"Positiver Lenin-Bezug": Junge Welt darf vom Geheimdienst schikaniert werden
Von Susan Bonath
Die deutsche Regierung fürchtet um ihre Deutungshoheit. Gesinnungsschnüffelei wird alltäglicher. Wer nicht konform ist, wird schnell zur Zielscheibe des Inlandsgeheimdienstes. Ein wohlgehegtes Feindbild im Westen ist die politische Denkrichtung des Marxismus. Zu Recht stehe die Berliner Tageszeitung junge Welt (JW) deshalb im Fokus und im jährlichen Bericht des Verfassungsschutzes, urteilte das Berliner Verwaltungsgericht am Donnerstag – und hämmerte einen weiteren Nagel in den Sarg der Presse- und Meinungsfreiheit.
Geschäftsschädigendes Verfassungsschutzgeraune
Die junge Welt ist dauerpräsent im Verfassungsschutzbericht. Sie strebe, so hieß es jüngst darin in gewohnt plattem Geraune, "die Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung nach klassischem marxistisch-leninistischem Verständnis an". Außerdem sei sie "das bedeutendste und auflagenstärkste Medium im Linksextremismus". Und: Die Zeitung bekenne sich "nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit".
Dagegen hatte der "Verlag 8. Mai" als Herausgeber der Zeitung geklagt. Ihre geheimdienstliche Nennung behindere ihre Verbreitung und sei daher geschäftsschädigend, argumentierte der Verlag. Werbemaßnahmen würden verhindert, Auskünfte häufig verweigert und Mitarbeiter müssten mit Bespitzelung rechnen.
Die rechte Zeitung Junge Freiheit hatte einst unter der gleichen Maßnahme gelitten, sich allerdings 2005 erfolgreich dagegen gewehrt. Ihre Präsenz im Verfassungsschutzbericht komme einem Eingriff in die Pressefreiheit gleich, urteilte damals das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe – im Gegensatz zum aktuellen Verwaltungsgerichtsurteil gegen die JW.
Lenin und die "freiheitlich-demokratische Grundordnung"
Dass die im Grundgesetz verankerte Pressefreiheit eigentlich nicht dafür gedacht war, nur Medien zu legitimieren, die bestimmte politische Gesinnungsbekenntnisse ablegen, also etwa zur "Gewaltfreiheit", sieht neben dem Verfassungsschutz offenbar auch der Vorsitzende Richter am Berliner Verwaltungsgericht, Wilfried Peters, anders.
Jedenfalls hört der Spaß für ihn wohl auf, wenn es um die marxistische Deutung politischer Realität geht. Die Einschätzungen des Geheimdienstes seien nicht zu beanstanden, begründete er die Klageabweisung. Die JW teilte dazu mit:
"In der Begründung führte Peters unter anderem aus, dass Lenin, auf den sich die Zeitung positiv beziehe, 'die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft' habe. Die Zeitung habe zudem ein positives Bild der DDR."
Offenbar waren der Bundesregierung und dem Gericht nicht bekannt, dass es zu Lenins Zeiten das heutzutage im Westen propagierte Konstrukt der sogenannten "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" noch gar nicht gab.
Gefährliche "marxistische Grundüberzeugungen"
Abgesehen davon, dass es bisher nicht verboten war, sich "positiv auf Lenin" zu beziehen, unterstellt der Geheimdienst unter dem Diktat von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dem Blatt überdies, in erster Linie kein journalistisches Produkt zu sein, sondern eine politische Gruppierung, die das Ziel des Umsturzes verfolge, also "verfassungsfeindliche Bestrebungen" hege.
In einer Antwort von 2021 an Linke-Abgeordnete hatte die Bundesregierung diesem alljährlichen Dauervorwurf 2021 weiter hinzugefügt:
"Revolutionäre marxistische Grundüberzeugungen basieren auf verschiedenen Aspekten, die sich gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde."
Dass die JW die selbst nach Auffassung zahlreicher Nichtmarxisten real bestehende und kapitalismusimmanente "produktionsorientierte" Klassengesellschaft, sprich, die materielle Herrschaft reicher Konzerneigentümer über Lohnabhängige, gerade kritisiert und nicht etwa einführen will: geschenkt. Die Regierung deutet hier bewusst fehl, um Vorwürfe gegen eine unliebsame Zeitung zu konstruieren.
JW: "Klassenjustiz ist die adäquate Beschreibung"
Die Redaktion der Zeitung hält diese Begründungen für absurd. Das täglich als gedrucktes Blatt erscheinende Medium sehe sich den Grundsätzen des Journalismus verpflichtet. Es hetze nicht gegen Minderheiten und berichte über das politische Geschehen, dies allerdings mit einem erweiterten Blickwinkel, den der Mainstream häufig ausblende. In einer Sonderveröffentlichung vor dem Prozess schrieb die JW:
"In Wahrheit sind es die Positionen der JW, die als Gedankenverbrechen delegitimiert werden sollen."
Es ist wohl ihr Blickwinkel, der häufig die Sicht Unterdrückter und Missliebiger darlegt, sowie ihre Kritik an der politischen Verfasstheit der Bundesrepublik, was die JW zur politischen Erzfeindin der Schützer der gegenwärtigen Herrschaftsordnung macht.
Der stellvertretende Chefredakteur der Zeitung, Nick Brauns, sprach am Donnerstag gegenüber der Autorin von einer "Schlappe für die Pressefreiheit". "Die Argumente der Gegenseite waren auf einem unterirdischen Niveau", so Brauns. So habe sich der Richter auf Lenin fixiert, weil auf der Leserbriefseite ein Foto von ihm sei. Gerügt worden sei auch der Begriff "Klassenjustiz", den die JW benutzt habe. Brauns sagte:
"Dabei ist Klassenjustiz die adäquate Beschreibung für diesen Prozess: Wer in diesem Staat auf der Seite der Herrschenden steht, ihre Kriegspolitik und gegen die Mehrheit gerichteten Maßnahmen befürwortet, der genießt Pressefreiheit – im Gegensatz zu den Journalisten, die sie in Bedrängnis bringen."
Brauns zufolge will die JW gegen das Urteil in Revision gehen. Man habe den Prozess einmal angestrengt "und wir werden ihn notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht fortführen", betonte er. Das kann Jahre dauern. Wer weiß, wie viele Presseerzeugnisse bis dahin noch verboten werden, so wie russische Medien, darunter RT DE, schon 2022. Die autoritäre Krisenentwicklung in Deutschland lässt nichts Gutes erahnen.
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