
Nun ist es amtlich: Der 22. Juni 1941 ist in Deutschland "vergessen"

Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
Das Gedenkjahr 2025 neigt sich dem Ende zu und das neue Gedenkjahr 2026 bricht bald an. Wie das endende Jahr wird auch 2026 vom Gedenken an den Zweiten Weltkrieg geprägt sein. In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 brach Hitler-Deutschland den 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und überfiel die Sowjetunion. Dieser Vernichtungskrieg sollte das Land 27 Millionen Tote, davon die Mehrzahl Zivilisten, kosten. Schon im April 1941, zweieinhalb Monate zuvor, hatte die Wehrmacht einen "Blitzkrieg" gegen Jugoslawien gewonnen. Der Blutzoll Jugoslawiens sollte in den kommenden Jahren über eine Million Tote betragen (in der Mehrzahl ebenfalls Zivilisten). Und der Dezember 1941 brachte mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und der deutschen Kriegserklärung an die USA wenige Tage später den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten (die USA hatten 418.000 Tote zu beklagen, die Mehrzahl davon Soldaten). Ebenfalls im Dezember wird es dann 85 Jahre her sein, dass der Vormarsch der Wehrmacht vor Moskau gestoppt wurde.
Nachdem beim deutschen Gedenken an 80 Jahre Kriegsende die sowjetischen Opfer kaum vorkamen und Russen vielmehr als brutale Täter damals wie heute gebrandmarkt wurden, stellt sich die Frage, wie sowohl das offizielle Deutschland als auch die deutsche Gesellschaft mit dem Gedenktag 22. Juni umgehen werden. Im Gegensatz zum 8. Mai scheint er im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle zu spielen. Der Genozid an der sowjetischen Bevölkerung ist in Deutschland kein Thema. Noch weniger Platz im deutschen Bewusstsein haben nur die Kriegsverbrechen im damaligen Jugoslawien. Oder wem ist schon das Massaker der Wehrmacht in Kragujevac ein Begriff?

Sucht man im deutschsprachigen Internet nach den Begriffen "Unternehmen Barbarossa" oder "1941 Überfall auf die Sowjetunion", finden sich eher dürftige Ergebnisse, was aktuelle Meldungen betrifft. Auch in den Vorbereitungen auf das Gedenkjahr 2026 spielen sie kaum eine Rolle. So bringt der Bildungsserver Berlin-Brandenburg, eine vom Landesinstitut Brandenburg für Schule und Lehrkräftebildung (LIBRA) getragene Seite, zwar eine relativ lange Liste an Gedenktagen im Jahr 2026, die die Berliner und Brandenburger Lehrkräfte für ihre Unterrichtsvorbereitung verwenden können ‒ Daten aus dem Zweiten Weltkrieg finden sich jedoch nicht darunter. Da diese Serviceleistung für die Lehrer im Auftrag des Brandenburger Bildungsministeriums sowie der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie erbracht wird, darf man davon ausgehen, dass die vom LIBRA-Mitarbeiter Olaf Respondek erstellte Liste den offiziellen Segen beider Bundesländer besitzt.
Nun könnte man einwenden: 2026 findet kein runder Jahrestag der Kriegsereignisse von 1941 statt, es ist lediglich der 85. Jahrestag. Dieses Argument greift jedoch daneben, wenn man die sonstigen Daten aus der LIBRA-Liste anschaut. So umfasst sie sehr wohl auch andere halbrunde Jahrestage, zum Beispiel den 25. Jahrestag der Gründung von Wikipedia. Oder etwa den 35. Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion. Ohnehin sollte das Datum 22. Juni schon aufgrund der hohen Opferzahlen in jedem Jahr ein Gedenktag sein. In Russland ist es das, in Deutschland – dem Land, das diese Opfer verschuldet hat – ist es das nicht.
In Bayern sieht es nicht besser aus. Dort gibt es das Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung mit Sitz in München (ISB), das die Lehrer der verschiedenen Fächer und Schularten unter anderem mit Fortbildungsangeboten und Vorschlägen zur Unterrichtsvorbereitung versorgt. In den Infobriefen für das Fach Geschichte an bayerischen Realschulen und Gymnasien vom September 2025 findet sich ebenfalls eine (wenn auch knappere) Liste mit Gedenktagen für das Schuljahr 2025/2026. Für 2026 finden sich der 250. Jahrestag der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie der 75. Jahrestag der Montanunion. Unter einer Vielzahl von Angeboten für die interessierte Lehrkraft findet sich nicht eines zum deutsch-sowjetischen Krieg (löbliche Ausnahmen gibt es allerdings: Der Bildungsserver Sachsen-Anhalt bietet immerhin eine Video-Fortbildung zum Thema "Unternehmen Barbarossa" an).
Das heißt natürlich nicht, dass der Nationalsozialismus und sein mörderischer Rassenwahn im deutschen Geschichtsunterricht nicht behandelt würden. Allerdings fällt es Lehrern üblicherweise deutlich leichter, ein Thema im Unterricht zu behandeln, wenn es dazu Fortbildungen oder auch Ausstellungen gibt, in die man die Schüler am Wandertag führen kann. In Bayern gibt es seit kurzem eine sogenannte wöchentliche Verfassungsviertelstunde. Es böte sich eigentlich an, zumindest im Juni 2026 diese Zeit dem Beginn des Vernichtungskriegs im Osten zu widmen. In den meisten Bundesländern ist zudem um den 22. Juni herum bereits Notenschluss, sodass sogar ganze Projekttage zu dem Thema möglich wären. Deutschland ist ja – leider! – von Friedhöfen insbesondere sowjetischer Kriegsgefangener übersät, sodass sich überall ein lokaler Bezug anböte.
Und in der nichtschulischen Bildung schaut es oft nicht besser aus. So fehlt bei der Auflistung von Gedenktagen mit Bezug zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg auf der Webseite der "Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft" fast schon wie selbstverständlich der 22. Juni 1941. Die Landeszentrale für politische Bildung Bremen, die jedes Jahr am 27. Januar eine andere Opfergruppe ins Licht der Aufmerksamkeit rückt, beschäftigt sich 2026 mit dem "Schicksal queerer Menschen im Nationalsozialismus". 2021 waren es noch die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Im bis in den April 2026 reichenden Veranstaltungsprogramm finden sich diesmal unter Dutzenden Veranstaltungen nur zwei, die konkret mit dem "Unternehmen Barbarossa" zu tun haben: eine Filmvorführung zur Belagerung Leningrads sowie ein Vortrag zur Zwangsarbeit sowjetischer Kriegsgefangener auf einem Bremer Müllplatz – und kein einziger zum "Unternehmen Marita" (der Invasion Griechenlands und Jugoslawiens 1941). Etwas dürftig ist das schon.
Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. bietet zwar einen ausführlichen, 2024 herausgegebenen Kalender der "Feier- und Gedenktage der Migrationsgesellschaft" im PDF-Format für die Jahre 2025 bis 2029 an, mit einer Vielzahl an Gedenkdaten, die für Migrantengruppen aller Art wichtig sein könnten: Aber auch hier Fehlanzeige, was den 6. April 1941 und den 22. Juni 1941 betrifft. Dabei leben in der Bundesrepublik bis zu drei Millionen Migranten aus dem Gebiet der Sowjetunion – Menschen, bei denen rein rechnerisch die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass mindestens ein Verwandter vor über 80 Jahren Opfer des nationalsozialistischen Mordens wurde.
Fast 500.000 Menschen in Deutschland haben einen griechischen Migrationshintergrund, während die Zahl der Nachkommen von Migranten aus Jugoslawien etwa dreimal so hoch ist. Daher ist es erstaunlich, dass sich im Migrationskalender beispielsweise der Sayfo-Gedenktag am 15. Juni findet, der Gedenktag an den Giftgasanschlag in Halabdscha gegen die Kurden (16.03.1988), ein Gedenktag für die Maafa (Versklavung Schwarzer Menschen) und natürlich auch der Holodomor-Gedenktag, nicht aber ein Hinweis auf den 22. Juni 1941 ‒ den Tag, der binnen weniger Wochen Millionen Menschen den Tod bringen sollte.
Als Letztes noch ein Beispiel aus einer deutschen Kommune, dem bayerischen Kaufbeuren. In der im Allgäu gelegenen Stadt wurde am 22. Juni 2025 der Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen – in der offiziellen Einladung ohne Bezugnahme auf das geschichtliche Hauptereignis an jenem Tag, den Überfall auf die Sowjetunion. Dabei stellten im KZ-Außenlager Kaufbeuren Russen mit 160 Personen den zahlenmäßig größten Anteil an Gefangenen. Auch im Zwangsarbeitslager Riederloh (zu dem das Kaufbeurer Stadtmuseum im Januar 2025 eine Ausstellung eröffnete) mussten unter anderem Häftlinge aus der Sowjetunion Schießpulver produzieren. Wie in jeder deutschen Stadt ist also auch in Kaufbeuren ein lokaler Bezug zu den Folgen von "Unternehmen Barbarossa" vorhanden. Man darf gespannt sein, wie die Juni-Feierlichkeiten in Kaufbeuren im Jahr 2026 aussehen werden.
Wir haben alle sechs im Artikel genannten Stellen angeschrieben und höflich auf das Fehlen der beiden Gedenkdaten hingewiesen. Wir fragten, nach welchen Kriterien die Daten ausgewählt worden seien und ob geplant sei, die fehlenden Gedenktage künftig in die Liste aufzunehmen. Dies geschah noch lange vor den Weihnachtsferien. Dennoch bemühte sich keine der Institutionen um eine Antwort. Damit bestätigt dieses Schweigen unsere schlimmsten Befürchtungen: Die "Vergesslichkeit" der deutschen Erinnerungsverwalter ist kein Missverständnis, sondern politische Manifestation.
Diese Vernachlässigung des Krieges auf dem Balkan und in der Sowjetunion im deutschen Bewusstsein hat Folgen. Der Krieg im Osten spielt – wenn überhaupt – in der Erinnerungskultur hauptsächlich als Ort deutscher Leiden eine Rolle; als die Himmelsrichtung, in der viele Großväter (oder heute vielmehr: Urgroßväter) unbestritten die Hölle auf Erden erlebten und teils gar nicht mehr oder teils schwer gezeichnet wiederkamen: sei es in der zerbombten Eiswüste von Stalingrad oder später in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern.
Nur: Wer (von Ausnahmen abgesehen) denkt daran, dass unter der Bewachung der Wehrmacht bis zum Frühjahr 1942 zwei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verhungert waren? Wer denkt daran, dass in speziellen Kinder-KZs Kinder und Jugendliche gehalten wurden, denen das Blut abgezapft wurde, um an dringend benötigte Bluttransfusionen für Wehrmachtssoldaten zu gelangen? Oft wurde das Blut in fast schon vampirischer Weise bis zum Tod der unfreiwilligen kleinen Blutspender abgepumpt. So etwa im weißrussischen Krasny Bereg, genannt "Kinder-Chatyn". Oder im lettischen Salaspils. Oder dass es für den betreffenden sowjetischen Zivilisten den nahezu sicheren Tod bedeutete, wenn ein "Landser" ihm den Wintermantel oder die Stiefel raubte und ihn schutzlos der Kälte ausgeliefert zurückließ?
Diese moralische Empfindungslosigkeit bezüglich der Verbrechen der Vergangenheit hat auch Auswirkungen auf das Heute: Nur einer Minderheit der Deutschen ist bewusst, wie sehr Russen heutzutage in Deutschland und der EU diskriminiert werden. Gegenüber russischen Soldaten können heutzutage rassistische Begriffe ohne jegliche Distanzierung wiedergegeben werden ("Orks", "Raschisten", "Truppen aus Mordor"), für die man sich in Bezug auf andere Völker – würde man sie etwa in Bezug auf Zahal anwenden – schon längst eine Anklage wegen Volksverhetzung eingefangen hätte. Und laut einer aktuellen Insa-Umfrage findet es eine relative Mehrheit der Befragten (47 Prozent) in Ordnung, die in der EU festgesetzten russischen Vermögensanteile für die Ukraine zu verwenden – ein den dahintersteckenden Raub russischen Eigentums nur kläglich verschleiernder Euphemismus. Für Italien gab es ähnliche Umfragewerte. Man mag sich nicht ausdenken, wozu das "zivilisierte Europa" in der Lage wäre, sollte es ihm gelingen, Russland zu besiegen. Im Gegensatz zu den Europäern erinnern sich die Russen jedoch an den 22. Juni 1941. Und sie werden alles dafür tun, nie wieder unter die Herrschaft "zivilisierter Europäer" zu gelangen.
Mehr zum Thema ‒ Schlachtfeld Geschichtsunterricht: Holodomor-Gedenken nun auch in deutschen Schulbüchern?
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