten auf dem Gebiet des Marinesektors in Planung sein.
Der gegenseitige Schlagabtausch ist aber auch innenpolitisch für beide Akteure wichtig. Die türkische Wirtschaft leidet stark unter der Abwertung der Lira. Die türkische Währung verlor seit Beginn des Jahres etwa ein Viertel ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar. Bereits in den Jahren zuvor hatte die Lira erhebliche Kurseinbußen zu verzeichnen. Die Türkei ist auf den Import von Waren angewiesen, sowohl zum direkten Konsum als auch als Grundlage für die weiterverarbeitende Industrie. Daher hat das eine direkte Auswirkung auf die wirtschaftliche Stabilität. Zudem sind viele türkische Unternehmer in US-Dollar verschuldet. Für sie sind solche Kursverluste eine existenzielle Bedrohung. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sorgen dafür, dass Erdoğans Regierungspartei, die AKP, ihren Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Laut dem Direktor des regierungsunabhängigen Meinungsforschungsinstituts Metropoll Özer Sencar rutschte die AKP unter die 30-Prozent-Marke.
Auch die Corona-Performance der AKP-Regierung ist vernichtend. Über Monate gab die Regierung nur einen Bruchteil der wirklichen Corona-Infizierten bekannt, wie sie später gestehen musste. Mittlerweile wurden mehr als 10.000 Tote registriert – Regierungskritiker gehen jedoch davon aus, dass die wirkliche Zahl weitaus höher ist, da viele Corona-Tote nicht als solche gemeldet werden. Insbesondere in der Metropole Istanbul ist die Zahl der Neuinfektionen dramatisch, wie der türkische Gesundheitsminister vor wenigen Tagen einräumen musste. Indem sich Erdoğan als Verteidiger der unterdrückten Muslime inszeniert, hofft er, von dem drohenden innenpolitischen Desaster abzulenken.
Frankreichs Präsident Macron hat ebenfalls genug Gründe, von seiner eher bescheidenen innenpolitischen Bilanz mit außenpolitischen Abenteuern ablenken zu wollen. Er hatte sich während seiner Wahlkampagne als fortschrittlichen Reformkandidaten präsentiert. Aber als es Zeit war, konkrete Schritte zu unternehmen, präsentierte er ein durch und durch neoliberales, antisoziales Programm, das die Gelbwestenbewegung auslöste. Hunderttausende demonstrierten monatelang gegen die Macron-Agenda. Seine Zustimmungsrate sank Ende November 2018 auf etwa 25 Prozent. Auch Frankreich leidet sehr unter der Corona-Pandemie.
Wenn sich also Macron und Erdoğan das nächste Mal gegenseitig mit Vorwürfen und sogar Beschimpfungen bewerfen, dann sollte im Hinterkopf behalten werden, dass hinter dieser Show auf beiden Seiten eine eiskalte Machtpolitik steckt.
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