Deutschland

Deutsche Erfolgsbranche in Not – Über das Elend der chemischen Industrie

Sie verbraucht viel Energie sowie Rohstoffe wie Erdöl oder Erdgas und wird daher von höheren Energiepreisen besonders getroffen. Sie ist außerdem eine wichtige und überdies sehr deutsche Industrie, mindestens so deutsch wie die Kuckucksuhren. Und in ihrem Elend immer noch zu leise.
Deutsche Erfolgsbranche in Not – Über das Elend der chemischen Industrie© unbekannter Maler, Public domain, via Wikimedia Commons

Von Dagmar Henn

Es ist eine Erholung, und es ist doch keine – auch wenn die Produktion der chemischen Industrie im ersten Halbjahr 2024 insgesamt um drei Prozent gestiegen ist, ist sie in ihrer Gesamtheit doch weit vom entscheidenden Wert entfernt.

"Damit lag sie aber immer noch rund 11 Prozent niedriger als 2021. Viele Anlagen waren deshalb nach wie vor nicht ausgelastet und blieben unterhalb der Rentabilitätsgrenze."

So beschreibt das der Halbjahresbericht des Verbands der chemischen Industrie. Dabei wird Verbandspräsident Markus Steilemann noch etwas deutlicher:

"Wir dürfen eines nicht vergessen: Wir haben zwar die Produktion hochgefahren, unsere Anlagen laufen aber nach wie vor nicht rentabel, und das seit über zweieinhalb Jahren."

Man muss sich einmal die Bedeutung der chemischen Industrie in Deutschland vor Augen führen. Sie ist nicht nur seit vielen Jahrzehnten einer der führenden Industriezweige; viele Entwicklungen dieser Industrie nahmen von Deutschland ihren Ausgang, im Bereich chemischer Grundstoffe ebenso wie in der pharmazeutischen Industrie. Die BASF, ausgeschrieben Badische Anilin- und Sodafabrik, verweist in ihrem Namen noch auf die Anilinfarben, die Ende des 19. Jahrhunderts die Textilfärbung revolutionierten. Bayer war Ausgangspunkt vieler weltweit verbreiteter legaler (Aspirin) sowie mittlerweile illegaler (Heroin) Produkte. Die drittgrößte Branche der deutschen Industrie beschäftigte im Jahr 2023 560.000 Menschen. Über 60 Prozent des Umsatzes werden im Ausland gemacht. Und es ist der Auslandsumsatz, der die leichte Erholung, die eigentlich eine leichte Verringerung der Verluste ist, angetrieben hat – im Inland ging der Umsatz um 1,5 Prozent zurück.

Der Produktionseinbruch von 2021 bis 2023 um fünfzehn Prozent ist gewaltig. Der Einbruch im Jahr 2009, als die Finanzmarktkrise über Monate hinweg ganze Teile des internationalen Handels zum Stillstand brachte, betrug 10,2 Prozent, und schon 2010 wurde dieser Rückgang wieder wettgemacht. Allerdings sind die derzeitigen Unterbrechungen von Handelsverbindungen ein Produkt politischer Entscheidungen, und es kündigt sich bereits an, dass mit Sanktionen gegen China noch mehr gekappt werden soll. Für die chemische Industrie ist das ebenso katastrophal wie für andere exportlastige Branchen.

Als wirklich optimistisch erweist sich dementsprechend bei einer brancheninternen Umfrage kaum ein Unternehmen. Zwar sind es nur 21 Prozent, die eine Erholung erst 2026 erwarten, es ist aber nicht ausgeführt, ob Erholung bedeutet, dass die Umsätze steigen, oder auch, dass die Anlagen oberhalb der Rentabilitätsgrenze arbeiten. Daran scheinen viele zu zweifeln. Obwohl 48 Prozent mit steigenden Umsätzen im Jahresergebnis 2024 rechnen, setzt sich das nur bei 38 Prozent in eine Erwartung steigender Erträge um – das heißt, selbst von den Optimisten erwartet mehr als jeder Fünfte, dass dieser Anstieg nur die Verluste erhöht.

Die großen chemischen Konzerne haben ohnehin nicht nur ihr Geschäft, sondern auch ihre Werke rund um die Welt verteilt. Übrigens war das schon weit früher der Fall, als die meisten annehmen dürften – sowohl die chemische als auch die pharmazeutische Industrie betrieben bereits vor dem Ersten Weltkrieg Werke in den USA. China und Indien finden sich mittlerweile ebenfalls häufig als Standorte. Was signalisiert, dass die momentane US-Politik, die gewissermaßen zu einer Entscheidung zwischen diesen Standorten nötigt, nicht wirklich begrüßt wird.

Ebenso wenig wie die Energiepolitik, die in Deutschland betrieben wird. Anfang des Jahres erschien auf Initiative der BASF die "Antwerpener Erklärung", ein Versuch, durch einen gemeinsamen Aufruf der europäischen chemischen Industrie eine Änderung der Politik zu erreichen; ein Versuch, der bisher vergebens blieb. Was auch Verbandspräsident Steilemann betont:

"In allen Punkten kann und muss politisch gegengesteuert werden. Und die Ampel behauptet ja auch, dies zu tun. Doch die Realität sieht anders aus."

Die Forderungen, die mit diesem Halbjahresbericht an die Politik überreicht werden, sind in einem Punkt erstaunlich zahm, denn die eine Forderung, die die Lage großer Teile dieser energieintensiven Branche sofort verbessern könnte, wird nicht gestellt – eine Wiederinbetriebnahme der letzten funktionsfähigen Röhre von Nord Stream. Stattdessen vielfache Forderungen nach Steuersenkungen, ob Stromsteuer oder Körperschaftsteuer, ein Aufruf zur Verringerung der Bürokratie, aber auch:

"Investitionen in Bildung, Sicherheit und Infrastruktur. Inklusive Ausbau der Stromnetze, als Daseinsvorsorge auch in Teilen öffentlich finanziert."

Dabei ist es durchaus erstaunlich, dass die Rüstungsbesessenheit der Bundesregierung nicht aufgegriffen wird. Es wird eher darauf gehofft, durch eine ganz große Koalition wieder Impulse für eine Binnenentwicklung zu erhalten:

"Der VCI fordert die Parteien der Ampel-Regierung und die Unionsparteien auf, gemeinsam durch entschlossenes Handeln das verlorene Vertrauen von Unternehmen, Investoren und nicht zuletzt der Bevölkerung zurückzugewinnen."

Die wirklich entscheidenden Fragen werden nach wie vor nicht benannt. Bezogen auf die Grundstoffchemie sieht Steilemann schwarz, wegen der Energiepreise: "Wenn sich daran nichts nennenswert ändert, und danach sieht es bisher nicht aus, ist das Geschäftsmodell für diesen Teil der Chemieindustrie hier tot." Eine eigentlich bizarre Situation, denn dabei geht es auch um ein Produkt, das auf der Liste strategisch wichtiger Produkte weit oben steht, auch wenn es gerne schlechtgeredet wird: der Kunstdünger. Ohne den die Ernährung schlicht unmöglich wäre, eigentlich eine weitaus wichtigere Frage als die, woher die Elektroautos kommen. Die Ammoniakproduktion und in der Folge die von Nitratdünger sind nach den Russland-Sanktionen als Erstes zusammengebrochen, mit dem Effekt, dass jetzt nicht mehr das Erdgas, dafür aber der Dünger aus Russland importiert wird.

In der allgemeinen Wahrnehmung sind es nicht bestimmte Produktionsverfahren, es ist die chemische Industrie selbst, die durch die jahrzehntelange Seelenmassage mit Bildern toter Fische und Ähnlichem als böse gilt. Weshalb sich erstaunlich wenig Widerstand regt, wenn ein so zentraler Teil der Industrie in eine unhaltbare Lage gerät, ganz davon zu schweigen, diesen Industriezweig als die nationale Errungenschaft zu sehen, die er tatsächlich darstellt.

Der Verlust grundlegender Branchen führt aber keinesfalls dazu, das zu erzielen, was in der momentanen Politik unter dem Stichwort "Resilienz" verkauft wird; es sind paradoxerweise gerade die Schritte, die als Bemühung verkauft werden, Abhängigkeiten zu beenden, die viel gravierendere neue Abhängigkeiten schaffen. Das lässt sich an dem simplen Beispiel von Erdgas-Kunstdünger erkennen, bei dem ein Importbedarf eines Rohmaterials schlicht durch den Importbedarf eines Endprodukts ersetzt wurde. Es lässt sich sicher auch mit allerlei Kunststoffen und Konsumprodukten nachvollziehen; auch da wird übersehen, dass sich entlang komplexer Produktionsabläufe immer neue Bruchstellen auftun, die durch eine letztlich eine Deindustrialisierung fördernde Politik geschaffen werden.

Sollte die deutsche Politik den irrsinnigen Schritt unternehmen, auf Anweisung der USA die Firmen zu einem Rückzug aus China nötigen zu wollen, und auf diese Weise noch weiter in Abläufe und Zusammenhänge einschneiden, dürften die kleineren Unternehmen schlicht irgendwann ihre Pforten schließen. Die größeren werden sich dorthin bewegen, wo sich der größere und zukunftsträchtigere Markt bietet. Das sind allerdings nicht die USA. Das sind China und Indien. Die Tatsache, dass die Investitionen im Inland im vergangenen Jahr zurückgingen, jene im Ausland aber stiegen, ist ein deutliches Signal.

Man sollte aber nicht denken, dass eine derartige Entwicklung nur Folgen für die Industrie selbst oder für die jeweiligen Beschäftigten hat. Sie hat auch Folgen für das in der Gesellschaft vorhandene Wissen. Wenn es kaum mehr chemische Industrie in Deutschland gibt, welchen Sinn macht es dann noch, Chemie zu studieren? Mit der Produktion verschwindet auch die Forschung, und mit der Forschung schwindet nicht nur die Industrie der Gegenwart, sondern auch jene der Zukunft.

Wenn man sich mit der Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts beschäftigt, erkennt man, dass der Aufbau der entsprechenden Wissenschafts- und Industriezweige tatsächlich Hand in Hand ging und sich die Förderung der Naturwissenschaft in eine entsprechende Entwicklung von Produkten und Produktionsverfahren umsetzte. Das galt nicht nur für die chemische Industrie. Was derzeit geschieht, ist beinahe, als würde man den Film dieser Aufbauphase rückwärts betrachten.

Nur mit Einem kann man sich trösten, und auch das hat einen besonders sarkastischen Unterton, wenn man weiß, dass es im Ersten Weltkrieg gerade die Synthese des für Munition erforderlichen Salpeters war, die der chemischen Industrie einen gewaltigen Entwicklungsschub versetzte. Wenn die jetzige kriegslüsterne Regierung mit ihren NATO-Kumpanen Munition produzieren will, macht sich auf einmal das Fehlen der Ammoniakproduktion bemerkbar. So wird es noch viele weitere Punkte geben, wo der Wunsch nach Aufrüstung schneller an seine Grenzen stößt, als den Herrschaften lieb ist. An dieser Stelle hat die Verheerung immerhin auch eine gute Seite.

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