"Weit von stabilem Frieden entfernt" - Ex-DDR-Diplomat Bernd Roth im Exklusivinterview
RT Deutsch befragte den ehemaligen Diplomaten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), Bernd Roth, zu Themen, die Deutschland gerade bewegen. Dazu zählen unter anderem die Außen- und Migrationspolitik oder die in den Startlöchern befindliche Sammlungsbewegung der Bundestagsabgeordneten der Linken, Sahra Wagenknecht.
RT Deutsch: Herr Roth, Sie haben als Diplomat für die DDR gearbeitet. Wie schätzen Sie die außenpolitische Lage der Bundesrepublik Deutschland ein?
Bernd Roth: Die internationalen Beziehungen befinden sich in einem tiefen Umbruch und zeichnen sich aktuell eher durch UNOrdnung aus. Eine multipolare Welt bildet sich heraus. Ob es neben den USA und China noch weitere Machtzentren geben wird, ist noch unklar. Ein einiges Westeuropa und Russland wären die nächsten Kandidaten. Später vielleicht auch Indien. Sich mit dieser sich ändernden Lage abzufinden, fällt insbesondere den USA schwer, was zu einer aggressiven und teils erratischen Außen- und Sicherheitspolitik führt. Wir sind leider von einem stabilen Frieden, insbesondere in Europa, so weit entfernt wie seit vielen Jahren nicht.
RT Deutsch: Hat sich aus Ihrer Sicht als ehemaliger Diplomat die Lage für Deutschland verbessert oder sogar verschlechtert?
Bernd Roth: Die Lage für Deutschland hat sich nicht verbessert. Das relative politische Gewicht beruht im Wesentlichen auf der deutschen Wirtschaftskraft. Und vor allem auf einer funktionierenden EU. Kein anderes EU-Land hat davon so profitiert. Leider auch zu Lasten Dritter. Aber allein die panische Reaktion auf die Ankündigung möglicher Strafzölle auf deutsche Autoexporte zeigt, auf welch tönernen Füssen unser Wohlstand und damit unser internationales Gewicht steht. Die Sicherung wohlstandswahrender, insbesondere friedlicher internationaler Bedingungen für Deutschland ist die Aufgabe deutscher Politik. Wenn man aber schaut, womit sich die deutsche Diplomatie tatsächlich beschäftigt, muss man sich sorgen. Klar formulierte kurz- und langfristige Interessen sind nicht erkennbar.
Die Lage seit Ende des Kalten Krieges hat sich sehr widersprüchlich entwickelt. Die Chance, Europa tatsächlich zu einigen und einen friedlichen und starken wirtschaftlichen Raum unter Einbindung Russlands zu schaffen, ist aber leider nicht genutzt worden. Dazu hätte man offen und vor allem ehrlich mit Russland verhandeln und Interesse an der Bewahrung des Erreichten zeigen müssen. Das Gegenteil ist passiert. Welch riesiges Potenzial für das Leben aller europäischen Völker läge in einer solchen umfassenden Kooperation?! Aber: Die NATO grenzt heute an Russland und eine Politik der Drohungen und Bedrohungen, politischer und wirtschaftlicher Sanktionen ist der Schwerpunkt westlicher und zunehmend auch deutscher Außenpolitik in Europa. Das hat weder gestern im deutschen Interesse gelegen noch ist das heute oder morgen so. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt historische.
Es ist Deutschland "gelungen", die Europa- und Ostpolitik Willy Brandts nicht nur nicht weiterzuentwickeln, sondern sie mit voller Absicht zu zerschlagen. Und dies durch Sozialdemokraten! Man könnte noch über so vieles reden. Nur zu einem noch: In den letzten Wochen schwadronieren interessierte Kreise über die Frage einer möglichen nuklearen Bewaffnung Deutschlands. Ich hoffe, dass es immer genügend kluge Menschen in diesem Land gibt, die sich dem widersetzen. Es wäre nicht nur das Ende des Nichtweiterverbreitungsregimes, sondern vor allem eine tödliche Gefahr für die Deutschen selbst. Ich glaube, dass sich die Vernunft wenigstens in dieser Frage durchsetzt.
RT Deutsch: Lassen Sie uns von der Außen- in die Innenpolitik wechseln. In den letzten Tagen sorgt die Sammlungsbewegung "Aufstehen" von der Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, für Furore. Es sollen sich laut ihrem Ehemann Oskar Lafontaine bereits 50.000 Unterstützer für diese Bewegung eingetragen haben. Und bei einigen Politikern und Medien scheint sich deshalb Panik breit zu machen. Wie beurteilen Sie das Projekt "Aufstehen"?
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Bernd Roth: Nachdem ich mich mit den bisherigen Veröffentlichungen der bislang bekannten Gründungsmitglieder beschäftigt hatte, ist mein Interesse daran gewachsen. Ich bin überzeugt, dass ein überparteiliches Sammelbecken linker und linksliberaler, sozialdemokratischer, aber auch ökologischer und anderer an einem friedlichen und sozialen Deutschland Interessierter eine Chance ist und hat. Für mich geht es dabei vor allem um die Beförderung vielfältiger Formen und Foren für offene und kontroverse Diskussionen. Die Arbeit der Parteien im Deutschen Bundestag kann dadurch nur unterstützt werden. Alle Interessierten sollen spüren, dass ihre Stimme und ihre Meinungen jeden Tag gefragt sind. Nicht nur in fünf Minuten an der Wahlurne. Ich bin überzeugt, dass die gewählten Parteien aus dieser neuen Öffentlichkeit politischer Verantwortung, durch verschiedenste Interessierte auch Anregungen und Gestaltungshinweise bekommen können. Es gibt so viele Fragen zu diskutieren. Ich denke an Sozial- und Bildungspolitik, an Friedens- und Gesundheitspolitik. Vielleicht interessieren sich wieder viel mehr Menschen für eine offene und öffentliche Politik in unserem Land. Die Parteien der aktuellen Regierungskoalition scheinen nicht mehr die Kraft dafür zu haben, die Lage in vernünftigen Zeiträumen zu ändern.
RT Deutsch: Ein zentrales Thema in Deutschland ist seit bald drei Jahren die Flüchtlingskrise bzw. die deutsche Migrationspolitik. Was denken Sie darüber?
Bernd Roth: Das internationale Asylrecht muss konsequent umgesetzt werden. Davon zu unterscheiden ist der Umgang mit Armutsflüchtlingen oder Migranten aus sonstigen Gründen. Deutschland als reiches Land muss dabei stets großzügig handeln. Ein Einwanderungsgesetz kann dabei hilfreich sein. Deutschland muss viel aktiver die sehr unterschiedlichen Fluchtursachen bekämpfen. Hilfreich könnten die Empfehlungen der Nord-Süd-Kommission aus den 1970er Jahren sein. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass den Staaten jedoch nicht ganze Generationen von Akademikern und Fachleuten abgezogen werden. Diese werden zum Aufbau oder zum Wiederaufbau ihrer Heimatländer dringendst benötigt.
RT Deutsch: Letzte Frage: Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe für diese größte Migrations- und Flüchtlingswelle der Nachkriegszeit? Laut UN-Schätzungen waren zum Ende des Jahres 2017 insgesamt 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht, 258 Millionen Menschen gelten als Migranten.
Bernd Roth: Ich denke, dass es ein immer größeres Missverhältnis zwischen der Anzahl Wohlstandssuchender und dem begrenzten beziehungsweise zu geringen Wirtschaftswachstum gibt, insbesondere in West- und Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten. Neben den inneren Gründen vertiefen äußere Faktoren in den letzten Jahren das Problem. Dazu gehören bewaffnete Aggressionen und Bürgerkriege. Dazu gehören zunehmend Klima- und Naturkatastrophen. Aber auch ungerechte Handelsbedingungen zu Ungunsten der Entwicklungsländer. Die Probleme der Entwicklungsländer können nur durch eine faire und gerechte Kooperation mit diesen Ländern gelöst werden. Hilfe durch Spezialisten zur Selbsthilfe vor Ort. Entwicklungshilfe darf nicht nur der Vorbereitung von profitträchtigen Investitionen internationaler Großkonzerne dienen.
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