Ex-Grüne Antje Hermenau zu Chemnitz: "Für mich ist das Regierungsversagen"
Antje Hermenau ist selbständige Beraterin und Beauftragte des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft für den Landeswirtschaftssenat Sachsen. Von 1990 bis 2014 war Hermenau in der Politik, für die Grünen saß sie insgesamt 14 Jahre im sächsischen Landtag und zehn Jahre im Bundestag. 2015 trat sie aus der Partei aus. Antje Hermenau versteht sich als Vertreterin sächsischer Interessen. Der Sachsen-Titel des aktuellen Spiegel hat sie dazu gebracht, ihr Abonnement zu kündigen. Im Interview mit RT Deutsch nimmt Hermenau kein Blatt vor den Mund.
RT Deutsch: Frau Hermenau, seit gut einer Woche ist Chemnitz in den Schlagzeilen. Es begann mit einem Gewaltverbrechen. Mittlerweile hat man das Gefühl, dass zwei Debatten nebeneinander laufen, die sich gegenseitig aufheizen, aber ganz verschiedene Dinge behandeln.
A. Hermenau: Das sehe ich ähnlich. Das sind zwei verschiedene Diskussionsräume, die vielleicht voneinander wissen, dass sie existieren, aber nicht verstehen, was drüben gesprochen wird.
RT Deutsch: Wie würden Sie beschreiben, was in Chemnitz passiert ist und jetzt passiert?
A. Hermenau: In Chemnitz hat sich der Unmut der Bevölkerung über Monate und Jahre aufgestaut, weil bestimmte Aspekte der Integration bei den jüngeren Zugewanderten in den letzten Jahren nicht klappen. Das sind vor allen Dingen Aspekte der Kriminalität und der Beteiligung am Arbeitsleben. Das hat sich über Jahre und Monate aufgebaut, und durch die Ermordung dieses jungen Mannes und Familienvaters ist den Leuten einfach der Kragen geplatzt. Die Missstände werden schon seit drei Jahren immer wieder angeprangert. Es ist nicht so, dass die Leute geschwiegen hätten. Sie haben nur gesagt, wir nehmen schon Flüchtlinge auf, aber das und das und das muss passen, sonst lassen wir es lieber. Die Regierenden haben überhaupt nicht darauf reagiert. Also, alles was gemacht wurde in den letzten drei Jahren, war: "läuft doch super" und "wir wissen gar nicht, was ihr wollt". Das ist eine unglaubliche Abschätzigkeit und Herablassung gegenüber den Leuten. Demokratie lebt vom Volk, nicht von der Regierung. Die Idee ist, dass die Bevölkerung von gut ausgebildeten Eliten, die in der Lage sind, immer die Contenance zu wahren, und die Rechtsregeln auch einzuhalten, regiert werden möchte. Aber die Bevölkerung macht die Demokratie, weil sie sie will. Das ist eine völlig freiwillige Veranstaltung: die Demokratie. Alles andere geht nicht. Und das wird völlig verschätzt. Und wir haben jetzt zum großen Teil politische Eliten, die blicken auf das Volk herab, als wäre es ein bisschen zurückgeblieben. Das ist ein totaler Wahnsinn. Es können doch alle schreiben und lesen. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Und die meisten Leute wollen keinen Systemwechsel, die wollen nicht die Demokratie austauschen. Aber sie werden wahrscheinlich, wenn es so weitergeht, die Eliten austauschen. Darauf läuft es am Ende hinaus.
RT Deutsch: Wenn man sich die Motivation der Leute betrachtet, die auf die Straße gehen, da geht es um die Themen Sicherheit und Migration.
A. Hermenau: Natürlich. Es geht um materielle Sicherheit, das betrifft auch die Eurokrise, die öffentlichen Finanzen und die Weltwirtschaftssituation. Und es geht um Alltagssicherheit, und das umfasst die klassischen Sicherheitsaspekte: Taschendiebstahl, die Übergriffe bis hin zu sexueller Gewalt gegen Frauen und so weiter. Also die ganze Palette, vom Bagatelldiebstahl bis zum schweren Verbrechen, das stört die Leute ungemein. Und es heißt zwar in der Statistik, die Kriminalitätsrate geht runter, aber das betrifft bestimmte Verbrechensarten, nicht alle. Einbrüche gehen runter, weil wir da viel gemacht haben, Übergriffe auf Frauen hingegen haben zugenommen. Es ist auch eine höhere Brutalität bei den Straftaten zu beobachten. Und wenn Sie sich in diesen Statistiken angucken, wie der Anteil der Migranten ist: Der wächst zusehends. Das heißt, es geht insgesamt runter, weil die Deutschen weniger Straftaten begehen, wahrscheinlich, weil sie im Durchschnitt älter werden, aber der Migrantenanteil wächst, und das ist das Problem. Das ist die Verstimmung, die grundlegend da ist. Immer auch überschattet davon, dass das Gefühl aufkommt, dass die Regierung nicht in der Lage wäre, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft brummt und dass wir sicher sein können, dass wir auch morgen noch ausreichend Wohlstand erwirtschaften können.
RT Deutsch: Wie würden Sie die Reaktion der Eliten, des medialen und politischen Mainstreams inklusive der Bundesregierung beschreiben, in Bezug auf das, was in Chemnitz passiert ist? Da war sehr schnell die Rede von Pogrom und Menschenjagd.
A. Hermenau: Ich habe das selber öffentlich kritisiert, sowohl in den Fernsehdiskussionen als auch auf Twitter. Ein Regierungssprecher, der sich hinstellt und von Lynchjustiz spricht, wiederholt, was ein linker Journalist in eine Zeitung lanciert hat, also damit Fake News verbreitet, um es auf den Punkt zu bringen. Was soll man von dem halten? Denn im Polizeibericht und in der Feststellung der Staatsanwaltschaft ist klar geworden, es hat keinerlei Lynchjustiz gegeben, auch keine Pogrome. Da hat also der Sprecher der deutschen Bundeskanzlerin etwas unterstellt, was nicht stattgefunden hat. Alle Medien haben sich darauf gestürzt oder hatten es sogar schon Montag früh drin, obwohl von denen keiner in Chemnitz war. Die einzigen Journalisten vor Ort waren am Sonntag die von der Freien Presse, die dort zu Hause ist. Unglaublich, Fake News, in Deutschland. Und die ganze Stadt ist jetzt verleumdet, die Sachsen kriegen es wieder übergeholfen: "Die Deutschen haben völlig panisch reagiert." Es kam in den letzten Jahren ja wiederholt zu Ausschreitungen, danach waren aber ganze Stadtteile demoliert, wenn ich mal an Hamburg denke. In Chemnitz hat man durchgefegt und gut war.
RT Deutsch: Die Vergleiche mit Hamburg und Köln waren ja auch hanebüchen.
A. Hermenau: Ich finde, dass Hamburg und Köln schlimmer waren, wenn man überhaupt eine Skala für solche Ausschreitungen machen will. Die Leute haben sich dagegen in Chemnitz ja eher noch zurückgehalten, wenn man das vergleicht. Es ist ja so, dass der Sachse gern kritisiert, damit es hinterher besser läuft. Er ist eigenbrötlerisch und tüftlerisch. Der will, dass alles optimal läuft, wie geschmiert. Das ist sein Lebensinhalt. Dann hast du einen schönen Berufsalltag und einen schönen Lebensalltag. Das ist eine ganz wichtige Einstellung hier. Das hat mit Faulheit nichts zu tun, hat mit fehlendem Integrationswillen nichts zu tun, sondern das ist ein Anspruch an sich selbst. Leiste ordentlich was, damit alles gut läuft und jeder zufrieden seinen Feierabend genießen kann. Das finde ich keine schlechte Lebenseinstellung. Die Sachsen sind über die Jahrhunderte auch nicht als besonders aggressiv aufgefallen. Die Kriege haben die Preußen gemacht, nicht die Sachsen. Diese Mentalität, dieses Alltagsempfinden ist über zehn Jahrhunderte hier aufgebaut worden und gewachsen. Die Leute waren tüchtig, haben immer ihr Auskommen gefunden und konnten ihren Bräuchen frönen. Und in all diesen Jahrhunderten haben sie unentwegt sehr erfolgreich Migranten integriert. Und das ist jetzt erschüttert. Das ist schlimm für die Leute. Die Unschuld ihres Alltags ist ruiniert.
RT Deutsch: Was glauben Sie, woher kommt diese Hysterie? Es ist ja hysterisch, wie die Medien das darstellen.
A. Hermenau: Ich glaube, dass "die Westdeutschen" spüren, dass sie und ihr Lebensentwurf in Frage gestellt werden und dass sie das überhaupt nicht ertragen, weder intellektuell noch emotional. Es wird ja auch gar nicht alles in Frage gestellt. Es gibt einfach ein paar Dinge, da hat sich so ein Laissez-faire eingespielt, so ein Ach-naja-kümmer-ich-mich-nicht-drum-wird-schon-gutgehen. Das funktioniert eben nicht. Man muss sich kümmern um die Dinge, damit sie gut laufen. Der Sachse weiß das, der hat die Motoren für die Weiße Flotte auf der Elbe im 19. Jahrhundert gebaut, die laufen heute noch, weil sie gut gewartet werden. Das meine ich.
RT Deutsch: Was zur Hysterie hinzukommt, ist der Gestus der moralischen Überlegenheit. Wir sind etwas Besseres, so klingt das oft.
A. Hermenau: So kommt das jedenfalls bei uns an. Es wirkt arrogant auf die Bevölkerung. Übrigens nicht nur von außerhalb Sachsens, auch die eigene Regierung hat sich da nicht mit Ruhm bekleckert, die hat an den Beschimpfungen erst einmal teilgenommen. Ich halte das wirklich für Wahnsinn. Und ich habe jetzt schon viele Anrufe bekommen von Leuten, ich hatte ja am Freitag früh ein Radiointerview auf MDR Aktuell, wo ich gesagt habe, dass bei den Leuten jetzt der Hals voll ist und dass die sagen, dann knallt es eben, bis die Eliten das begreifen. Und nun kriege ich lauter Anrufe und Mails: Vielen Leuten steht es bis hier. Die sind angefressen. Und nachdem am Samstag wieder Fake News verbreitet worden sind, über alles. Aus ihrer Sicht, so empfinden die das. Es waren deutlich mehr Leute bei der Demo der AfD als angegeben wurden. Die Übergriffe kamen von den Linken, nicht von den AfD-Leuten. Linke haben da Pflastersteine aufgeklaubt, und ab ging’s. Das ist der Punkt, um den es geht. Und heute dieses Konzert, da gehen natürlich viele hin, weil: Umsonst kriegen sie die Gruppen sonst nicht zu sehen. Aber im Prinzip werden da wieder neue Fake News aufgebaut. Die Fake News bestehen in der Behauptung, dass ganz viele Leute links sind und ganz dringend Integration wollen und Aufnahme von Ausländern. Und das glaube ich überhaupt nicht. Die gehen dahin, weil sie die Bands sonst nicht zu Gesicht bekommen.
RT Deutsch: Der Hashtag "Wir sind mehr" enthält schon eine gewagte Behauptung.
A. Hermenau: Das ist doch wie ein Größenvergleich auf dem Schulhof, entschuldigen Sie bitte.
RT Deutsch: Geht es den Leuten, die dabei mitmachen, eher darum, sich selber auf der richtigen Seite zu sehen? Die werden doch mit diesen Veranstaltungen kaum jemanden von irgendwas überzeugen?
A. Hermenau: Das ist eben diese deutsche seelische Erschütterung aus dem letzten Jahrhundert. Auf jeden Fall vermeiden, dass man mal nicht recht haben könnte und auf der falschen Seite steht mit einer Meinung. Das hat dieses Volk gelähmt. Alle anderen Völker in Europa beschäftigen sich auch in harten Diskussionen mit dem Thema Integration. Die Franzosen haben eine sehr harte Ausweisungspolitik. Die Italiener überlegen gerade alles neu. Nur die Deutschen scheinen da noch auf einer Insel der Glückseligen zu leben – ich halte das aber für Fake. Ich glaube nicht, dass das wahr ist. Die Bevölkerung ist da schon weiter als ihre Regierung oder die Medien.
RT Deutsch: Eine andere Frage: Sind die Ereignisse jetzt in Chemnitz Vorbote oder Ausdruck einer Staatskrise oder einer gesellschaftlichen Spaltung?
A. Hermenau: Die gesellschaftliche Spaltung ist da, da braucht es keine Vorboten mehr. Die Ereignisse sind ein weiterer Beleg dafür, dass es so ist. Das gibt es schon lange, alle wissen es, aber man kann natürlich niemanden aufwecken, der sich schlafend stellt. Und wenn das jemand nicht zur Kenntnis nehmen will und so tut, als fährt der Zug noch weiter, wie der Herr Breschnew, wenn er die Gardine zuzog im Zug und vorgab, er führe weiter, obwohl die Kohle alle war und der Zugführer besoffen, dann ist das eben so. Das kennen wir ja alles zur Genüge. Alle, die in den osteuropäischen Systemen großgeworden sind, wissen, wie das ist, wenn die Regierung vortäuscht, dass irgendetwas noch läuft, was nicht mehr läuft. Wir kennen es alle, deswegen kommen wir auch so klar auf den Punkt, weil wir genau wissen, was gerade passiert. Das ist ja ein Déjà-vu.
RT Deutsch: Zum Ursprung dieser Krise. Das war die Entscheidung der Kanzlerin, eine große Anzahl von Flüchtlingen ins Land zu lassen, dekretiert, ohne Diskussion, von einem Tag auf den anderen. Das ist ausschließlich moralisch begründet worden. Liegt hier das Problem, dass man niemals über die realpolitischen Motive hinter dieser Entscheidung gesprochen hat?
A. Hermenau: Das gehört ja zu dem Problem. Die Westdeutschen haben sich ja nach dem Krieg ihre Meinung zum Zweiten Weltkrieg gebildet und haben sich gedacht: Na ja, wir waren schreckliche Deutsche. Vielleicht könnten wir gute Europäer sein? Und haben dann Europa genauso auf den Sockel gehoben wie der Osten den Kommunismus. Beides ist kein Religionsersatz, wird aber so behandelt. Die EU bildet auch keine dauerhafte Identität für Völker, das sind alles nur Ziele, die man mal erreichen kann oder auch nicht. Identität bildet sich anders, über Tradition, über Heimat, über Geschichte, nicht über sowas. Religion und Patriotismus halten die Leute zusammen, wenn es hart auf hart kommt. Die Obergrenze für aufzunehmende Flüchtlinge oder Zuwanderung besteht in der Akzeptanz der Bevölkerung. Wenn sie das nicht will, wird sie das zu verhindern wissen. Jetzt stelle ich mir die Frage: Es gibt eine Reihe von Zuwanderern, die sind bestens integriert. Die haben jetzt manchmal schon Ärger auf der Straße, obwohl sie gar nichts für die Probleme können. Das ist eine Schande, dass sie jetzt quasi mitverhaftet werden für das Fehlverhalten anderer Flüchtlinge, ehrlich gesagt. Wer sich wohl fühlt in Deutschland, wer mit unserem Lebensstil und Arbeitsstil umgehen kann, ist doch hier herzlich willkommen und wird auch integriert. Das Problem beginnt in dem Moment, in dem jemand einen völlig anderen Lebens- und Arbeitsstil hier aufbauen will, und sagt, die Deutschen können sich ja mal an mich anpassen. Das sehen wir hier anders. Es muss ja keiner hierherkommen, der unseren Lebensstil nicht mag. Sie können auch nach Saudi-Arabien gehen, wenn es ihnen dort besser gefällt. Manchmal kommt mir das so vor, als stecke da auch eine gewisse Absicht dahinter, die europäischen Bevölkerungen so verschiedenartig aufzubauen, dass sie sich weltweit vernetzt fühlen. Ich weiß nicht, wohin das führen soll. Ich war selber, um das einmal klar zu sagen, mit einem Amerikaner verheiratet in erster Ehe, ich habe eine chinesische Schwägerin, ich habe kurdische Syrer in der Familie, die ich sehr liebe, eine meiner besten Freundinnen ist aus dem Jemen, die ist Ärztin im Krankenhaus nebenan. Da gibt es für mich keine Probleme. Weil sie alle hier arbeiten, ihre Steuern bezahlen und am täglichen Leben teilnehmen. Das ist unproblematisch. Da ist auch mal ein Grammatikfehler kein Problem, was soll ich da als Sachse sagen. Die entscheidende Frage ist, wird unser Lebens- und Arbeitsstil geteilt oder nicht. Das ist die entscheidende Frage. Dieses Land lebt davon, in Sachsen ist das seit Jahrhunderten klar, dass wir alle hart arbeiten, und aus dieser Leistung erwächst unser Wohlstand. Und wenn in großen Gruppen nichts geleistet wird, haben wir ein Problem.
RT Deutsch: Was meinen Sie, wie lange werden es die Eliten noch durchhalten, über solche Themen nicht ernsthaft diskutieren zu wollen?
A. Hermenau: Die DDR hat 40 Jahre durchgehalten, ich bin da historisch ganz geheilt. Nein, das wird zu einem Ende kommen. Es wird Landtagswahlen geben in Bayern und in Hessen in wenigen Wochen. Wir werden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern haben nächstes Jahr, in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Das wird Einiges zeigen. Wenn die Eliten bis dahin nicht eine völlige Kehrtwendung machen, werden die Wahlergebnisse ganz anders ausfallen, als sie sich das nachts erträumen.
RT Deutsch: Eine grundsätzliche Frage zu den Parteien: Inwieweit sind die überhaupt noch in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen? Man hat den Eindruck, dass sich das Parteiensystem verselbständigt hat und in vielen Fragen von der Gesellschaft entfernt ist.
A. Hermenau: Die müssen gar nicht die richtigen Fragen stellen, es würde schon reichen, der Bevölkerung zuzuhören, wie es eigentlich ihr Job sein sollte. Ein Politiker ist ja eigentlich der Diener der eigenen Bevölkerung und soll in Kommunikation treten mit Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung. Das ist eigentlich der Plan. Und das Geschäft wird nicht so ernstgenommen. Wer einmal gewählt ist, innerhalb einer Partei vielleicht auch gut aufgehoben ist, das Gefühl hat, man kann dieses Einkommen über Jahre und Jahrzehnte erreichen, der gerät leicht in Abhängigkeiten. Man wird sozusagen korrumpiert, weil man ein relativ leichtes Leben hat, mit guter Bezahlung im Verhältnis zu vielen anderen Leuten, die härter arbeiten müssen für ihr Geld, erst recht für solche Summen. Die Parteien haben ein Eigenleben entwickelt. Aus meiner Sicht ist es vermessen zu denken, dass man die Geschicke des Landes über die Parteimitglieder bestimmen kann. Nicht einmal 1,5 Prozent der Bevölkerung sind überhaupt Mitglied einer Partei, und die anderen 98,5 Prozent, die keiner Partei angehören, sind nicht bekloppt. So einfach kann man es sich nicht machen.
RT Deutsch: Was erwarten Sie von der Bewegung "Aufstehen", die gerade im Entstehen ist?
A. Hermenau: Na ja, das ist ein Testballon der Linken, die muss irgendetwas machen, nachdem so viele ihrer Wähler zur AfD gewechselt sind. Also, das Image der Arbeiterpartei ist ja im Westen der SPD und im Osten der Linken verloren gegangen. Die SPD war hier nie stark, die können froh sein, wenn sie zweistellig werden. Der entscheidende Punkt, und das ist der Punkt überhaupt: Die Bevölkerung hat den Standort gewechselt. Die Mehrheit der Arbeiter ist schon wichtig. Die Linke reagiert jetzt darauf, über diese Plattform, ob es etwas bringt, werden wir sehen. Es ist ja für Frau Wagenknecht ein Ritt auf der Rasierklinge. Wenn sie Erfolge hat mit dieser Plattform, wird sie eine eigene Partei gründen und mit ihr antreten wollen, so wie Frauke Petry mit der Blauen Partei. Wenn die Plattform nicht so erfolgreich verläuft, dann wird sie weiter ihren Kampf in der Linken ausfechten müssen, mit Kipping und anderen im Nacken. Es ist ja so, dass man gerade in der AfD und der Linken beobachten kann, wie die Illusionisten versuchen zu übernehmen, und die, die ein bisschen realistischer sind, zurückdrängen wollen. Das ist in beiden Parteien so. Das populistische und radikale Moment ist in beiden Parteien stark. Es ist interessant, weil man ja immer sagt, die Frau Wagenknecht wäre die Radikale bei den Linken, wegen der Kommunistischen Plattform. Aber wenn ich mir ansehe, wie sich die Dinge entwickelt haben in den letzten Jahren, dann ist eher die Frau Kipping eine Radikale, die sehr auf das urbane Milieu setzt, auf die Großstädte, und dort auf die Stadtviertel, wo es viel Multikulti gibt, also eher eine linkslibertäre Grüne aus meiner Sicht. Während die Frau Wagenknecht sagt, wir sind eine klassische Arbeiterpartei, es geht um Gerechtigkeit und um Verteilung. Da ist die Frau ja sortiert, das kann man nicht in Abrede stellen. Frau Kipping ist die radikalere, weil sie mehr Lebensumstände von Leuten umstürzen will als Frau Wagenknecht.
RT Deutsch: Jetzt zu Ihrer ehemaligen Partei. Die Grünen werden im Moment mal wieder hochgeschrieben, sie seien auf dem Weg zur Volkspartei, die neue SPD… Die Grünen sind neben der AfD die einzigen, die im Moment von der Polarisierung im Land profitieren, zumindest in Umfragen.
A. Hermenau: Die Grünen haben noch einen Monat vor der Bundestagswahl in den Abgrund geblickt, als sie bundesweit bei sechs Prozent standen. Sie kennen ihr Kernwählerpotenzial. Wenn es hart auf hart kommt, kommen sie gerade so in den Bundestag. Deswegen haben sie sich überlegt, wie sie sich neu aufstellen. Das Beste und Einfachste ist natürlich der Trick der alten Linken zu sagen, ich bin gegen etwas, und das ganz fest. Also haben sie sich als natürlicher Gegenspieler der AfD aufgebaut. Die Linke ist zerstritten, wir hatten das Thema gerade, da war Platz. Da haben sie das einfach genommen. Das gibt ihnen die Chance, dass sie nicht liefern müssen bei den schwierigen Fragen der Wirtschaftsprozesse, zum Beispiel im Energiesektor. Da können sie sich überall fein raushalten, weil: Sie sind ja gegen die AfD. Das ist ihre Existenzbegründung. Ich finde das ziemlich peinlich, inhaltlich ist es ein Abstieg. Das gibt ihnen angesichts der gesellschaftlichen Umstände eine Wachstumsoption, was die Anzahl ihrer Abgeordneten betrifft, aber eine Qualitätsaussage ist es nicht. Und aus meiner Sicht sind die Grünen genauso populistisch wie die AfD. Das finde ich eher bedrohlich, die Grünen waren schon mal staatstragender. Diese Entwicklung finde ich nicht gut, deswegen haben sich unsere Wege ja auch getrennt. Ich glaube auch, dass der Hype der Grünen nicht anhalten wird. Im Moment suchen sich alle noch die am meisten empörte Partei für ihre eigene Meinung. Aber irgendwann merken die Leute, dass Lösungen gebraucht werden, und dann sind die Grünen wie auch die AfD von den Lösungen am weitesten entfernt, so hoch, wie die auf die Palme geklettert sind. Ehe die wieder Grund unter den Füßen haben, dauert es eine Weile.
RT Deutsch: Eine abschließende Frage: Was müssten die Verantwortlichen machen, um überhaupt wieder mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen?
A. Hermenau: Na, gar nicht reden. Hinsetzen, Klappe halten, zuhören. Im Moment geht nur zuhören, tagelang, bis es wehtut. Dann nachdenken, dann den Dialog suchen, am besten gleich mit Vorschlägen, wie man es ändern kann. Die Leute wollen konkrete Lösungen hören, die sind gern bereit, alle Sorgen ungeschminkt auf den Tisch zu legen und sagen: Da erwarten wir vom Staat Lösungen. Wir bezahlen Steuern und Abgaben, und das ist Euer Job. Ich höre jetzt immer von der Regierung - die Justizministerin und andere haben da auf mich eingeredet - die Zivilgesellschaft müsse übernehmen. Das kann ja wohl nicht sein, das ist ja Arbeitsverweigerung. Die Regierung ist dran, die muss das regeln. Es ist ihr Job, den Rechtsstaat zu schützen. Sie kann doch nicht sagen, es sollen mehr Bürger auf die Straße gehen, das ist ja wie ein Aufruf zum Bürgerkrieg. Ich finde das völlig verrückt. Es ist der Job der Regierung und der Verwaltung auch, Sicherheit, Recht und Ordnung herzustellen, und wir bezahlen für einen funktionierenden Staat.
RT Deutsch: Von dieser Einsicht sind aber etwa Frau Barley oder Herr Maas noch ein gutes Stück entfernt.
A. Hermenau: Für mich ist das Regierungsversagen, was ich in den letzten Tagen und Wochen von diesen Politikern gehört habe. Nicht Staatsversagen, aber Regierungsversagen.
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Interview: Andreas Richter
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