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Knatsch in Partei und "GroKo" wegen "Manifest": SPD steht mit Abrüstung und Diplomatie auf Kriegsfuß

Die neue Bundesregierung ist noch keine hundert Tage im Amt, da steht ihr bereits massiver Ärger ins Haus. Eine abrüstungs- und friedenspolitische Initiative von SPD-Politikern offenbart die Spannungen in der Partei selbst, aber auch die gegensätzlichen Strömungen in den Regierungsparteien.
Knatsch in Partei und "GroKo" wegen "Manifest": SPD steht mit Abrüstung und Diplomatie auf KriegsfußQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Christoph Hardt via ww.imago-images.de

Zuerst war der Stern gestern mit der Meldung herausgekommen: Eine Gruppe von teils hochrangigen SPD-Politikern hat ein "Manifest" veröffentlicht, das ein Umdenken in der Außen- und Sicherheitspolitik fordert. Damit stellen die Genossen den antirussischen Aufrüstungskurs der Parteiführung und die Linie von SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius in Frage. Gleichzeitig markiert das Papier eine potenzielle Bruchlinie in der noch jungen "Großen Koalition".

Diplomatie

An vorderster Stelle der Initiative, die an die entspannungspolitische Tradition der Sozialdemokratie anknüpfen will, stehen Rolf Mützenich, ehemaliger Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Ralf Stegner, sowie der ehemalige Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans und der frühere Finanzminister Hans Eichel. Mit dabei sind auch der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt und Russlandbeauftragte Gernot Erler, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ehrenpräsident des "Club of Rome", der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, Peter Brandt sowie zahlreiche weitere, meist frühere Politiker und Funktionsträger der SPD. Zu den Unterstützern zählen darüber hinaus (ehemalige) Gewerkschaftsfunktionäre, Kirchenleute, aber auch Intellektuelle, teilweise aus dem Umfeld der Linkspartei. Der Namenszusatz "a.D." ist in der langen Liste der Erstunterzeichner schon rein optisch auffällig.

Das Grundsatzpapier steht unter dem Titel "Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung" und beginnt mit dem Eingangssatz "80 Jahre nach Ende der Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Hitler-Faschismus ist der Frieden auch in Europa wieder bedroht."

Im Kern fordern die prominenten Sozialdemokraten eine unverzügliche Wende in der Außenpolitik und eine Abkehr vom Aufrüstungskurs der Bundeswehr. Die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, die bereits für 2026 geplant ist, wird abgelehnt, und das NATO-Ziel, fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär aufzuwenden, als "irrational" bezeichnet.

So sprechen sich die Unterzeichner für eine "möglichst schnelle Beendigung des Tötens und Sterbens in der Ukraine" aus. Um dies zu erreichen, plädieren sie für "eine Intensivierung der diplomatischen Anstrengungen aller europäischen Staaten". Ein indirektes Verständnis für die russischen Forderungen signalisiert der Zusatz, dass die Unterstützung für die Ukraine "mit den berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität" in Einklang gebracht werden müsse, allerdings ohne Moskau zu nennen. Die Verfasser möchten den "außerordentlich schwierige(n) Versuch" unternehmen, "wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen" – allerdings erst "nach dem Schweigen der Waffen". Ziel müsse es sein, "auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa" zu verhandeln.

Davon sei man jedoch noch weit entfernt, wie es in der Einleitung heißt:

"Im Gegenteil: In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen. Frieden und Sicherheit sei nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden."

Zwar sprechen sich die Unterzeichner für eine "verteidigungsfähige Bundeswehr" und die "Stärkung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas" aus, sie warnen jedoch auch:

"Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen NATO und Russland."

In diesem Sinne fordert das SPD-"Manifest" den "Stopp eines Rüstungswettlaufs". Die Sicherheitspolitik müsse sich stattdessen an einer "wirksamen Verteidigungsfähigkeit orientieren". Das derzeitige "Prinzip der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung" lehnen die Genossen ab und sprechen sich für eine "defensive Ausstattung der Streitkräfte" aus, "die schützt, ohne zusätzliche Sicherheitsrisiken zu schaffen".

Scharf ins Gericht gehen die überwiegend linken Sozialdemokraten auch mit dem von der NATO festgelegten Aufrüstungs-Prozentziel in Gericht: "Für eine auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt es keine sicherheitspolitische Begründung. Wir halten es für irrational, eine am BIP orientierte Prozentzahl der Ausgaben für militärische Zwecke festzulegen." Die verfügbaren Ressourcen sollten besser in die "Armutsbekämpfung, für Klimaschutz und gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen" investiert werden.

Neben der Ablehnung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland wollen die Sozialdemokraten an der Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung festhalten, die im Atomwaffensperrvertrag festgelegt ist, für den im kommenden Jahr eine turnusgemäße Überprüfungskonferenz ansteht, deren Ausgang ungewiss ist.

Zudem erhebt das SPD-Papier die Forderung, dass der ebenfalls im nächsten Jahr auslaufende New Start-Vertrag zur Verringerung der Anzahl strategischer Waffen zwischen den USA und Russland erneuert werden muss. Ohne die Bundesregierung direkt anzusprechen, sprechen sich die Genossen für "neue Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen sowie Diplomatie und Abrüstung in Europa" aus.

Schließlich bekräftigt das "Manifest" den Willen, zumindest "schrittweise" eine "Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland" herbeizuführen. In diesem Zusammenhang ist auch von einer "Berücksichtigung der Bedürfnisse des Globalen Südens" die Rede. Begründet wird diese Aussage mit einem klimapolitischen Bekenntnis – "insbesondere auch zur Bekämpfung der gemeinsamen Bedrohung durch die Klimaveränderungen".

Schließlich fordern die Politiker in dem Papier, dass sich weder Deutschland noch die EU "an einer militärischen Eskalation in Süd-Ost-Asien" beteiligen.

Ablehnung innerhalb der SPD

Die Reaktionen auf diesen Vorstoß ließen nicht lange auf sich warten. Scharfe Kritik kam nicht nur aus der SPD-Fraktion. Auch aus der Union hagelte es Protest, ebenso ist von Grünen und FDP Kritik zu erwarten. So sprach der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Adis Ahmetovic, von einem "inhaltlich in weiten Teilen fragwürdigen Papier", dessen Inhalt "nicht Beschlusslage in der Fraktion oder Partei" sei. Selbst auf einem Bundesparteitag würde es "keine Mehrheit finden", so Ahmetovic laut der Welt. Bundesverteidigungsminister Pistorius machte aus seiner Ablehnung ebenfalls keinen Hehl und erklärte gegenüber dpa:

"Dieses Papier ist Realitätsverweigerung. Es missbraucht den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Ende des furchtbaren Krieges in der Ukraine. Nach Frieden."

Der deutsche Militärminister begründete seine Ablehnung diplomatischer Initiativen mit den üblichen Behauptungen über den russischen Präsidenten: "Verhandlungen bricht er ab. Und wenn er sie führt, bombardiert er gleichzeitig mit noch größerer Härte und Brutalität die Städte in der Ukraine."

Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Matthias Miersch, ging sogleich auf Distanz, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet. Miersch wörtlich über das "Manifest": "Das ist legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile."

Scharfe Kritik kam auch von dem früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Roth per Twitter/X: "Dieses 'Manifest' ist kein spannender Debattenbeitrag, sondern eine weinerliche Melange aus Rechthaberei, Geschichtsklitterung und intellektueller Wohlstandsverwahrlosung."

Ein weiterer ehemaliger SPD-Abgeordneter, der frühere Verteidigungspolitiker Fritz Felgentreu, versuchte sich in Sarkasmus und Ironie und wird vom Focus mit folgenden Worten zitiert: "Die letzten sozialdemokratischen Protagonisten einer gescheiterten Politik und ehemalige Protagonisten, die sich hinter sie stellen, beschwören die Zauberformeln von 1982 - was in einer überalterten Partei durchaus Wirkung zeigen kann."

Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Falko Droßmann, distanzierte sich gegenüber dem Portal t-online ebenso von der abrüstungs- und entspannungspolitischen Initiative:

"Das Ziel sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik ist schon immer die Bewahrung des Friedens in Freiheit und Sicherheit gewesen. Zur Bewahrung dieses Friedens zwingt uns Russland, Sicherheitsvorsorge für unsere europäischen Partner und für uns zu leisten."

Opposition zeigt sich entsetzt

Britta Haßelmann, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, lehnte die Forderungen der linken SPD-Politiker erwartungsgemäß ab. Laut dem Focus sagte sie: "Wir alle wünschen uns Frieden, und niemand sehnt ihn mehr herbei als die Menschen in der Ukraine. Leider wurden alle Versuche, einen Waffenstillstand zu erreichen oder Friedensgespräche zu führen, von Präsident Putin durchkreuzt und abgelehnt."

Wie ebenfalls zu erwarten, geißelte der CDU-Außen- und Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter die sozialdemokratische Initiative:

"Ungeheuerlich. Damit will man die [Ukraine] der Vernichtungsabsicht Russlands ausliefern & uns mit! Wann wird begriffen, daß RUS nicht verhandeln& keinen Frieden will. RUS muss mil &pol unter Druck geraten: mit mehr mil. Unterstützung für [Ukraine] + stärkeren Sanktionen"

Für die FDP meldete sich die Rüstungslobbyistin und EU-Parlamentarierin Marie-Agnes Strack-Zimmermann zu Wort und griff die SPD-Partei- und Fraktionsführung an. Von Bundeskanzler Merz verlangte sie, notfalls die Vertrauensfrage zu stellen:

"Das Schweigen von @larsklingbeil und Matthias Miersch zum 'Manifest' ist ohrenbetäubend dröhnend. Die SPD-Spitze muss sich sofort erklären, ob sie hinter der Außenpolitik der neuen Bundesregierung steht. Tut sie dies nicht, sollte der Bundeskanzler bereits jetzt über die Vertrauensfrage im Bundestag nachdenken."

Die Bild-Zeitung bot dem ukrainischen Botschafter in Deutschland eine Plattform. Alexei Makejew mokierte sich über das SPD-Papier: "Zunächst dachte ich, es handele sich um eine erweiterte Neuauflage des alten Manifests von Wagenknecht und Schwarzer." Wie schon sein Vorgänger ließ der Vertreter der Ukraine jedwede diplomatische Zurückhaltung vermissen und mischte sich mit stark abwertenden Aussagen in die innerdeutsche Debatte ein. Der sprach von einem "moralischen Tiefpunkt" und "Täter-Opfer-Umkehr". Sekundiert wurde ihm dabei vom deutschen Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends, der gegenüber Bild das "Manifest" scharf attackierte:

"Die Verfasser leben geistig in den 1980er-Jahren. Damals war die Sowjetunion eine Status-quo-Macht, mit der man verhandeln konnte. Heute haben wir es mit Putins Russland zu tun – einer aggressiv-revisionistischen Macht, die Angriffskriege führt." Darüber hinaus behauptete Behrends: "In dem Papier wird konsequent der Unterschied zwischen Demokratien und Diktaturen eingeebnet. Es geht von der falschen Annahme aus, dass Russland und China dasselbe Interesse an Frieden und Stabilität haben wie der Westen."

Unterstützung

Wohlwollend und erleichtert äußerten sich dagegen die NachDenkSeiten – "endlich" komme von prominenten SPD-Politikern die Forderung nach einer anderen "Russland-Politik". Der Kommentar begrüßte das Papier als "aus zahlreichen Gründen gut und überfällig" – nicht zuletzt, "um das irre 'Fünf(zig)-Prozent-Ziel' der radikalen NATO-Militaristen noch zu verhindern".

Inzwischen kann das "Manifest" auch von der breiten Öffentlichkeit per Online-Unterschrift über die Plattform OpenPetition unterstützt werden.

Ende Juni veranstaltet die SPD ihren nächsten Bundesparteitag. Etwa zur selben Zeit findet der NATO-Gipfel statt, auf dem die massive Erhöhung der Militärausgaben festgelegt werden soll.

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