
"Faschistische Denkweise lebt heute auf" – über das Fortbestehen der Nazi-Netzwerke
Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
Bei der Gedenkfeier der Gesellschaft für Deutsch-Russische Freundschaft (GDRF) anlässlich des 80. Jahrestags der Nürnberger Prozesse (RT DE berichtete) fand ein Podiumsgespräch mit dem DDR-Juristen Hans Bauer statt. Bauer war der Stellvertretende Generalstaatsanwalt in der DDR. In seinen Redebeiträgen am Abend kritisierte er in Bezug auf das Thema Nürnberg die mangelhafte Entnazifizierung in der BRD. Als Zeitzeuge wusste er von vielen interessanten Details zu berichten.
So hatte er selbst den sowjetischen Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen Roman Rudenko bei einer Ehrung in der DDR kennengelernt. Bereits während des Prozesses habe eine sowjetfeindliche Politik die Oberhand gewonnen, spätestens seit dem Frühjahr 1946 mit Winston Churchills Rede vom Eisernen Vorhang. Diese sei der Wendepunkt im Verhältnis zur Sowjetunion gewesen, auch wenn der Kalte Krieg letztendlich schon mit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki begonnen hätte. Nur dieses eine Verfahren in Nürnberg hätten alle vier Siegermächte gemeinsam durchgeführt, es seien jedoch 13 weitere geplant gewesen. Die weiteren Verfahren hätten die Siegermächte allerdings jeweils getrennt in ihren eigenen Besatzungszonen veranlasst.

Beide deutsche Staaten seien in der Folgezeit bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen ganz unterschiedliche Wege gegangen, wobei die BRD in manchen Bereichen bei der Ahndung der NS-Verbrechen sehr nachlässig vorgegangen sei. So musste der Bundesgerichtshof bei den Verfahren gegen DDR-Juristen selbstkritisch eingestehen, dass in der BRD kein einziger Nazirichter verurteilt worden sei. Bauer nannte auch Zahlen: Im weitaus bevölkerungstärkeren Teil Nachkriegsdeutschlands, der BRD, seien nur 7.000 Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher verurteilt worden (genau genommen 6.495), in der kleineren DDR dagegen 13.000, also fast doppelt so viele. Zudem müsse man einbeziehen, dass der entsprechende Personenkreis eher in die BRD geflohen als in der DDR geblieben sei. Wer überhaupt in der BRD angeklagt worden sei, habe meist eine milde Strafe erhalten. Wenn es überhaupt zu Gefängnisstrafen gekommen sei, seien die Betreffenden meist nach kurzer Zeit wieder entlassen worden.
Die Aufarbeitung der "braunen Pest", so Bauer, sei in der BRD zwar ansatzweise durchgeführt, aber nie konsequent vorangetrieben worden. Die DDR habe dagegen noch im Jahr 1987 ein Verfahren gegen einen bis 1986 untergetauchten früheren SS-Mann namens Henry Schmidt geführt. Erst in den 90er-Jahren habe sich in der BRD diese nachsichtige Haltung geändert, nachdem viele der mutmaßlichen Täter bereits verstorben waren. Auch habe man zwar die Verjährungsfrist für Mord aufgehoben, nicht aber für Totschlag, was eine Aufarbeitung von NS-Verbrechen ebenfalls erschwert habe. Die Todesstrafe habe man bereits in der Frühzeit der BRD abgeschafft, was ebenfalls den NS-Tätern zugute gekommen sei.
Bauer berief sich an dieser Stelle auf einen niederländischen Forscher und konstatierte, in beiden deutschen Staaten sei nach dem "Unsere Leute"-Prinzip, die es zu schützen gegolten habe, verfahren worden. Während jedoch für die DDR "unsere Leute" die NS-Verfolgten, die Opfer des NS-Regimes gewesen seien, habe die BRD die NS-Funktionsträger als "unsere Leute" geschützt. Viele Juristen, die in der NS-Zeit Unrechtsurteile gesprochen oder anderweitig die Nationalsozialisten durch ihr juristisches Fachwissen unterstützt hätten, hätten nach dem Krieg in der BRD weitergemacht. Der Name Hans Filbinger (in der NS-Zeit ein Marinerichter, der Todesurteile verhängte) sei da zu erwähnen, aber auch andere.
Bauer nannte als weiteres flagrantes Beispiel Konrad Adenauers Kanzleramtsminister Hans Globke, den er einen Schreibtischmörder hieß. Globke hatte 1936 einen juristischen Kommentar zu den berüchtigten Nürnberger Gesetzen, die Juden ausgrenzten und endgültig aus der deutschen Gesellschaft ausschlossen, verfasst. Es besteht auch der Verdacht, dass er 1941 für den (ab 1939) deutschen Satellitenstaat Slowakei einen "Kodex des jüdischen Rechts" erarbeitete, mit dem auch dort die Entrechtung und Enteignung der Juden eingeleitet wurde.
Da Globke nie Mitglied der NSDAP gewesen war und Kontakte zu Widerstandskreisen unterhalten hatte, konnte er seine Karriere nach dem Krieg fortsetzen. Die Protegierung durch US-amerikanischen Stellvertretenden Chefankläger in Nürnberg Robert Kempner tat ihr Übriges. So konnte Globke schließlich als Kanzleramtschef Adenauers "rechte Hand" und "graue Eminenz" werden. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob der für Personalfragen zuständige Globke für seinen Kanzler, der als aus der Weimarer Zeit stammender katholischer Politiker eigentlich Nazi-Gegner war, die Verbindung mit den überlebenden Funktionseliten der NS-Zeit herstellte. Nach Ansicht des Historikers und Juristen Klaus Bästlein, war Globke maßgeblich an der "Renazifizierung der Bonner Minister-Bürokratie" beteiligt. Zusammen mit seinem Kanzler trat Globke 1963 mit Erreichen der Altersgrenze für die Pensionierung in den Ruhestand.
Anlässlich des 75. Jahrestages der Nürnberger Prozesses hatte der Journalist Florian Warweg moniert, dass Globkes Porträt noch immer im Bundeskanzleramt hänge. Vergeblich. Im Januar 2025, als sich die Nürnberger Prozesse zum 80. Mal jährten, "zierte" Globkes Porträt immer noch das Bundeskanzleramt, wenn auch um ein "nicht wertendes" Infoschildchen ergänzt. Während Globke immer noch Träger des Bundesverdienstkreuzes (als "Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland") ist, entzog Österreich dem 1973 verstorbenen Globke im Jahr 2023 den 1956 verliehenen Orden "Goldenes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich". Deutsches Recht verhindert bisher die Aberkennung von Orden bei bereits verstorbenen Personen.
Während eine juristische Aufarbeitung Globkes Wirkens in der NS-Zeit in der BRD durch die Intervention Adenauers gescheitert war (der berühmte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte Globke 1961 wegen Verdachts auf Mitwirkung am Holocaust an den griechischen Juden anklagen wollen), hatte die DDR-Justiz Globke 1963 für schuldig erklärt und zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Auf den BRD-Funktionsträger Globke hatte dies jedoch kaum Auswirkungen, wenn man davon absieht, dass er sich – wohl wegen seiner NS-Verstrickung – nicht in der Schweiz niederlassen durfte. Zu Lebzeiten Globkes hielten sein Chef Adenauer sowie der BND und die CIA ihre schützende Hand über ihn, heute tut die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) dies immer noch, indem sie den Zugang zu den Globke-Akten streng reglementiert. Die KAS selbst wiederum spricht verharmlosend von einem "Mythos Globke-Akten".
Bauer erinnerte in Nürnberg daran, dass die DDR 1965 das sogenannte Braunbuch veröffentlicht hatte, das die NS-Vergangenheit vieler BRD-Größen aufdeckte, irrt jedoch in Bezug auf Globke: Er musste keineswegs wegen seiner NS-Verstrickung abtreten, sondern wurde mit Erreichen der Altersgrenze 1963 ordnungsgemäß pensioniert. Damals, als die DDR ihren Prozess gegen Globke führte, war Bauer noch Student. Sein damaliger Chef war der Hauptankläger (Generalstaatsanwalt Josef Streit).
Bauer monierte auch, dass in Nürnberg zwar mit Wilhelm Keitel der Oberbefehlshaber der Wehrmacht verurteilt wurde, nicht jedoch die deutsche Wehrmacht als Gesamtheit. Im Gegensatz zur SS sei die Wehrmacht nicht als verbrecherische Organisation gebrandmarkt worden. Dies habe gerade in der BRD Folgen gehabt. Die Wehrmacht habe im Westteil Deutschlands als etwas nahezu Ehrenwertes gegolten. Und das habe so manchem Auftrieb gegeben, in den Nachkriegsjahren die Wehrmacht falsch darzustellen und zu verharmlosen – ein Vorgehen, das bis heute nachwirke. Man habe so getan, als habe es sich um einen ehrenhaften Kampf gehandelt, einen Kampf unter militärischen Kollegen. Dabei hätten ohne die Wehrmacht die nationalsozialistischen Verbrechen gar nicht stattfinden können.
Dies ist zwar unbestritten. Nur: Eine pauschale Aburteilung der Wehrmacht wäre schwer möglich gewesen, da die Mitgliedschaft – im Gegensatz zu SS – abgesehen von Berufssoldaten nicht freiwillig war und die Nationalsozialisten die Verweigerung des Kriegsdienstes mit dem Tode bestraften.
Tatsächlich war die Wehrmacht tief in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickt, ja sie wären ohne ihre Beteiligung gar nicht möglich gewesen. Das betrifft das Aushungern der Leningrader Stadtbevölkerung mit über einer Million ziviler Opfer; dieses wurde durch den Belagerungsring deutscher und finnischer Truppen, der keine Lebensmittel mehr in die belagerte Stadt ließ, sowie durch die Bombardierungen der deutschen Luftwaffe, die die Lager mit Lebensmittelvorräten zerstörte, absichtlich herbeigeführt. Das erbarmungslose Bombardieren von Städten wie die Zerstörung Stalingrads mit 40.000 Opfern an nur einem Tag kommt als weiteres Generalverbrechen hinzu.
Es waren die Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht, in den gefangene Sowjetsoldaten millionenfach dem Hunger- und Erfrierungstod ausgesetzt wurden – sei es in den Durchgangslagern in Frontnähe oder in den festen Kriegsgefangenenlagern in der Heimat. Wehrmachtssoldaten dienten dort als Bewacher, dokumentierten brieflich das elende Sterben der Gefangenen und kommentierten Fotos, auf denen die verzweifelte Nahrungssuche der Verhungernden abgebildet wurde, hämisch mit den Worten: "Russen beim Grasfressen".
Auch bei der Niederschlagung des Widerstands der Warschauer Juden half die Wehrmacht mit. So konnte SS-Brigadegeneral Jürgen Stroop berichten: "Je länger der Widerstand andauerte, desto härter wurden die Männer der Waffen-SS, der Polizei und der Wehrmacht, die auch hier in treuer Waffenbrüderschaft unermüdlich an die Erfüllung ihrer Aufgaben herangingen und stets beispielhaft und vorbildlich ihren Mann standen. Der Einsatz ging oft vom frühen Morgen bis in die späten Nachtstunden." Und weiter: "Mutig kletterten dann die Männer der Waffen-SS oder der Polizei oder Pioniere der Wehrmacht in die Schächte hinein, um die Juden herauszuholen, und nicht selten stolperten sie dann über bereits verendete Juden, oder sie wurden beschossen." Stroop erklärt: "Es ist festzustellen, dass auch die Pioniere der Wehrmacht die von ihnen vorgenommenen Sprengungen von Bunkern, Kanälen und Betonhäusern in unermüdlicher einsatzfreudiger Arbeit vollbrachten."
Bauer musste auch die Bemerkung eines Fragestellers bejahen, der darauf hinwies, dass damals in Nürnberg auch Kollaborateursverbände wie die kroatische Ustascha und Stepan Banderas Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) nicht als verbrecherische Organisationen verurteilt wurden (eine Nachlässigkeit, die es heute ermöglicht, dass die ukrainische Asow-Kampftruppe in Deutschland Werbung für sich betreiben kann). Die Zeit ließ es nicht zu, auf das Nachkriegsbündnis britischer und vor allem US-amerikanischer Geheimdienste mit diesen Gruppierungen näher einzugehen. So konnte Bauer nur darauf hinweisen, dass es in Nürnberg erst einmal um die deutschen Machthaber, den deutschen Faschismus gegangen sei. Es sei damals eben auch etwas völlig Neues gewesen, Individuen zur Verantwortung zu ziehen, "weil sie einen wirklich verbrecherischen Staat organisiert haben".
Angesichts der mangelhaften Aufarbeitung der NS-Verstrickung bundesdeutscher Eliten zog Bauer den Schluss: "Dieser Neofaschismus ist auch ein Stück des alten Faschismus." Die faschistische Denkweise sei erhalten geblieben und lebe heutzutage wieder auf. Die alte deutsche Tradition der Feindschaft gegen Russland werde heute in vielerlei Hinsicht fortgesetzt, warnte Bauer. Es werde heute wieder zum Krieg gegen Russland aufgerufen und Kriegstüchtigkeit und Siegessicherheit verkündet. Auch sei der Kalte Krieg bis heute nicht beendet. Der Kampf um die Ahndung der NS-Verbrechen sei ein harter Kampf und nur teilweise erfolgreich gewesen. Die Lehren von Nürnberg seien zwar nicht vergessen, würden aber nicht verwirklicht. Dabei bestehe die Verpflichtung, sie auch umzusetzen.
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