Deutschland

"Wo landen wir da?" – Bundesärztekammerpräsident kritisiert Krisenmanagement der Bundesregierung

Der Präsident der Bundesärztekammer hat in deutlichen Worten die Bundesregierung kritisiert. Die Versorgung mit Schutzmasken sei unzureichend, die Vorbereitung auf die Pandemie mangelhaft. Die verordnete Stilllegung des öffentlichen Lebens hält der Mediziner für falsch.
"Wo landen wir da?" – Bundesärztekammerpräsident kritisiert Krisenmanagement der BundesregierungQuelle: AFP © / Odd Andersen

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, hat in einem vertraulichen Schreiben an Gesundheitsminister Jens Spahn das Krisenmanagement der Bundesregierung in der Corona-Epidemie scharf kritisiert. Das sogenannte Morning Briefing des früheren Handelsblatt-Herausgebers Gabor Steingart zitierte am Mittwoch ausführlich aus dem Papier, das in Kopie auch an das Kanzleramt ging.

Reinhardt kritisiert vor allem die schlechte Vorbereitung auf die Pandemie, die sich für ihn insbesondere in der unzureichenden Verfügbarkeit von Schutzmasken und Schutzbekleidung zeigt. In dem Schreiben heißt es:

Wir möchten an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass die zuletzt über die zentrale Beschaffung zur Verfügung gestellten Mengen an Schutzmasken in keiner Weise ausreichend sind.

Ambulant arbeitende Ärzte und Pfleger seien seit Wochen ohne angemessenen Schutz. Pflegekräfte besuchten ihre Patienten meist zu Hause und bewegten sich so ungeschützt "unter der am stärksten vom Risiko eines tödlichen Verlaufs behafteten Patientengruppe". Weiter heißt es:

Hausärzte, die in ihrer Praxis täglich mit unter Umständen infizierten Patienten gezwungenermaßen ohne Schutzmasken Kontakt haben, müssen gleichwohl die normale Versorgung von zahlreichen Altenheim-Patienten gewährleisten. Der Fall einer Ketteninfektion in einem Altenheim in Würzburg mit neun Toten ist ein warnendes Beispiel.

Im Gespräch mit Steingart verschärfte der Präsident der Bundesärztekammer seine Kritik noch. Er sagte:

Ich muss ehrlich sagen: Das erschließt sich mir nicht, dass wir darauf nicht vorbereitet waren.

Er habe aus der Ärzteschaft die Rückmeldung erhalten, dass kein Schutzmaterial mehr vorhanden und zu beschaffen sei. Es sei "einfach vom Markt verschwunden".

Reinhardt sprach sich auch gegen die von der Regierung verordnete Stilllegung des öffentlichen Lebens aus, den sogenannten Shutdown:

Wenn wir all diese Maßnahmen, die wir jetzt ausgesprochen haben, weiterführen, mit ihren Auswirkungen auf Wirtschaft, Psychologie der Menschen, soziales Miteinander und alles, was dazugehört, dann frage ich mich, wo landen wir da?

Statt der bereits diskutierten Ausgangssperre sprach sich Reinhardt für eine Isolierung der am meisten gefährdeten Gruppen der Bevölkerung aus. Ältere und vorbelastete Menschen sollten ausfindig gemacht und besonders geschützt werden:

Aber ich bin dafür, dass wir die nächsten Wochen nutzen, eine sehr saubere Stratifizierung zur Stabilisierung der Risikogruppen vorzunehmen anhand der existierenden Daten. Und zwar aller Daten, die wir zur Verfügung haben.

Diese Gruppen sollten in verschiedene Kategorien und Risikoklassen eingeteilt werden, für die unterschiedliche Schutzmaßnahmen vorgesehen werden müssten. Gleichzeitig sollte behutsam damit begonnen werden, wieder soziales Leben und wirtschaftliche Aktivitäten zuzulassen.

Die Kritik des Präsidenten der Bundesärztekammer an der Bundesregierung ist bemerkenswert, weil er der Regierung gleichzeitig vorwirft, zu wenig und zu viel zu tun. Zu wenig in der Vorbereitung und der Bereitstellung von Schutzmaterial. Der Mangel an diesem ist für ein Land wie Deutschland mit seiner entwickelten Chemie- und Maschinenbauindustrie ohnehin kaum nachzuvollziehen.

Zum anderen kritisiert Reinhardt den Shutdown faktisch als Überreaktion, der aus medizinischer Sicht nicht zielführend ist und erhebliche soziale und wirtschaftliche Schäden anrichtet.

Mit seiner Kritik stellt sich Klaus Reinhardt gegen den politisch-medialen Mainstream, allerdings steht er nicht allein. Erst vor wenigen Tagen hatte sich der Finanzmanager und gelernte Mediziner Alexander Dibelius in einem Handelsblatt-Interview gegen den Kurs der Regierung positioniert:

Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden, mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert? Das Ganze dann wiederum mit dem ebenfalls nicht kleinen Risiko, dass die angestrebte gesundheitliche Zielsetzung noch nicht einmal erreicht wird?

Dibelius sprach auch die anlässlich der Pandemiebekämpfung eingeschränkten Freiheitsrechte an:

Da findet gerade ein wahnsinniges soziales und gesellschaftspolitisches Experiment statt: Jahrhundertelang haben wir auf allen Ebenen für unsere individuelle Freiheit gekämpft, für Gesetze und Menschenrechte. Und auf einmal wird vieles davon einfach so quasi über Nacht weggewischt.

Der ohne Diskussion umgesetzte und moralisch begründete Shutdown von Wirtschaft und Gesellschaft ängstige ihn mehr als die Virusinfektion. Dibelius sieht die Errungenschaften der Aufklärung in Gefahr. Das Land könne künftig leicht durch jeden in Geiselhaft genommen werden, der mit genug Führungsanspruch auftritt und seine Ideen lang genug als alternativlos postuliere. Jedes dieser Person opportun erscheinende Ziel könne auf diese Weise durchboxen.

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