von Susan Bonath
Die Technologie macht´s möglich: Immer weniger Arbeitskräfte produzieren immer mehr. Das führt unsere Produktionsweise, auf Kapitalbesitz einerseits und Lohnarbeit andererseits basierend, zusehends ad absurdum. Arbeitsplätze werden unsicherer, sämtliche davon abhängende Sozialleistungen sind immer schwerer daraus abzuschöpfen – auch die Rente. Doch die Politik gibt nicht etwa dem Wirtschaftssystem die Schuld an der wachsenden Altersarmut, sondern der steigenden Lebenserwartung der Arbeitenden. Sie spricht von demografischem Wandel. Lösen will sie das Problem mit einer Minireform namens „RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz“. Das bringt wenig und kratzt kein bisschen an der Ursache.
Angst vor Enteignung oder Scham: Viele Rentner verzichten auf Sozialhilfe
Zu Recht bemängelt der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Stellungnahme zum Referentenentwurf des geplanten Gesetzes dessen mangelnde Wirkung und Weitsicht. Zunächst zeigt der Verband die dramatische Entwicklung zunehmender Verarmung älterer Menschen auf. Laut Statistischem Bundesamt hat sich allein die Zahl der Bezieher von Grundsicherung im Alter von 2003 bis 2017 auf 545.000 Menschen mehr als verdoppelt. Das Armutsrisiko von Neurentnern habe sich seither von knapp elf auf 16 Prozent erhöht. In den nächsten zwölf Jahren werde sich die Zahl der hilfebedürftigen Ruheständler erneut verdoppeln, warnt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Doch diese Zahlen alleine seien nur die halbe Wahrheit.
„Die Grundsicherungsquote ist kein geeigneter Indikator für Altersarmut“, schreibt der Verband in seinem Papier, welches das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Minister Hubertus Heil (SPD) angefordert hatte. So sei bekannt, dass viele von Armut betroffene ältere Menschen aus Scham oder aus Angst vor Verlust ihrer im Laufe des Lebens erarbeiteten Vermögenswerte, wie etwa ein Eigenheim, gar keine Sozialhilfe beantragten. Laut einer Verteilungsforscherin machten gar nur zwischen einem Viertel und einem Drittel aller bedürftigen Rentner ihre eigentlich bestehenden Ansprüche auf Sozialhilfe geltend. Dieser Entwicklung habe das geplante Gesetz als Korrektur für die (unter anderem) von der Agenda 2010 vorangetriebenen Rentenkürzungen wenig entgegenzusetzen, so der Verband.
Paritätischer: „Sieben-Jahres-Bremse“ löst das Problem nicht
Zum einen greife die in der Novelle formulierte sogenannte „doppelte Haltelinie“ viel zu kurz. Gemeint ist das Ziel, das Rentenniveau vor Steuern bis zum Jahr 2025 – also lediglich sieben Jahre – bei mindestens 48 Prozent zu halten. Gleichzeitig sollen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in dieser Zeit nicht über 20 Prozent steigen. Statt sich an das offenkundig nichts armutsfeste Niveau zu klammern, müsse das Niveau wieder auf 53 Prozent (wie vor den Rentenkürzungen) angehoben werden, schlägt der Verband vor. Dafür sei das Prinzip der Sicherung des Lebensstandards sowie das Solidarprinzip zu überarbeiten. Außerdem müsse der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel gestrichen werden.
Diesen "Nachhaltigkeits"-Faktor führte die Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) 2005 zusammen mit Hartz IV ein. Er benennt das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern. Wenn immer weniger Beschäftigte mit ihren Beiträgen für immer mehr Rentner aufkommen müssen, bremst der Nachhaltigkeitsfaktor den Rentenanstieg, um die Belastungen für Lohnbeschäftigte nicht zu stark anwachsen zu lassen. Er erfasst nicht nur die Anzahl von Beitragszahlern und Ruheständlern, sondern auch noch die steigende Lebenserwartung und die Geburtenraten.
Ungleichbehandlung: Wenn Krankheit oder Unfälle arm machen
Desweiteren vernachlässige der Entwurf die Erwerbsminderungsrentner. So weite der neue Entwurf die Zurechnung von Erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder für diese Gruppe, anders als für Altersrentner, lediglich für Neuzugänge aus. Diese hätten am Ende immerhin durchschnittlich 44 Euro mehr pro Monat. „Bei jetzt bereits Betroffenen stößt das auf Unverständnis und Wut“, erklärt der Verband. Außerdem müssten endlich die Abschläge für vorzeitigen Renteneintritt von bis zu 10,8 Prozent gestrichen werden. Nur so könne ein ständiges Anwachsen der Erwerbsminderungsrentner gestoppt werden, die zusätzlich Sozialhilfe beantragen müssen. Ihre Zahl wuchs laut Statistischem Bundesamt von 182.000 im Jahr 2003 auf 515.000 Ende 2017.
Insgesamt, so rügt der Verband, sinke das Niveau der Erwerbsminderungsrente seit langem. 2009 habe ihre durchschnittliche Höhe von 643 Euro um sieben Euro unterhalb der mittleren Grundsicherungssumme gelegen. Inwischen seit die Kluft auf 35 Euro angewachsen. Unter anderem diese Kluft habe zum kontinuierlichen Anwachsen der Zahl der auf Sozialhilfe Angewiesenen geführt, mahnt der Sozialverband in seiner Stellungnahme.
Und letztlich sei auch die Höhe der Grundsicherung viel zu knapp bemessen, um dauerhaft davon zu leben. Doch sei der Eintritt einer Erwerbsminderung schicksalhaft. Und davon Betroffene könnten sich meist zeitlebens nicht mehr aus dieser Situation befreien. Rentenansprüche würden, anders als Erwerbseinkommen, komplett auf die Sozialhilfe angerechnet, heißt es weiter.
Das bedeutet: Betroffene, die nicht mehr in der Lage sind, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, knabbern bis zum Tod am staatlich verordneten Existenzminimum. Darum fordert der Verband einen Grundfreibetrag von 100 Euro für alle Renteneinnahmen. Diesen übersteigende Einkünfte dürften nur zu 80 Prozent auf die Sozialhilfe angerechnet werden. Dann entsprächen die Freibeträge jenen, die bei Hartz IV auf Erwerbseinkommen gewährt werden.
Entlastung der Kommunen auf Kosten der Beitragszahler?
Der Paritätische Wohlfahrtsverband lobt außerdem zunächst das Ansinnen der Bundesregierung, die sogenannte Gleitzone bei der Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen für Beschäftigte auszuweiten. Diese beginnt oberhalb eines Einkommens von 450 Euro, also der „Geringfügigkeitsgrenze“, und wird aktuell bis zu einem Bruttoentgelt von 850 Euro gewährt. Tritt das Gesetz in Kraft, liegt sie künftig bei 1.300 Euro.
Das heißt: Beschäftigte mit derart geringem Lohn müssen von diesem weniger in die Sozialkassen einzahlen, angefangen bei einem Gesamtanteil von 10,3 Prozent und bis zum Erreichen der Obergrenze aufsteigend. Der Anteil des Unternehmens bleibt davon unberührt. Doch das hat einen Haken: Während die Leistungen der Krankenkasse davon nicht beeinträchtigt werden, sinken die Rentenansprüche.
Mit dieser Neuregelung bezweckt die Bundesregierung, Geringverdienern ein paar Euro mehr in der Tasche zu lassen. Doch die maximale dadurch erreichbare Entlastung betrage lediglich 22 Euro, kritisiert der Verband. Da Haushalte mit so geringen Einkünften in der Regel mit Hartz IV aufstockten, werde das den meisten nicht helfen,dem Leistungsbezug zu entrinnen. Mehr Geld bliebe Betroffenen ebenfalls nicht, da diese „Lohnerhöhung“ wiederum auf Hartz IV angerechnet werde. „Ergebnis wäre eine von den Beitragszahlern finanzierte Entlastung der Kommunen und teilweise des Bundes von Fürsorgekosten“, so der Paritätische.
Negativsteuer, Wohngeld- und Beitragserhöhungen
Stattdessen schlägt der Verband eine Negativsteuer vor, die Geringverdienern im Gegenzug zu den verhältnismäßig hohen Belastungen auszuzahlen sei. Das heißt: Sozialversicherungsbeiträge von Beschäftigten könnten bis zur Höhe von 100 Euro auf die Steuerlast angerechnet werden. Wer aufgrund geringer Einkünfte keine Lohnsteuer zahlt, solle diese Summe zusätzlich erhalten. Darüber hinaus bringt der Verband noch eine andere mögliche Variante ins Spiel: Man könne auch, so heißt es, bedarfsorientierte Leistungen, wie Wohngeld und Kinderzuschlag, „gezielt verbessern und ausbauen“.
Der Wohlfahrtsverband hält seine Vorschläge für finanzierbar. Zunächst einmal müssten alle Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen. „Bei einem Niveau von 53 Prozent läge der notwendige Beitragssatz dann aktuell bei 22,9 Prozent, wobei 11,5 Prozent auf die Versicherten entfielen“, rechnet er vor. Allerdings wäre dann auch keine zusätzliche private Absicherung mehr nötig. Und auch langfristig bleibe das Modell günstiger und leistungsfähiger, heißt es, auch wenn der Beitragssatz bis 2045 auf fast 30 Prozent ansteigen würde.
Doch das grundsätzliche Problem bleibt bestehen: Die Fortentwicklung der Technologie und die Veränderungen der Arbeitswelt halten weder Arbeitsminister Hubertus Heil noch der Paritätische Wohlfahrtsverband auf. Produktionsweisen, die sich selbst überlebt haben, werden früher oder später an ihren eigenen Widersprüchen scheitern.
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