Neues aus den Unterklassen: Frauen und Kinder auf der Verliererseite

Reiche werden reicher, Arme ärmer, der Konkurrenzkampf härter. Auch in Deutschland und der EU geht die soziale Schere weiter auseinander. Frauen und Kinder stehen auf der Verliererliste ganz oben. Was Statistiken und Befragungen belegen, ignoriert die Politik.

von Susan Bonath

Ob lohnabhängig oder selbstständig: In unserer Gesellschaft gewinnt, wer sich am erfolgreichsten auf dem Markt durchsetzen kann. Am höchsten honoriert wird, was unmittelbaren Profit bringt. Kindererziehung, häusliche Pflege und viele andere gesellschaftliche Aufgaben gehören nicht dazu. Das wirkt sich vor allem auf Frauen und Kinder aus. Aufgrund familiärer Verpflichtungen arbeiten weibliche Beschäftigte häufiger in Teilzeit. Hinzu kommt, dass frauentypische Berufe meist schlechter entlohnt werden.

Neue Zahlen des Europäischen Statistikamtes Eurostat untermauern die Folgen. Danach liegen die Löhne von Frauen im EU-weiten Durchschnitt um 16,2 Prozent unter jenen der männlichen Beschäftigten. In Deutschland klaffte im zuletzt bewerteten Jahr 2016 eine noch größere Lücke von 21,5 Prozent. Höher waren die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern nur in Estland mit gut 25 Prozent und der Tschechischen Republik mit knapp 22 Prozent. Zum Vergleich: In Belgien lag das Gefälle nach Eurostat-Berechnungen zuletzt bei 6,2 Prozent, in Polen bei 7,2 und in Finnland bei 17,4 Prozent.

Viele Frauen in der Armutsfalle

Nach gesamteuropäischen Messstandards lebten in Deutschland im vorletzten Jahr rund 7,3 Millionen Frauen unterhalb der so genannten Armutsgefährdungsgrenze. Zu dieser Gruppe gehört, wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt. Eurostat orientiert sich dabei an etwas niedrigeren Werten als die BRD. Diesem Maßstab zufolge stieg dort die Quote armer Frauen seit Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 von 13 auf fast 18 Prozent, bei den über 60-jährigen sogar auf fast 21 Prozent. Der Anteil armer Männer wuchs derweil von elf auf gut 15 Prozent an. Deutschland lag damit knapp unter dem EU-Durchschnitt.

Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden setzt die Untergrenze bei einem monatlichen Einkommen von 1.064 Euro für Alleinstehende fest. Über weniger Geld verfügten 2016 demnach 21,2 Prozent der Frauen und 18 Prozent der Männer. Die Zahl der Armen schnellte 2005 mit Inkrafttreten der Arbeitsmarkt-Agenda sprunghaft in die Höhe. Im Jahr 2012, also vor der Flüchtlingskrise, lag ihre Zahl nur geringfügig unter der heutigen. Die Statistiker unterscheiden nicht zwischen der Herkunft der Betroffenen.

DGB fordert höhere Löhne in Frauenberufen

Anlässlich des Internationalen Frauentages sowie der neuen Zahlen kritisierten Gewerkschafter die Ungleichbehandlung. 100 Jahre nach der Einführung des Wahlrechts seien Frauen zwar rechtlich gleichgestellt, konstatierte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Sachsen-Anhalts, Susanne Wiedermeyer. "Aber tatsächlich gleichgestellt im Erwerbsleben sind sie längst nicht", rügte sie. So seien 2016 in Sachsen-Anhalt vier von fünf Teilzeit-Beschäftigten weiblich gewesen.

Im Vergleich zu Männern werden Frauen nach wie vor schlechter bezahlt, stehen vor ungelösten Arbeitszeitproblemen und haben geringere Aufstiegs- und Karrierechancen", sagte Widermeyer.

Diese Faktoren, so Wiedermeyer, führten dazu, dass Frauen später im Schnitt nur halb so viel Rente wie Männer erhielten. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften verlangten darum von den politisch Verantwortlichen, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass beide Geschlechter "die gleichen Chancen auf wirtschaftliche Unabhängigkeit haben". Von Frauen dominierte Berufe wie beispielsweise solche im Pflege-, Gesundheits- und Sozialbereich seien dringend aufzuwerten, erklärte sie. Außerdem benötigten Frauen einen Rechtsanspruch, von Teilzeit in einen Vollzeitjob zurückzukehren.

Linke rügt "Politik der Rückschritte"

So steigt die Armut bei Frauen in Deutschland, obwohl diese so häufig wie nie zuvor erwerbstätig sind. Auch das zeigen neue Zahlen der Bundesstatistiker: So waren 72 Prozent der Frauen zwischen 25 und 55 Jahren im vorvergangenen Jahr abhängig beschäftigt, zehn Jahre davor war es noch knapp ein Drittel. Indes arbeiteten 86 Prozent der Männer in derselben Altersgruppe in einem Lohnverhältnis. Ihr Anteil stieg seit 2006 um drei Prozentpunkte.

Akademikerinnen, so besagt die Statistik gleichfalls, blieben weitaus häufiger kinderlos als Frauen ohne Hochschulabschluss. Mehr als jede Dritte von ihnen verzichtet demzufolge auf Nachwuchs, um auf dem von Männern dominierten Arbeitsmarkt mithalten zu können.

Kritik an den Verhältnissen hagelte es aus der Linken. Das Thema Armut sei seit jeher besonders mit Frauen verbunden, beklagte die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann am Donnerstag. "Da helfen auch alle Lippenbekenntnisse und alles Schönreden nichts", bekräftigte sie. Im Beruf würden Frauen durch niedrige Löhne und geringere Möglichkeiten stark benachteiligt. Das wiederum führe in die Altersarmut.

Zimmermanns Parteikollegin und frauenpolitische Sprecherin im Bundesparlament, Cornelia Möhring, geißelte eine "Koalition des Stillstandes und Politik der Rückschritte in Deutschland". Es brauche eine "starke Frauenbewegung", erklärte sie. Diese müsse Angriffe auf Frauenrechte abwehren und "zugleich nach vorne blicken, um endlich Gleichstellung und Selbstbestimmung zu erreichen".

Arme Mütter, arme Kinder

Rücksicht auf die Jüngsten in unserer Gesellschaft nimmt der familienfeindliche und profitorientierte Markt nicht. Laut jüngsten Berichten der Hans-Böckler-Stiftung und des Paritätischen Gesamtverbandes lebte zuletzt jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik unter der Armutsgrenze. Demnach waren davon 2016 mehr als 2,5 Millionen unter 18-Jährige betroffen – Tendenz steigend. Seit Jahren befinden sich rund zwei Millionen Kinder davon im Hartz-IV-System.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bestätigte 2017 die Zahlen. Außerdem gab er Warnungen der Verbände an die Politik weiter, wonach vor allem Eltern mit drei und mehr Kindern sowie Alleinerziehende in die Armut abzurutschen drohen. Von Erstgenannten lebte vor gut einem Jahr mehr als ein Viertel unter der Einkommensgrenze, bei Alleinerzieher-Haushalten war es fast die Hälfte.

Diese gesellschaftliche Krise ist längst bis in die Kindertagesstätten vorgedrungen. Darauf machte der Deutsche Kitaleitungskongress (DKLK) in dieser Woche aufmerksam. Für dessen Studie gab mehr als die Hälfte von 2.390 befragten Kitas an, dass der Anteil armer Kinder wachse. Besonders häufig stammten sie aus Familien mit Migrationshintergrund. Vor allem: Die Kita-Leiter fühlen sich von den Verantwortlichen alleingelassen.

"Es ist ein Armutszeugnis für die Politik, wenn gerade einmal zwei Prozent der befragten Kitas sagen, dass sie sich von ihr unterstützt fühlen", bewertete Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), bei der Präsentation der Studie am Mittwoch die Ergebnisse. Es geht um das Übliche: Massive Unterfinanzierung, schlechte Entlohnung, fehlende Schulungen zum Umgang mit den Problemen, die Armut mit sich bringt. Sorge der Staat weiterhin nicht für mehr Personal und finanzielle Möglichkeiten, "setzen wir die Zukunft unserer Kinder und damit unseres Landes aufs Spiel", so Beckmann.

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