WSI: Mehr als jeder zehnte Deutsche lebt in "strenger Armut"
Das gewerkschaftliche Wirtschaftsforschungsinstitut WSI hat seinen Verteilungsbericht für 2024 vorgelegt. Darin wird unter anderem festgestellt, dass der Anteil der Armen im Jahr 2021 bei 17,8 Prozent lag; im Jahr 2010 lag er noch bei 14,2 Prozent. Noch stärker stieg der Anteil der Bundesbürger, die in "strenger Armut" leben – von 7,8 auf 11,3 Prozent.
Wie bei allen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich auf langfristige Forschungsdaten wie das Sozioökonomische Panel (SOEP), eine jährliche Befragung von 20.000 Personen in Deutschland, stützen, sind die Zahlen nicht ganz aktuell, weil die Aufbereitung der Datenmenge zeitaufwendig ist. Dafür bieten sie verlässliche Informationen über die langfristige Entwicklung. Sie belegen, wie kritisch die Situation bereits im Jahr 2021 war; die hohe Inflation ab 2022, insbesondere bei Nahrungsmitteln und Energie, wird noch einmal zu einer deutlichen Verschärfung geführt haben, sich aber in den Sozialdaten erst mit Verzögerung abbilden.
Die erste wichtige Grenze ist das Einkommen, ab dem nach den damaligen Daten jemand als arm beziehungsweise streng arm zu gelten hat; viele Deutsche unterschätzen diesen Wert. Das monatliche Haushaltsnettoeinkommen, mit dem jemand im Jahr 2021 als arm gilt, lag bei 1.346 Euro für eine alleinstehende Person – das entspricht 60 Prozent des Einkommensmedians. Der Median ist das arithmetische Mittel aller Einkommen, das heißt, die Hälfte aller Erwerbstätigen verfügt über ein geringeres, die andere Hälfte über ein höheres Einkommen. Im betreffenden Zeitraum lag er bei 2.244 Euro. Strenge Armut begann bei 1.121 Euro netto im Monat. Das WSI betrachtet noch eine weitere Gruppe, die Prekarität genannt wird. Deren Einkommen liegt zwischen 60 und 80 Prozent des Medians. Reichtum beginnt übrigens in der Sozialforschung bei 200 Prozent des Medianeinkommens, das wäre für 2021 also ein Nettoeinkommen von 4.488 Euro für eine einzelne Person.
Im gesamten Zeitraum von 2010 bis 2021 ist interessanterweise der Bevölkerungsanteil der Einkommen, die als obere Mitte definiert sind (100 bis 150 Prozent des Medianeinkommens) stabil geblieben; aber in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung stieg der Anteil der Armen, während die Gruppen der Prekarität und der unteren Mitte abnahmen.
Das klingt sehr abstrakt, hilft aber vor allem, auch das eigene Einkommen realistisch zu beurteilen. Aufschlussreicher sind die konkreten Folgen, wenn abgefragt wird, was sich die Menschen noch oder nicht mehr leisten können. Immerhin 5,4 Prozent der oberen Mitte gab vor drei Jahren schon an, keine Rücklagen bilden zu können; bei den Armen waren es bereits 42,8 Prozent. Freunde zum Essen einzuladen konnten sich in der oberen Mitte nur 0,4 Prozent nicht leisten, aber 13,7 Prozent der Armen. Dementsprechend unterschieden sich auch die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation: Bei den Armen gaben 24,5 Prozent an, sich große Sorgen darum zu machen, bei der oberen Mitte waren es noch 7,8 Prozent.
Einen ersten Blick auf das, was die Daten in der Zukunft bringen werden, zeigt die Veränderung bei den Sorgen um den eigenen zukünftigen Lebensstandard, für deren Ermittlung das WSI auf eigene Daten zurückgreifen konnte. Hier wurden die Zahlen von 2023 mit jenen von 2020 verglichen. Wie sich zeigte, machten sich im Jahr 2020 48,8 Prozent der Armen Sorgen um ihre Zukunft, 2023 aber bereits 54,5 Prozent. Besonders auffällig ist aber die Veränderung der anderen Gruppen. In der Prekarität stieg der Anteil jener, die Zukunftssorgen haben, von 44,1 auf 58,2 Prozent; in der unteren Mitte von 36,2 auf 51,6 und in der oberen Mitte von 31,8 auf 46,7. Da diese Gruppen zusammen 80 Prozent der Bevölkerung umfassen, heißt das, 42,2 Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung hatten 2023 sehr große oder große Sorgen um ihren künftigen Lebensstandard.
Übrigens – wir sind wieder im Jahr 2021 – unterscheidet sich die Art der Beschäftigung zwischen den verschiedenen Gruppen deutlich. Nur 24,1 Prozent der Armen haben eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung, hingegen 64,8 Prozent der oberen Mitte. Nur halb so viele Angehörige der oberen Mitte haben keine engen Freunde (3,9 Prozent) wie der Armen (8,1 Prozent), und weniger als halb so viele (17,5 gegen 35,6) sind alleinstehend. Besonders groß ist der Abstand bei einem anderen Aspekt: Nur ein Prozent der oberen Mitte ist alleinerziehend, aber 6,3 Prozent der Armen.
Das WSI fügt diesem Befund anhand von Daten der Hans-Böckler-Stiftung Umfragewerte zur politischen Einstellung hinzu. Diese bestätigen, was bereits in anderen Studien vorgefunden wurde – und auch eigentlich logisch ist: Je niedriger das Einkommen, desto geringer die Zustimmung zu der Aussage "Die Demokratie in Deutschland funktioniert im Großen und Ganzen gut", und desto geringer ist auch das Vertrauen in die Institutionen. So haben etwa doppelt so viele Arme (20,9 Prozent) kein oder nur geringes Vertrauen in die Polizei im Vergleich zur oberen Mitte (10,6 Prozent). Beim Anteil der Nichtwähler verhält es sich ähnlich (19,9 Prozent zu 10,9 Prozent).
Interessant ist auch der Datenanhang der Studie. Zwar bestätigt sich der erwartete Zusammenhang zwischen geringer Bildung und Armut, aber er ist bei weitem nicht so stark, wie die meisten erwarten dürften: 60,5 Prozent der Armen haben einen Berufsabschluss, 11,5 Prozent sogar einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss.
Während der neue Bericht des WSI ein weiteres Mal bestätigt, dass die Armut in Deutschland kontinuierlich zunimmt, weckt er auch Befürchtungen, wie es um die aktuellen Verhältnisse bestellt ist. Denn die Entwicklung ab 2022 wird nicht nur die Zahl derjenigen in die Höhe getrieben haben, die besorgt in die Zukunft blicken; sie wird auch den Anteil der Armen in Deutschland weiter erhöht haben. Was dann logischerweise das Vertrauen in die Politik und die Institutionen in Deutschland weiter verringert – warum schließlich sollte man Menschen vertrauen, denen die zunehmende Armut gleichgültig ist?
Die politischen Forderungen, die am Ende des Berichts aufgestellt werden, kollidieren jedenfalls deutlich mit den Reaktionen der Politik auf die einbrechenden Einnahmen. So wird etwa darauf hingewiesen, dass ein "funktionierender, verlässlicher ÖPNV" für Arme unverzichtbar ist. "Menschen mit sehr niedrigen finanziellen Ressourcen können Defizite in der öffentlichen Infrastruktur nicht durch eigene Ressourcen kompensieren, sie können eben nicht auf oftmals teure private Alternativen ausweichen."
Derzeit ist die regierende Koalition aber eher mit Kürzungsvorschlägen beschäftigt.
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