
Deutschland: Mieten machen jeden Fünften arm

Der Paritätische hat nun eine Berechnung veröffentlicht, die eigentlich lange überfällig war: Wie viele Menschen in Deutschland sind arm, wenn man betrachtet, wie viel Geld sie nach Bezahlung ihrer Miete noch übrig haben? "Wohnarm" nennen das die Autoren der Studie. Und das Ergebnis? Die Armutsquote steigt von den offiziellen 15,5 Prozent auf bedrückende 22,3 Prozent. Das ist deutlich mehr als jeder Fünfte.
Grundlage dieser Berechnung sind dieselben Daten, die auch sonst der Armutsstatistik zugrunde liegen: die Daten einer Stichprobe des regelmäßigen Mikrozensus, die auch soziale Informationen abfragt, MZ-SILC.

In der EU wird üblicherweise, wie in der gesamten OECD, eine Armutsgrenze genutzt, die vom Median des Einkommens abgeleitet ist. Wer weniger als 60 Prozent dieses Einkommens zur Verfügung hat, gilt als arm. Aus der Definition lässt sich bereits erkennen, dass sich eine breite Verarmung, die die Mehrheit der Bevölkerung betrifft, so nicht messen lässt, weil der Median, also das Einkommen, das die gesamte Bevölkerung in zwei Teile teilt, in einer solchen Situation ebenfalls sinkt. Insofern führt, wenn man die Entwicklung der letzten 30 Jahre in Deutschland betrachtet, dieses Maß vermutlich noch immer zu einer Unterschätzung der Armut.
Was der Paritätische nun tat, war, den Median der Einkommen gewissermaßen um den Median der Wohnkosten zu bereinigen, also um Miete, Strom und Heizkosten, um auf diese Weise das verfügbare Einkommen zu erhalten. Die neue Armutsgrenze besteht also aus 60 Prozent des Medians des verfügbaren Einkommens. Für alleinlebende Erwachsene liegt sie bei 1.088 Euro; für Paare und Familien mit Kindern verändert sie sich entsprechend, nach den Regeln, nach denen auch in der sonst üblichen Berechnung das Einkommen gewichtet wird.
Dieser Schritt führt zur Aufdeckung einer bisher verdeckten Armut. Warum? Weil zwei Personen, die ein identisches Einkommen, aber sehr unterschiedliche Mieten haben, in völlig verschiedenen Umständen leben können. Und die Höhe der Miete ist in Deutschland weit davon entfernt, das Ergebnis einer bewussten Wahl des Mieters zu sein. Sie ist das Ergebnis eines Mietmarkts mit einem deutlich zu niedrigen Angebot.
In der Studie werden als Beispiel unter anderem zwei Rentnerinnen angeführt, die dieselbe (vergleichsweise hohe) Rente von 1.836 Euro beziehen. Die eine zahlt 450 Euro Warmmiete, weil sie seit Jahrzehnten in derselben Wohnung lebt; die andere musste umziehen, weil sie eine barrierefreie Wohnung brauchte, und zahlt 900 Euro Warmmiete. Die erste liegt mit dem ihr verbliebenen Einkommen nach Zahlung der Miete über der Armutsgrenze, die andere darunter.
Dass die Zahl der Menschen, die einen viel zu hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete aufwenden müssen, in Deutschland stetig steigt, ist seit Langem bekannt. Zuletzt war im Durchschnitt die Mietbelastung sogar leicht gesunken, aber die Zahl derer, die mehr als ein Drittel für die Miete ausgeben müssen, ist weiter gestiegen. Auch da liefert die Studie ein deutliches Ergebnis: Es sind vor allem die Menschen mit niedrigen Einkommen, die durch diese Mietbelastung arm werden, und der Abstand zwischen Arm und Reich steigt durch die Mietbelastung weiter.
Eine Armutsquote von 22,3 Prozent ist hoch. Das sind 5,4 Millionen Menschen, die arm sind, bisher aber gewissermaßen unsichtbar waren. Wobei sich die Armutsquote weiterhin nach Region unterscheidet. Die Spitze bildet Bremen, wo 33,4 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 28 Prozent, dann Hamburg und Berlin mit 25,9 und 24,6 Prozent. Auch in dieser Berechnung sind Baden-Württemberg und Bayern die – positiven – Schlusslichter mit 19,9 und 18,1 Prozent. Allerdings: Gerade bei den Mieten gibt es ein gewaltiges Gefälle zwischen Stadt und Land; würde man sich in Bayern und Baden-Württemberg auf die Metropolregionen beschränken, wäre der Unterschied zu Hamburg oder Berlin deutlich geringer.
Den deutlichsten Anstieg, und damit auch den höchsten Anteil bisher verdeckter Armut, gibt es in Hamburg. Dort ergibt die "normale" Armutsmessung eine Armutsquote von 16 Prozent; sie steigt um ganze 60 Prozent an, auf 25,9 Prozent der Bevölkerung, wenn das nach Abzug der Miete noch verfügbare Einkommen betrachtet wird. Den geringsten Anstieg, und damit auch den relativ geringsten Einfluss der Mieten auf die Armut, gibt es in Thüringen, wo sich die Quote von 15,7 auf 21,1 Prozent erhöht.
Die Altersverteilung, die sich in dieser Berechnung ergab, folgt weitgehend der Altersverteilung, die sich auch sonst bei der Armut in der Gesellschaft findet: Im Alter von 25 bis 65 ist die Armutsquote am niedrigsten, am höchsten ist sie zwischen 18 und 25 (was vor allem auf Azubis und Studenten zurückgeht), und mit der Rente steigt sie wieder deutlich an. Den stärksten Zuwachs durch die neue Berechnung gab es hier allerdings gerade bei den Rentnern; deren Armutsquote lag zuvor bei 19,4 Prozent und erhöhte sich mit der neuen Berechnung auf 28,8 Prozent.
Bei den Haushalten mit Kindern liegen, auch das ist nicht überraschend, die Alleinerziehenden bei der Zahl der Armutsbetroffenen vorn, gefolgt von "2 Erwachsenen mit 3 oder mehr Kindern". Das Verhältnis zwischen Einkommen und benötigtem Wohnraum ist besonders ungünstig, weshalb hier die ohnehin hohe Armutsquote von 27 Prozent auf ganze 40 Prozent emporschnellt. Auch bei den Arbeitslosen, einer weiteren Gruppe mit stets hohen Armutswerten, führt die Neuberechnung zu einer Zunahme: von 60,7 Prozent auf 69,4.
Die Annahme, dass der in Deutschland extrem hohe Anteil an Mieterhaushalten mit diesem Ergebnis zu tun haben könnte, bestätigt sich ebenfalls. Denn bei den Eigentümern steigt die Armutsquote, die ohne Einbeziehung der Wohnkosten bei 8,3 Prozent liegt (in diesem Fall sind das etwa Hypothekenzahlungen, Grundsteuer), auf 13,1 Prozent; bei den Mieterhaushalten jedoch von 22,3 auf 31,3. Damit ist fast jeder dritte Mieter arm, aber nur etwas mehr als jeder achte Eigentümer.
Im Durchschnitt geben die so identifizierten Armen 43,8 Prozent ihres Einkommens für die Wohnkosten aus, während es bei den Nicht-Armen nur 21 Prozent sind. In der Praxis bedeuten solche Werte, dass es sehr schnell zu Überschuldungsspiralen kommt, was sich mit den Daten von Schuldnerberatungen deckt. Auch Überbelegung von Wohnungen findet sich bei 26,4 Prozent der Armen (wobei das Kriterium, das hier genutzt wird, das von Eurostat stammt, noch deutlich unter dem klassischen des sozialen Wohnungsbaus liegt, also eine Überbelegung eher unterschätzt).
Nebenbei rief der Paritätische mit dieser Berechnung noch einmal ins Gedächtnis, wie weit das Bürgergeld unter der Armutsgrenze liegt. Denn die Regelleistung, die auch noch die Stromkosten mit beinhaltet, liegt bei 563 Euro; die Armutsgrenze nach Abzug der Wohnkosten jedoch bei 1.088 Euro, also bei nahezu dem Doppelten. Verschärft wird das noch durch die Tatsache, dass in vielen Fällen die Wohnkosten nicht vollständig anerkannt werden, weil sie überall durch eine Angemessenheitsgrenze gedeckelt sind. 2024, so der Paritätische, waren es insgesamt 494 Millionen Euro, die die Betroffenen aus dem Regelsatz zahlen mussten.
Allerdings wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Freigabe der Mietkosten kaum durchsetzbar. Zum einen, weil die Kosten der Unterkunft überwiegend von den ohnehin überforderten Kommunen gezahlt werden, und zum anderen, weil das den bereits jetzt viel zu hohen Mieten einen weiteren Schub nach oben verpassen würde.
Einer der Nebeneffekte des Problems der "Wohnarmut" ist, darauf weist die Studie ebenfalls hin, eine schlechte Verteilung der vorhandenen Wohnungen. Tatsächlich finden sich in vielen Fällen Rentner in großen Wohnungen, während Familien in zu kleinen Wohnungen gefangen sind. Aber weil es keine günstigen, kleineren Wohnungen gibt, können die großen Wohnungen gar nicht frei werden – in vielen Fällen würden sich die ehemaligen Mieter der großen Wohnung dann direkt in die Armut begeben, weil die neuen Mieten wesentlich höher sind.
Die Vorschläge, die der Paritätische in seinem Bericht gleich mitliefert, sind neben einer entsprechenden Anpassung der Sozialleistungen und kleineren rechtlichen Verbesserungen wie einem Verbot von Räumungen oder einem Mietendeckel eine Neubelebung des sozialen Wohnungsbaus über die wieder mögliche Wohngemeinnützigkeit, durch die Sozialwohnungen entstehen könnten, die ihre Sozialbindung nicht verlieren.
Allerdings: Selbst in der Bundesrepublik fand die Ausbauphase des sozialen Wohnungsbaus zwischen 1950 und 1970 unter anderen Bedingungen statt, zu denen unter anderem eine gesetzliche Mietobergrenze gehörte, und Begrenzungen in den Subventionierungsmöglichkeiten, wie sie das EU-Wettbewerbsrecht erzwingt, waren noch unbekannt.
Die unangenehme Erkenntnis, die dieser Bericht vermittelt, ist jedenfalls, dass die Armut in Deutschland größer ist, als bisher angenommen wurde. Über 18 Millionen Arme – das sollte ein Alarmsignal sein. Viel mehr als die vorübergehende Aufmerksamkeit in der Vorweihnachtszeit dürfte er jedoch nicht erreichen.
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