Bürgergeld-Lücke – oder: Fantasiezahlen aus Heils Parallelwelt
Von Susan Bonath
Deutschlands neue Kriegsbereitschaft verschlingt die Steuertöpfe. Das Plus für die Rüstungsindustrie geht zulasten des Sozialstaats. Damit die Mehrheit der Bevölkerung dies hinnimmt, jagte in den Leitmedien eine Hetzkampagne gegen Bürgergeld-Bezieher die nächste. Allen ihren anderslautenden vorherigen Versprechen zum Trotz sprangen auch die Ampelkoalitionäre SPD und Grüne auf den neoliberalen Propagandazug auf.
Härtere Sanktionen mussten her, dann eine Nullrunde für Betroffene. Mit Zwang und Schikane wollte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Hunderttausende in Arbeit bringen. Milliarden wolle er so einsparen, verkündete er großspurig. Doch ihm muss klar gewesen sein, dass das nichts werden kann, ohne Millionen Menschen in den sozialen Abgrund zu stürzen.
Die großteils selbst gemachte Krise lässt die Wirtschaft schrumpfen und die Arbeitslosenzahlen wieder steigen. Hohe Mieten, Energie- und Lebensmittelpreise nagen an den Portemonnaies der Menschen. Kurzum: Heils Rechnung geht nicht auf, das weiß man auch in seinem Haus. Die dort selbst errechnete Lücke zwischen offiziellem Haushaltsplan und Realität beträgt offenbar fast zehn Milliarden Euro.
Heils Fantasiezahlen
Wie zuerst die Bild berichte, war also alles nur Getöse. In Wahrheit werde sein Haus wohl etwa 9,6 Milliarden Euro mehr fürs Bürgergeld ausgeben müssen, so heißt es demnach in einem internen Papier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS).
Man könnte es auch so ausdrücken: Heil wollte wohl die geschürte Stimmung aufgreifen, vielleicht versprach er sich auch Anerkennung aus dem Lager der neoliberalen Hardliner. Und offenbar jubelte er dem Bundestag dann Fantasiezahlen aus einer gedanklichen Parallelwelt unter, die sein Haus dann heimlich korrigierte. Nun, Ehrlichkeit war noch nie die große Stärke regierender Politiker in Deutschland.
Heils Plan war es, die geplanten Ausgaben für die Bürgergeld-Leistungen, also die Regelsätze, von knapp 30 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 25 Milliarden fürs kommende Jahr zu senken. Die aktuell veranschlagten 11,6 Milliarden Euro für die sogenannten Kosten der Unterkunft dürften angesichts der hohen Mieten und Heizkosten bereits nicht reichen. Trotzdem wollte "Alleskönner" Heil sie auf elf Milliarden Euro weiter stutzen. Das kritisierte im Juli bereits der Paritätische Wohlfahrtsverband.
Insgesamt sollten also die geplanten Ausgaben des Bundes für Bürgergeld-Sätze und Mietbeihilfen von zusammen 41,3 auf 36 Milliarden Euro sinken. Dem internen Papier zufolge rechnet das BMAS jedoch mit Gesamtausgaben von 45,6 Milliarden Euro.
Das liegt vor allem an den hohen Preisen für Miete und Nebenkosten. Über zwei Drittel der geschätzten 9,6-Milliarden-Euro-Lücke entfallen darauf. Tatsächlich geht Heils Ministerium nicht von elf, sondern 17,63 Milliarden Euro an Ausgaben aus.
Krise, Teuerung und Propaganda
Das kommt nicht überraschend. Nach der Heizkostenexplosion Ende 2022 kamen die Kommunen nicht umhin, ihre ohnehin seit Jahren viel zu niedrig angesetzten Obergrenzen aufzuweichen. Hunderttausende Menschen auf einmal in die Obdachlosigkeit zu schicken, wäre kaum gut angekommen in der Bevölkerung.
Auch die Regelsätze sind in den vergangenen beiden Jahren stärker angestiegen als gewöhnlich. Dies war, angesichts der Teuerung bei Strom und Lebensmitteln, ebenfalls unumgänglich. Die wurden damit ja nicht reicher, im Gegenteil: Sozialverbände beklagten fortwährend, dass die Erhöhungen die Inflation nicht ausreichend abfederten und legten immer wieder eigene Berechnungen vor, um das zu belegen.
Doch wie kam der Minister eigentlich darauf, die Sozialausgaben derart niedrig anzusetzen, obgleich alle objektiven Voraussetzungen dagegen sprechen? Er rechnete mal eben 600.000 Bürgergeld-Bezieher raus, die er in Arbeit bringen wolle. Offensichtlich war das reine Propaganda: Denn damit sieht es angesichts der Wirtschaftskrise ziemlich schlecht aus.
Wieder mehr Erwerbslose
Denn seit einigen Monaten gehen die Arbeitslosenzahlen wieder hoch. Eine Umkehr der Entwicklung ist – laut Wirtschaftsexperten und Gründen der Plausibilität – nicht in Sicht. In der Folge steigt laut Bundesagentur für Arbeit (BA) bereits jetzt die Zahl der Bürgergeld-Bezieher, wenn auch schleichend.
Anzumerken ist, dass bereits ins Bürgergeld zu rutschen droht, wer innerhalb von 12 Monaten keine auskömmliche Arbeit findet und keinen Gutverdiener in der Familie hat. Halbtagsstellen und Minijobs helfen hier dann auch nicht aus der Falle. Viele Bürgergeld-Bezieher arbeiten – sie verdienen nur zu wenig.
Den aktuellen Anstieg der Erwerbslosenzahlen hat das Ministerium allerdings auch in seinem internen Papier ignoriert. Darin wird von knapp 2,9 Millionen sogenannten Bedarfsgemeinschaften, also Haushalten, die auf Bürgergeld angewiesen sind, ausgegangen. Doch bereits jetzt liegt ihre Anzahl laut BA um fast 60.000 höher – Tendenz steigend.
Deindustrialisierung und prekäre Jobs
Da die Bundesregierung eisern an den Sanktionen gegen Russland festhält und damit hohe Energiekosten in Kauf nimmt, konnte auch Heil keine andere Entwicklung erwarten. Viele kleine Unternehmen gehen pleite, große wandern ab. Das Geschäft brummt nicht mehr. Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) warnte bereits im März dieses Jahres vor einer Deindustrialisierung Deutschlands.
So nimmt nach langer Zeit des umgekehrten Trends die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter ab. Immer weniger Betriebe stellen neue Arbeitskräfte ein. Stattdessen verzeichnet die BA immer mehr Minijobber, zuletzt im Juni waren es fast 7,7 Millionen.
Eins lässt sich sicher sagen: Die Lohnarbeitswelt in Deutschland wird unsicherer, Dumping- und Minijobs breiten sich aus. Dies ist allerdings eine schleichende Entwicklung, die spätestens mit der Einführung der Agenda 2010 inklusive Hartz IV – bekanntlich unter einer rot-grünen Regierung – ins Rollen kam.
Massenentlassungen statt Aufschwung
Immer häufiger ist dieser Tage in den Medien von Massenentlassungen zu lesen. Schlecht sieht es in der Autobranche aus. Volkswagen will angeblich sogar 30.000 Arbeitsplätze in Deutschland streichen.
Der Zulieferer Continental hat bereits 5.000 Beschäftigte vor die Tür gesetzt und plant weitere Kündigungen. Umfragen zufolge beabsichtigen sogar 60 Prozent der Zulieferunternehmen für die Autoindustrie einen mehr oder weniger radikalen Jobabbau.
Kündigungen hagelt es zudem im Maschinenbau, im Schiffbau und in vielen anderen produzierenden Branchen. Der Industriestandort Deutschland scheint regelrecht zusammenzubrechen.
Westlicher Kapitalismus in der Sackgasse
Das lässt sich nicht beheben durch Gängel und Zwang gegen Bürgergeld-Bezieher, wie härtere Sanktionen, geringere Regelsätze, prekäre Jobs und so weiter. Im Gegenteil: Wenn viele ärmer werden, schwächt das bekanntlich den Binnenmarkt noch weiter als ohnehin schon. Dann kann ja keiner mehr viel kaufen.
So wachsen in Deutschland die Lücken nicht nur bei den Bürgergeld-Berechnungen. Die Bahn wird immer teurer und zugleich maroder, die Zahl der Krankenhäuser samt Betten sinkt, obwohl der Anteil der Senioren in Deutschland kontinuierlich steigt. Die Straßen sind kaputt, die Brücken offensichtlich auch, in Dresden stürzte bekanntlich kürzlich eine ein. Das deutsche Internet ist vielfach schlechter als in Entwicklungsländern und so weiter.
Der westliche Kapitalismus befindet sich in einer Sackgasse. Fallende Profitraten bremsen die Investitionen und setzen eine neoliberale politische Spirale aus Sozialabbau und kriegerischen Expansionswillen in Gange. Mittendrin versuchen die USA, ihre europäischen Wertepartner noch einmal richtig abzuzocken. Denkt man an die Nordstream-Sprengung, ist dafür inzwischen sogar Terrorismus ein Mittel der Wahl.
Oder um es kurzzufassen: Der wertewestliche Kapitalismus im globalen imperialistischen Machtgerangel frisst gerade ganz offensichtlich sein "Humankapital".
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