"Staat handelt fahrlässig" – Steuerexperte Spengel zu milliardenschweren Steuerbetrugsskandalen
Immer wieder wird der Fiskus von Finanzakteuren um gigantische Summen geprellt. Auf "Cum-Ex", einen der größten Steuerbetrugsskandale der Bundesgeschichte, folgte "Cum-Cum" und darauf "Cum-Fake".Jüngsten Berichten zufolge war das Bundesfinanzministerium bereits vor Jahren vor den Risiken der Cum-Fakes gewarnt worden, hat diese Warnungen aber einerseits nicht als solche angesehen und andererseits offenbar verschleiert.
Was dem durchschnittlichen Steuerzahler unfassbar erscheint, hat RT Deutsch mit Christoph Spengel besprochen. Spengel ist Professor für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre der Universität Mannheim und war Sachverständiger und einziger Gutachter im Untersuchungsausschuss zu den Cum-Ex-Geschäften. Aufgrund seiner besonderen Expertise bezüglich des internationalen Systems des komplexen Steuerbetrugs mit Aktientransaktionen ist Professor Spengel zu Beginn dieses Jahres in den Wissenschaftlichen Beirat des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK) berufen worden.
Nach jüngsten Medienberichten war das Bundesfinanzministerium bereits weitaus früher als bisher bekannt über den Betrug mit Phantom-Aktien gewarnt worden, der als "Cum-Fake" bezeichnet wird. Welcher Schaden ist dadurch entstanden? Es heißt, bei Cum-Ex seien es bereits knapp sechs Milliarden und bei Cum-Fake nochmals eine hohe dreistellige Millionensumme gewesen.
Der Schaden durch "Cum-Fake" wurde im vergangenen Jahr bekannt durch die Presse, demnach handelt es sich um Summen in Höhe von 300 bis 400 Millionen Euro. Das Bundesfinanzministerium selbst hat keine weiteren Erkenntnisse, ob es mehr als die auf diesem Weg bekannt gewordenen Fälle gibt, da keine Kontroll- und Informationssysteme Erkenntnisse darüber zulassen.
Im Untersuchungsausschuss zu "Cum-Ex" wurden Daten der Deutschen Börse herangezogen, wonach aus aggregierten Daten allein für die Jahre 2005 bis 2011 eine Summe von 7,2 Milliarden an Verlust entstanden ist. Allerdings sind dies Nettobetrugssummen aus aggregierten Daten, denen nicht zu entnehmen ist, ob es in diesen Jahren weitere unrechtmäßige Erstattungen gegeben hat, und sie beziehen sich lediglich auf sechs Jahre. Die mitunter in Medienberichten genannten Schadenssummen in Höhe von zehn bis zwölf Milliarden Euro beruhen auf Schätzungen, es gibt dazu keine Belege. Der konkret entstandene Schaden dürfte vermutlich darüber liegen.
War oder ist das Bundesfinanzministerium Ihrer Ansicht nach zu nachsichtig oder gar kooperativ bei diesen Mechanismen?
Wie erwähnt, gibt es bis heute kein effektives Kontroll- und Informationssystem. Das System ist bis heute sehr betrugsanfällig. So können Kapitalertragserstattungen auf digitalem Wege weiterhin ohne Nachweis einer Steuerbescheinigung bezogen werden.
In Medienberichten mit Bezug auf Aussagen des BMF hieß es, dass es diese Möglichkeit des digitalen Erstattungsverfahrens nicht mehr geben soll, um dem Betrug vorzubeugen.
Das elektronische Antragsverfahren gibt es weiterhin, und zwar bis heute. Dies ist eine offene Lücke, die dem Bundesfinanzministerium bekannt ist. Die bei Cum-Fake missbrauchten Abrechnungssysteme sind weiterhin durchlässig, da auf die Steuerbetrugsskandale gar nicht reagiert wurde. Wir sprechen hier von der Auszahlung von Beträgen, für die nie etwas eingezahlt wurde. Bereits 2016 kam man durch den U-Ausschuss zu Cum-Ex zu durchaus erschütternden Erkenntnissen. Aber darauf wurde nie reagiert.
Wie könnten solche Betrugsfälle denn vermieden werden, und woran scheitert dies in Deutschland? Sieht die EU tatenlos zu?
Zum einen gibt es keinerlei Datenabgleich zwischen den für Einnahme und Auszahlung von Steuern zuständigen Landes- und Bundesbehörden. Und es ist die Verantwortung des Bundesfinanzministers, hier zu handeln. Denn bereits in den frühen 2000er-Jahren haben Journalisten die Mehrfachauszahlungen von Steuern aufgedeckt. Dass seither nicht wirklich etwas passiert ist, ist fahrlässig. Die EU kann ihren Mitgliedsstaaten dahingehend nichts vorschreiben. Im November 2018 hat das Europäische Parlament Empfehlungen gegeben, unter anderem für die Einrichtung einer europäischen Kapitalmarkaufsicht sowie einer entsprechenden Strafverfolgungsbehörde, schließlich sind einige Akteure in mehreren Ländern tätig gewesen. Aber mehr als Empfehlungen und Berichte gibt es nicht, und das Parlament kann ja auch nichts verordnen.
Im November des vergangenen Jahres plante Bundesfinanzminister Scholz die Einrichtung einer speziellen "Task Force gegen Steuergestaltungsmodelle am Kapitalmarkt",angeblich mit dem Ziel, derartigen Skandalen Einhalt zu gebieten. Ist das nicht ein erster Schritt?
Das ist schwer zu glauben, dazu braucht man nicht 50 Mann. Ab 2020 gibt es eine Meldepflicht für "Steuergestaltungsmodelle" – aber das heißt, dass Steuerskandale weiterlaufen können, denn Steuerbetrug ist ja keine "Steuergestaltung", sondern illegal, wohingegen unter Steuergestaltung beispielsweise die Unterhaltung einer Finanzierungsgesellschaft oder anderer Geschäfte aufgrund der Steuervorteile in den Niederlanden fällt, was an die Finanzämter gemeldet werden muss und dann vom Bundeszentralamt für Steuern zentral ausgewertet wird.
Warum ändert das Bundesfinanzministerium nichts, und was sollte es Ihrer Ansicht nach konkret machen?
Warum nicht gehandelt wird, kann ich nicht sagen, das ist ja so erschütternd. Man kann das sehr einfach lösen, wenn man möchte. Zum einen gehören kurzfristig, das heißt sofort, die erwähnten offenen Flanken, dass also ohne Vorlage einer Bescheinigung Steuererstattungen beantragt werden können, abgeschafft. So etwas kann nicht sein, die Problematik ist offensichtlich. Zum anderen muss ein Frühwarnsystem eingeführt werden, das bei verdächtigen Erstattungen oder An- und Verkäufen von Aktien um den Termin der Dividendenzahlung eine unrechtmäßige Auszahlung der Kapitalertragsteuer unterbindet. Schließlich muss die Gesetzgebung dahingehend geändert werden, dass Geschäfte im Fall von Cum-Cum nicht mehr möglich sind, dies ließe sich durch einen Federstrich erreichen, indem Wertpapierleihgebühren und Veräußerungsgewinne ebenso wie Dividenden steuerpflichtig gemacht werden.
Danke für das Gespräch!
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