Deutschland

Egon Krenz über die geopolitische Lage und die neue deutsche "Kriegstüchtigkeit"

Im Interview erklärt der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, welche Ziele die USA nach der deutschen Einheit verfolgten und wie sich die Politik von Olaf Scholz von der Politik früherer westdeutscher Kanzler unterscheidet. Krenz appelliert: Deutschland muss friedensfähig werden!
Egon Krenz über die geopolitische Lage und die neue deutsche "Kriegstüchtigkeit"Quelle: www.globallookpress.com © Christoph Soeder / dpa

Von Felicitas Rabe

Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, beantwortete im Interview mit RT DE am Freitag Fragen zur aktuellen geopolitischen Lage. Insbesondere fasst er die geopolitische Entwicklung nach dem Mauerfall zusammen und erläutert die darauf einsetzende Vormachtstellung der USA und deren Ziele. Krenz vergleicht auch die Außenpolitik und die Diplomatie früherer westdeutscher Bundeskanzler gegenüber den USA, der Sowjetunion und der DDR mit der Politik des aktuellen Bundeskanzlers Olaf Scholz.

RT DE: Herr Krenz, nach dem Ende der Sowjetunion und dem deutschen Mauerfall und dem Ende des sogenannten "Kalten Krieges" weltweit haben viele Menschen auf eine internationale friedliche Kooperation der Nationen gehofft. Wie bewerten Sie die aktuelle geopolitische Lage und die Weltkriegsgefahr?

Egon Krenz: Ich habe große Zweifel, ob der Kalte Krieg jemals wirklich zu Ende war. Beendet war in Europa die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus, nicht aber das Bestreben der USA, bestimmende Weltmacht zu sein, Russland als Großmacht auszuschalten und gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. Aktuell soll Russland "ruiniert" werden, damit sich die USA China zuwenden können. Das ist nicht Propaganda. Es sind nachprüfbare Tatsachen.

RT DE: Wozu diente die deutsche Einheit aus US-amerikanischer Sicht? Können Sie näher erläutern und aus Ihrer Sicht begründen, welche Ziele die USA nach 1989 verfolgten?

Egon Krenz: Ich habe es zum Teil selbst erlebt: Als Gorbatschow bei seinem Treffen mit Bush dem Älteren Anfang Dezember 1989 auf Malta einseitig den Kalten Krieg für beendet erklärte, erhoben sich die USA zum Sieger dieses Krieges. Das war zweifelsfrei eine Demütigung der Sowjetunion, auf deren Initiative nicht nur die Europäische Sicherheitskonferenz (KSZE) 1975 in Helsinki zustande gekommen war, sondern auch alle wesentlichen Abkommen über Abrüstung mit den USA in den Siebziger- und Achtzigerjahren. 1989 ging es den USA keineswegs nur um die deutsche Einheit. Sie war lediglich eine Möglichkeit, um die Streitkräfte der UdSSR aus dem Zentrum Europas zu drängen. Der Warschauer Vertrag wurde aufgelöst. Die NATO blieb.

Die russischen Streitkräfte zogen aus Mitteleuropa ab – übrigens mit einer drittklassigen Verabschiedung im Vergleich zu den West-Alliierten. Es sah aus, als kehrten nicht die Sieger über den deutschen Faschismus nach Hause zurück, sondern die Verlierer. Die USA setzten sich hier fest. Sie haben in Deutschland nach wie vor Atomwaffen stationiert. Condoleezza Rice, die spätere Außenministerin der USA, bekannte in einem Interview für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel freimütig, mit dem vereinten Deutschland, eingebettet in die NATO, sei "Amerikas Einfluss in Europa gesichert". Die Grenze zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag verlief bis zum 3. Oktober 1990 quer durch Europa. In Deutschland an Elbe und Werra und in Berlin mitten in der Stadt. Heute verläuft sie an den Grenzen Russlands.

Da kann es doch nicht verwundern, dass sich dies im kollektiven Gedächtnis der Völker Russlands festgesetzt hat und sie von ihrem Präsidenten Putin nach den chaotischen Jelzin-Jahren verlangten, nationale Sicherheitsinteressen selbstbewusst durchzusetzen. In der jahrzehntelangen Politik der USA und ihrer NATO-Verbündeten gegen Russland liegt die Ursache für die globalpolitischen Verwerfungen der Gegenwart, einschließlich der Möglichkeiten eines neuen Weltkrieges. Ich bin Optimist und erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Wort von Bert Brecht, das ich noch als Schuljunge 1952 in der DDR gelernt hatte:

"Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind und sie werden kommen ohne Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden."  

RT DE: Lässt sich die heutige Situation mit den Spannungen in den Achtzigerjahren vergleichen?

Egon Krenz: Aus meiner Sicht: Nein. Als ich 1984 den Jungsozialisten Olaf Scholz im Zentralkomitee der SED empfing, war seine Überzeugung: Frieden schaffen ohne Waffen. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass er einmal die Bundesrepublik in eine Periode der Hochrüstung führt. 100 Milliarden für das Militär – was könnte man aus dieser Summe alles für die Menschen tun! Die Zeit damals war zwar auch äußerst gefährlich, aber die Regierenden auf beiden Seiten wussten noch aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet und kannten so die roten Linien, die man nicht überschreiten durfte, wenn man Frieden wollte. Diese Fähigkeit haben viele der heute in der EU Regierenden nicht mehr.

Ich habe dieser Tage auf der Plattform The Pioneer Briefing gelesen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Sicherheits- und Rüstungspolitik angeblich seinem Vor-, Vor-, Vorgänger Helmut Schmidt immer ähnlicher geworden sei. Dem widerspreche ich zum Teil aus eigenem Wissen. Vor mir liegt eine Gedächtnisaufzeichnung über das Vieraugengespräch zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker vom 11. Dezember 1981 zwischen 19:00 und 23:30 Uhr, angefertigt von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, dem Beauftragten der DDR für humanitäre Angelegenheiten mit der Bundesrepublik Deutschland. Aus diesem Dokument spricht ein völlig anderer politischer und militärischer Geist als der vom heutigen Bundeskanzler.

RT DE: Wie unterschied sich die diplomatische und politische Strategie früherer deutscher von der des aktuellen SPD-Bundeskanzlers Olaf Scholz? Welche Unterschiede belegt das Gesprächsprotokoll des Gesprächs zwischen Schmidt und Honecker vom Dezember 1981?

Egon Krenz: Aus dem Papier geht hervor, Helmut Schmidt hat immer eine Verhandlungslösung bevorzugt, obwohl er den NATO-Doppelbeschluss maßgeblich initiiert hatte, wofür ihn Moskau zu Recht kritisierte. Aber während die USA die UdSSR schon damals allseitig boykottierten, suchte Schmidt das Gespräch mit der sowjetischen Führung gerade deshalb und wehrte sich gegen Sanktionen, besonders beim Röhrengeschäft mit der Sowjetunion. Anders Scholz: Anstatt eigene Verhandlungsvorschläge einzubringen, brachte er aus den USA bereits beschlossene Pläne zur Stationierung neuer amerikanischer Raketen mit, die bis in die Weiten Russlands hineinreichen können. Eine Basta-Entscheidung. Das halte ich für verantwortungslos und ein Spiel mit dem Feuer.

In diesen Tagen erinnern Medien an den Staatsbesuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik vom 7. bis 11. September 1987. Bei den Gesprächen zwischen Bundeskanzler Kohl und Erich Honecker spielte das Thema Frieden und wie beide Staaten dazu beitragen wollten, die entscheidende Rolle. Auch dieses Erbe schlägt die Bundesregierung leider aus. 

RT DE: Scholz und Schmidt, beides Sozialdemokraten, unterscheiden sich in ihrer Haltung zur Frage von Krieg und Frieden. Aber die Bundesrepublik von damals scheint sich nicht allzu sehr von der heutigen in ihrer Haltung zu Russland zu unterscheiden?

Egon Krenz: Ja und nein. Es gab zwar in der alten Bundesrepublik einen latenten Antikommunismus, gepaart mit einem Schuss Antisowjetismus, doch eine solche Russophobie, wie sie gegenwärtig durch Politik und Medien verbreitet wird, habe ich letztmalig als Achtjähriger in der Endphase des Zweiten Weltkrieges erlebt.

Schmidt besaß politischen Weitblick, der seinen politischen Nachfolgern fehlt. Er bekannte gegenüber Erich Honecker, dass er bei allen Vorbehalten gegenüber seinen sowjetischen Gesprächspartnern, ihnen keinen Kriegswillen unterstelle.

Er traue der sowjetischen Führung nicht zu, einen Atomkrieg zu beginnen. Es treffe zwar zu, dass es kaum einen anderen Staat gebe, der auf den amerikanischen Präsidenten einen stärkeren Einfluss ausübe als die Bundesrepublik, meinte er gegenüber Honecker. Er, Schmidt, sei jedoch Regierungschef nur eines mittleren Staates. Hinzu komme, dass Deutsche den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hätten. Solche Töne hört man heute offiziell kaum noch.

Ich bin sicher, hätte der seinerzeitige Außenminister der Bundesrepublik  geäußert, man führe 'Krieg gegen Russland' und wolle 'Russland ruinieren', er wäre von einem Kanzler Schmidt auf der Stelle entlassen worden.

Zudem möchte ich ein allgemeines Missverständnis aufklären. Zu Recht werden Brandt, Wehner, Schmidt und Bahr wegen ihrer Entspannungspolitik gelobt. Doch sie haben diese nicht selbst gemacht. Sie brauchten Partner, und dazu gehörte neben der Sowjetunion auch die DDR. Ohne die friedliche Außenpolitik der DDR hätte es keine Entspannungspolitik geben können.

RT DE: Muss Deutschland  "kriegstüchtig" werden?

Egon Krenz: Natürlich nicht. Deutschland muss friedensfähig werden. Die Kriegsrhetorik in unserem Lande macht nicht nur mir Angst. Im vergangenen Jahr hat SPD-Vorsitzender Klingbeil in einer Grundsatzrede gefordert: "Nach 80 Jahren Zurückhaltung"habe Deutschland eine neue Rolle, sie bestehe darin, eine militärische "Führungsmacht" zu sein. Wenn ich 80 Jahre zurückrechne, stoße ich nicht auf deutsche Zurückhaltung, sondern auf deutsche Verbrechen, auf die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges im Kursker Bogen. 350 Wehrmachtspanzer der Marke Marder sollen an den Schlachten gegen die Rote Armee beteiligt gewesen sein.

Inzwischen gibt es Meldungen, dass Marder aus deutscher Lieferung wieder im Kurskergebiet kämpfen. Das ist für mich wie ein Stich ins Herz. Und ich weiß: Für sehr viele in der DDR sozialisierte Bürger auch. Der Einsatz deutscher Waffen auf russischem Territorium durch die Ukraine muss beendet werden.

Er sollte endgültig Anlass für die deutsche Regierung sein, keine Waffen mehr in die Ukraine zu schicken. Übrigens: Mit dem Sieg der Roten Armee am Kursker Boden war auch der Traum der Anhänger des ukrainischen Faschisten Stepan Bandera, unter Naziherrschaft einen ukrainisch-faschistischen Nationalstaat gründen zu können, endgültig zerschlagen.

Lassen Sie mich bitte noch ein persönliches Erlebnis anfügen:

Anfang der Sechzigerjahre fragte mich in der Moskauer Metro ein Russe, ob ich Deutscher sei. Ja, sagte ich, DDR-Deutscher. Er würde gern mit mir ein Gläschen trinken und mich zu sich nach Hause einladen. Als wir dort ankommen, ist die Familie vom Urenkel bis zur Großmutter an einem langen Tisch versammelt. Vor zwei leeren Plätzen stehen Porträts und Blumen. Die Familie, erfahre ich, gedenkt – wie viele andere an diesem Tage im ganzen Lande auch – ihrer Toten aus dem Zweiten Weltkrieg. Es ist der 22. Juni, jener Tag, an dem 1941 Nazideutschland wortbrüchig die Sowjetunion überfallen hatte.

Es gab Trinksprüche auf die Toten und die Lebenden. Großmutter erzählt, wie sie den Kriegsbeginn erlebte, wie schwer zu ertragen ist, dass ihr Mann schon im ersten Kriegsjahr gefallen war. Sie wünschte sich für die Zukunft, dass nie wieder ausländische Truppen so nahe der Grenze stehen, wie an jenem Tag, an dem Nazideutschland wortbrüchig ihre Heimat überfallen hatte. Ich frage mich, warum Politiker in Deutschland – vorwiegend aus dem Westteil – diesen einfachen Wunsch der Russen nicht verstehen können oder wollen.

Ich bin überzeugt: Die gegenwärtige Politik Deutschlands gegenüber Russland widerspricht objektiv den nationalen Interessen der Deutschen. Nur mit Russland und nie gegen das größte Flächenland der Erde wird es Frieden geben.

Das wusste schon der konservative Eiserne Kanzler Bismarck, der noch auf seinem Sterbebett sein Testament hinterließ: "Nie, nie gegen Russland!"

Egon Krenz wurde 1937 in Kolberg / Pommern im heutigen Polen geboren. Von 1973 bis 1987 war er Mitglied des SED -Zentralkomitees der DDR und von 1974 bis 1983 Erster Sekretär der DDR-Jugendorganisation FDJ. Ab 1984 war er Stellvertretender Staatsratsvorsitzender von Erich Honecker und vom 24. Oktober bis zum 6.12.1989 war Egon Krenz der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR. Im November erscheint der 3. Band seiner Autobiografie mit dem Titel "Verlust und Erwartung – Erinnerungen" bei der Eulenspiegel-Verlagsgruppe.

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