"Schwerstwiegende Grundgesetz-Verletzungen" – Ex-Staatsanwalt (Teil 2)
Hans Bauer war ab dem Jahr 1966 als Staatsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik tätig. Er diente auf verschiedenen Ebenen in staatlichen Strukturen der DDR. Im Umbruchsjahr 1989 wurde er zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt ernannt. Während seiner Dienstzeit als Staatsanwalt war er ein Jahr in das Außenministerium abgeordnet. Dort arbeitete er zu Menschenrechtsfragen. Später, in den 1980er Jahren, wirkte er über mehrere Jahre als Berater in der Volksdemokratischen Republik Jemen. Dort half er mit, die südjemenitische Staatsanwaltschaft aufzubauen.
Sein Spezialgebiet ist die Kriminalitätsforschung, insbesondere die Kriminalitätsvorbeugung. Im Frühling des Jahres 1991 wurde er dann arbeitslos. Nach der Übernahme der DDR durch die BRD erhielt er im Jahr 1992 die Zulassung als Rechtsanwalt und ist seitdem als Anwalt tätig. Im Jahr 1993 wirkte er führend bei der Gründung der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung mit, die sich um Solidarität mit den nach 1990 von der westdeutschen Justiz verfolgten DDR-Vertretern bemüht, und er ist seit 2005 deren Vorsitzender.
Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.
Wenn man sich die Geschichte der BRD anguckt, wurden die im Grundgesetz festgeschriebenen Normen weitgehend beachtet?
Die Normen sind so allgemein gefasst, dass man aus ihnen alles machen kann. Wenn im ersten Artikel steht, die Würde des Menschen ist unantastbar, kann dem natürlich jeder zustimmen. Wenn man die juristischen Kommentare zur Frage liest, was die Würde des Menschen alles umfasst – dazu gehört eben, dass er leben kann, Arbeit hat, ein soziales Minimum hat, dass er geachtet und nicht verunglimpft wird. Wenn man die umfangreiche Rechtsprechung anschaut, auch des Bundesverfassungsgerichts, das ja die Einhaltung des Grundgesetzes kontrollieren soll, wird begründet, dass das Grundgesetz die beste Verfassung ist, die man sich vorstellen kann. Das Grundgesetz wird ja auch als die mustergültigste oder beispielhafteste Verfassung der Welt bezeichnet.
Konkret gesehen aber wurde das Grundgesetz an vielen Stellen immer wieder verletzt. Heute umso mehr. Zum Beispiel die freie Berufswahl: Jeder hat das Recht, seinen Beruf frei auszuwählen. Das klingt wunderbar. Was nutzt ein Berufswahlrecht, wenn ich die Ausbildung organisieren muss? Das kostet Geld. Ich kann im Prinzip alles werden. Ich kann mich überall bewerben. Das muss ich aber irgendwie bezahlen, ganz abgesehen vom Numerus Clausus. Da fängt es schon an, dass ich die freie Berufswahl eigentlich auch praktisch realisieren können muss. Die freie Berufswahl muss mir ja irgendwo auch praktisch für meinen Gelderwerb nutzen können.
Bei solchen einfachen Sachverhalten fangen schon die Verletzungen des Grundgesetzes an. Und die Verletzungen enden dort, dass etwa im Grundgesetz steht, Streitkräfte sollen zur Landesverteidigung dienen, inzwischen aber die Bundeswehr seit Anfang der 1990er Jahre international Kriege führt, etwa in Jugoslawien, oder indirekt, etwa im Irak. Es geht also längst nicht mehr um Verteidigung, sondern die Bundesrepublik führt weltweit Angriffe. Das sind schwerste Verletzungen des Grundgesetzes.
Im sozialen Bereich auch. Was ist ein sozialer Rechtsstaat? Die Tatsache, dass es eine große Schere zwischen Arm und Reich gibt, dass es über eine Million Dollar-Millionäre gibt, aber ein Großteil der Bevölkerung am Existenzminimum nagt oder die hunderttausenden Obdachlosen, davon zehntausende Minderjährige. Das hat doch mit einem sozialen Rechtsstaat nichts zu tun. Das sind schwerstwiegende Verletzungen des Grundgesetzes. So kann man Regel für Regel, Norm für Norm durchgehen.
Noch ein Punkt, der ehemalige DDR-Bürger betrifft: Die Ausgrenzung von Mitgliedern der ehemaligen Sicherheits- und Justizorgane der DDR. Im Prinzip sind das Berufsverbote. In der BRD selbst gab es das schon in den 1970er und 1980er Jahren. Bis heute bestehen sie weiter, obwohl man sie nicht mehr so bezeichnet. Es sind aber Berufsverbote.
Kommen wir zu einem aktuellen Fall: Derzeit berät das Bundesverfassungsgericht über die Hartz-IV-Sanktionen. Wäre Vergleichbares in der DDR denkbar gewesen?
Es ist mir nicht bekannt. Fragen der Arbeitslosigkeit spielten in der DDR gar keine Rolle, auch nicht in der Öffentlichkeit. Es gab Arbeitsämter, die Arbeit vermittelten. Im Ausnahmefall mussten auch einige ihre Tätigkeit aufgeben. In einigen krassen Fällen kündigten Betriebe die Arbeitsverhältnisse. Aber das war schon eine große Ausnahme. Diese Personen bekamen dann aber tatsächlich wieder eine neue Arbeit. Es waren echte Arbeitsämter, wo Arbeitslose dann auch wieder Arbeitsplätze erhielten. Dass jemand gar keine Mittel mehr hatte, diese drakonischen Vorschriften wie die Hartz-IV-Sanktionen, das gab es nicht. Wir suchten Arbeitskräfte. Arbeitslosenrate – wir haben mit solchen Zahlen gar nicht agiert, da sie keine Rolle spielten. Dass jemand fast am Verhungern war, weil er bestraft wurde, das gab es nicht. Das war nicht nur strengstens verboten, sondern auch in unseren Köpfen undenkbar.
Man muss natürlich auch sagen, dass nicht jeder das werden konnte, was er wollte. Im Sozialismus wurde versucht, zu organisieren, zu schauen, wie der Bedarf ist. Nach dem Bedarf wurde sowohl die Produktion ausgerichtet als auch der Einsatz von Arbeitskräften, von Fachleuten und Spezialisten. Demzufolge wurden nur so viele ausgebildet, wie ungefähr auch der Bedarf war. Wo eine Wirtschaft nach einem Gesamtplan organisiert wird, dort werden natürlich auch gewisse Grenzen gesetzt. Das finde ich auch völlig normal.
Ich kenne mehrere Kollegen, die aus der Justiz in die Wirtschaft gingen und dort als Justiziare tätig waren. Selbst jene, die bestraft wurden, wenn zum Beispiel Wissenschaftler aus politischen Gesichtspunkten als nicht für die Lehre tragbar eingeschätzt wurden, dann gingen sie in die Forschung. Es gibt auch prominente Beispiele dafür. Wer ohne Arbeit war, bekam eine Arbeit entsprechend seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten zugewiesen. In der DDR ist niemand auf der Straße gelandet, wie es heute gang und gäbe ist.
Wenn wir zwei konkrete Rechtsbereiche vergleichen, nämlich die Rechte von Homosexuellen und die von Frauen, und gucken, wie sich die Situation jeweils in der BRD und in der DDR entwickelt hat, welche Bilanz wäre zu ziehen?
Der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches wurde in der DDR sehr schnell abgeschafft. Als ich als Staatsanwalt anfing, Mitte der 1960er Jahre, wurde dieser Paragraph schon nicht mehr angewandt. Nur sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen waren noch strafbar. Die Abschaffung des Paragraphen 175 war etwas, was die Arbeiterbewegung schon in den 1920er Jahren und früher auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Verglichen mit der Bundesrepublik Deutschland war die Situation wie Schwarz und Weiß. Allerdings war das Denken der Menschen auch noch nicht so weit. Das Gesetz war das eine, das andere die Begrüßung oder das Einverständnis mit dessen Wegfall in der Bevölkerung. Wir wissen, dass das durchaus ein Prozess war, der lange Zeit andauerte und ein Tabuthema betraf.
Die Bundesrepublik Deutschland hat keinen Grund, mit Verachtung auf andere Staaten zu schauen, wo Homosexualität noch strafbar ist. Sie selbst hat viele, viele Jahrzehnte gebraucht, um zur Nicht-Strafbarkeit zu kommen.
Ähnlich verhält es sich mit den Rechten der Frauen. Dort sind die Unterschiede zwischen der BRD und DDR eigentlich noch größer. Unsere Gesetzgebung für Frauen war so umfangreich: Frauenförderungspläne in den Betrieben, eine progressive Gesetzgebung, besondere Tagungen und politische Beratungen, wo die Förderung der Frauen, etwa in der Bildung und im Gesundheitswesen, vorgegeben wurde. Das ist sehr umfangreich gewesen. Dann gab es noch konkrete Hilfen und Unterstützungen, bis hin zu einem zusätzlichen freien Tag im Monat, also an dem Frauen frei hatten.
Nun kann man sagen, dass das nicht Gleichberechtigung ist, aber es musste auch erst Einiges geschehen, um den Frauen besondere Rechte einzuräumen. Im Arbeitsrecht etwa gab es ganz praktisch eine enorme Fürsorge und Hinwendung zur Arbeit der Frauen und zur wirklichen Gleichberechtigung.
Im Vergleich zur Bundesrepublik heute ist das wie Tag und Nacht. Der Westen hat eigentlich alle entscheidenden Rechte der DDR-Frauen abgeschafft und mit viel Propaganda und Polemik versucht, sich als Rechtsstaat darzustellen, etwa mit Quoten für Frauen. Das war bei uns gar nicht nötig.
Hier muss ich auch sagen: In bestimmten Tätigkeits- und Funktionsbereichen gab es Defizite, man muss sich ja nur die Parteiführung ansehen, das Politbüro etwa, wo nur ein oder zwei Frauen waren. Aber wir waren dabei, ein solches Fundament zu schaffen, dass es auch bis in die höchsten Spitzen gewachsen wäre. Davon bin ich überzeugt und es war auch so gedacht.
Das war in der DDR gesetzlich normiert, sowohl in der Verfassung als auch dann weitgehend in gesetzlichen Regelungen. Es gab kaum eine wichtige gesetzliche Regelung, wo die Frauen nicht erwähnt, wo nicht besondere Frauenrechte eingeräumt wurden. Wenn wir uns das Grundgesetz anschauen, dann sehe ich eigentlich, abgesehen von Artikel drei (Nicht-Diskriminierung), keine besonderen Regelungen für Frauen. Besondere Förderungsmaßnahmen, Pläne, gesetzliche Regelungen für Frauen gibt es in der BRD nur wenige. Ich kann kein herausragendes Beispiel nennen.
Wie sieht es auf Ihrem Fachgebiet, der Kriminalitätsvorbeugung, aus? Gibt es in der BRD auch Anstrengungen in diese Richtung oder wird der Staat erst dann aktiv, nachdem eine Straftat begangen wurde?
Eine Strategie zur Kriminalitätsvorbeugung wie in der DDR gibt es eigentlich gar nicht. Das war bei uns breit ausgerichtet, mit diversen wissenschaftlichen Einrichtungen. Dort wurden empirische Untersuchungen durchgeführt. Zu diesem Thema gab es diverse Konferenzen, sowohl innerstaatliche als auch internationale. Die Bekämpfung von Kriminalität war auf einer gesamten gesellschaftlichen Breite angestrebt, nicht nur in der Justiz. Aber von uns wurden natürlich viele konkrete Impulse beigesteuert.
In der BRD manifestiert sich die Kriminalitätsbekämpfung wirklich nur im Einzelfall und selbst dort nur bedingt, soweit es die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen. Ein Straftäter mag im Gefängnis eine soziale Betreuung erhalten, aber das ist nichts auf die längere Zukunft Angelegtes. Er muss eine Arbeit finden, er muss eine Wohnung finden. Da fängt es ja schon an, das ist ja alles sehr schwierig. Er bleibt in gewisser Weise ein Ausgestoßener, zumindest jene, die öfter kriminell werden. Daher kann in der BRD selbst im Einzelfall im Nachhinein nicht von einer nachhaltigen Kriminalitätsvorbeugung gesprochen werden. Das entspricht diesem gesellschaftlichen System eigentlich gar nicht. Insofern ist die Situation in der BRD derjenigen in der DDR diametral entgegengesetzt.
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