
Kriegstüchtigkeit gottgewollt? Die religiöse Verbrämung der deutschen Aufrüstung

Von Astrid Sigena
Bevor es richtig herbstlich wird, finden in zahlreichen bundesdeutschen Institutionen noch die letzten diesjährigen Sommerfeste statt. Auch die evangelische Militärseelsorge hielt in der Berliner Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche ihr Sommerfest ab. Auf den veröffentlichten Bildern kann man Militärbischof Bernhard Felmberg sehen, wie er vor den prachtvollen, goldglänzenden Mosaiken im Altarraum der Kirche predigt.
Als Gastredner war der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel geladen. Seine Rede hatte es den Medienberichten zufolge in sich. Neitzels Worte zur sogenannten "Zeitenwende" klingen, als sei der Krieg mit Russland für ihn schon eine ausgemachte Sache. Die aus seiner Sicht zu behäbigen Strukturen in der Bundeswehr nannte Neitzel eine "Friedensbürokratie". Es sei zwar nach dem Beginn des Ukrainekrieges 2022 in der Bundeswehr einiges unternommen worden, aber das reiche nicht. Es sei für ihn fraglich, ob die Bundeswehr und mit ihr die NATO die richtigen Schlüsse aus dem Ukrainekrieg zögen. Neitzels Fazit: Offenbar sei es so, dass Armeen nur in Kriegen und durch militärische Niederlagen lernten.

Für Neitzel ist es "eine Verantwortung vor Gott", die Bundeswehr zu reformieren und eine schnelle und effiziente Armee zu schaffen. Neitzel wörtlich: "Wir leben eben nicht mehr im Frieden". Es gebe eine Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die in einem Krieg kämpfen müssten. Von der Verantwortung, einen solchen Krieg zu verhindern, schweigt Neitzel hingegen.
Neitzels Klagen über den bürokratischen Wasserkopf in der Bundeswehr sind altbekannt, er hat sie schon oft wiederholt. Immer wieder mahnt er die Verantwortlichkeit der Politiker an, das deutsche Militär gut auszustatten. Ansonsten würden die Verantwortlichen im Ernstfall hilflos vor den Gräbern der aufgrund von mangelhafter Ausstattung unnötig gefallenen Soldaten stehen. Neu ist die religiöse Argumentation, die die aus seiner Sicht erforderliche Kriegstauglichkeit der Bundeswehr mit dem christlichen Glauben verknüpft. So deutlich hatte bisher noch keiner die deutsche Aufrüstung aus göttlichem Willen hergeleitet.
Dabei ist die Verquickung von militärischer und geistlicher Aufrüstung eines der Charakteristika der von Bundeskanzler Scholz 2022 verkündeten Zeitenwende. So arbeitet Militärbischof Felmberg analog zum (selbstverständlich streng geheimen) Operationsplan Deutschland der Bundeswehrführung an einem von ihm sogenannten "geistlichen Operationsplan Deutschland" (offizielle Bezeichnung: "Seelsorge und Akutintervention im Spannungs- und Verteidigungsfall"). Er rechne im Verteidigungs- oder Bündnisfall mit vielen Verwundeten und Toten, und darauf müsse die Militärseelsorge angemessen vorbereitet sein. Durchaus realistisch, denn Berechnungen eines Militärarztes aus dem Jahr 2019 zufolge müsste die Bundeswehr von 900 Toten und Verletzten pro Tag an der Front im Osten ausgehen (RT DE berichtete).
Einem breiteren Publikum dürfte Bischof Felmberg bekannt geworden sein, als das ZDF im vergangenen Advent einen Fernsehgottesdienst aus der Bundeswehrgarnison im litauischen Rukla übertrug. Durch die Fernsehübertragung sollte das heimische Publikum in Deutschland "auch mehr über den Einsatz der Bundeswehr und das Leben der Soldat:innen erfahren", so das Online-Portal der EKD evangelisch.de. Also letztlich Werbung für den in Deutschland durchaus nicht unumstrittenen Einsatz der Brigade Litauen nahe der Suwalki-Lücke, einem der geopolitisch brenzligsten Orte der Welt.
Trotz der angekündigten Einspieler von deutschen Panzern im Übungseinsatz wurde es dann ein Akt der Selbstverharmlosung der Bundeswehr als eine Art bewaffneter Pfadfindertruppe. So schreckte man nicht zurück, die alte Protesthymne der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung "We shall overcome" für sich zu vereinnahmen. Das Lied war während der Friedensbewegung der 80er-Jahre auch in (West-)Deutschland sehr populär geworden. Ganz offensichtlich wollte man die Brigade Litauen dem ZDF-Zuschauer als Teil einer Friedensbewegung verkaufen, nicht (wirklichkeitsgetreuer) als Vorposten der gegen Russland vorrückenden NATO.
Nicht weniger bedenklich, wenn auch medial weniger auffällig, ist die Beteiligung der katholischen Kirche an der geistlichen Mobilmachung Deutschlands. So ist der Bundeswehrprofessor und Autor des alarmistischen Szenarios "Wenn Russland gewinnt", Carlo Masala, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Der katholische Militärbischof Overbeck betrachtet den Ukrainekrieg gar als einen "Systemkrieg" Russlands, der auch Europa herausfordere. Anklänge an den Weltanschauungskrieg der 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind da nicht mehr fern. Einen Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front im Kriegsfall mag er nicht ausschließen: "Ich fürchte, dass es in einer kriegerischen Auseinandersetzung in einer Armee keine Komfortzonen mehr geben wird", so Franz-Josef Overbeck.
Im Gegensatz zur Gefängnis- oder Krankenhausseelsorge beschränkt sich die Militärseelsorge nicht auf die Betreuung der Soldaten in geistlichen oder seelischen Nöten, die seelsorgerische Begleitung von Verwundeten oder die Trostspendung für trauernde Hinterbliebene. Sie dient vielmehr auch der ideologischen Schulung. Mit dem (seit 2009) für alle Bundeswehrsoldaten verpflichtenden Lebenskundlichen Unterricht spielt sie eine entscheidende Rolle bei der Prägung von Weltanschauung und dienstlicher Pflichtauffassung bei den Soldaten.
Angeblich soll diese Pflichtveranstaltung der Persönlichkeitsentwicklung und der Schärfung der politischen und ethischen Urteilsfähigkeit der Soldaten dienen und im Rahmen freier und vertrauensvoller Gespräche stattfinden. Wie wenig dieser hehre Ansatz der Wirklichkeit entspricht, zeigt der Fall eines Soldaten, der wegen Religionskritik im Rahmen eines Seminars zum Thema "Islam" eine Abmahnung erhielt. Widerspruch gegen die Ausrichtung der Bundeswehr gegen Russland dürfte ebenso wenig erwünscht sein.
Innerhalb der Kirchen gibt es nur wenig Widerstand gegen den geistlichen Einsatz für die Militarisierung Deutschlands. Offenbar findet das Narrativ vom bedrohlichen Russen auch unter katholischen und evangelischen Christen übermäßigen Anklang. Das zeigte der evangelische Kirchentag in Hannover vom vergangenen Mai, wo eine Resolution gegen die Stationierung US-amerikanischer Langstreckenwaffen in Deutschland keinen Zuspruch fand. Die Friedensbewegten kamen beim offiziellen Programm des Kirchentags nicht mehr vor, sie organisierten dann eine Alternativveranstaltung. Stattdessen boten die evangelischen Christen auf dem Kirchentag dem CDU-Falken und Russenfresser Roderich Kiesewetter eine Bühne und empfingen ihn mit freundlichem Applaus (RT DE berichtete).
Dies alles zeigt, dass von den beiden Großkirchen kein nennenswerter Widerstand gegen die Militarisierung Deutschlands zu erwarten ist. Im Gegenteil: Sie sind daran eifrig beteiligte Akteure. Aus der verhängnisvollen kirchlichen Anbiederung an die Machthaber vergangener Zeiten samt ihrer fehlgeschlagenen Kriegsprojekte Richtung Osten haben die Geistlichen offenbar nichts gelernt.
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