Oberst a. D. zur Ukraine: "Ein Waffenstillstand wird dringlich. Die Alternativen sind Wunschdenken"
Die Antworten deutscher Politiker und deutscher Militärexperten auf die Frage, was die Ukraine braucht, sind diametral gesetzt. Die Antwort der Mehrzahl unter den deutschen Politikern ist: mehr Waffen, mehr Munition, mehr Flugabwehrsysteme. Die Antwort, die immer mehr Militärexperten geben, ist: Die Ukraine braucht einen Waffenstillstand und Verhandlungen.
Der Unterschied liegt im unterschiedlichen Grad der Expertise, macht ein Interview mit Oberst a. D. Ralph Thiele deutlich.
"So wie die Ukraine Leopard- und Abrams-Panzer angefordert hat, um dann zu erkennen, dass diese auf dem Schlachtfeld nicht überlebensfähig sind, sind auch Patriot-Systeme kein Allheilmittel, um die extreme Verwundbarkeit der Ukraine zu beheben. Ein für die Ukraine positiver Ausgang dieses Konflikts ist nicht mit militärischer Hilfe möglich", sagt Thiele und setzt sich damit der Gefahr aus, von selbst ernannten Waffenexperten unter den deutschen Politikern belehrt zu werden."
Der Glaube, die Ukraine könnte mit Waffenlieferungen in den Stand versetzt werden, einen strategischen Sieg über Russland zu erzielen, ist unter deutschen Politikern, aber auch im deutschen Mainstream eine gern gehegte Illusion, von der Abschied zu nehmen man noch nicht bereit ist. Dabei sind die Fakten eindeutig.
"Angesichts einer zunehmend porösen ukrainischen Front und keiner rosigen Unterstützungsperspektiven des Westens – der braucht bis in die Jahre 2027/2028, bis die rüstungsindustrielle Basis die 'Zeitenwende' umsetzen kann – ist es eher Zeit für Waffenstillstandsverhandlungen als für eine Ausweitung und Intensivierung der Kämpfe."
Thiele belegt seine Forderung nach Verhandlungen auch mit dem Mangel an verfügbaren Patriot-Systemen. Die Ukraine benötige insgesamt 25 Patriot-Systeme zum Schutz des Luftraums, besitzt aber nur drei. Die Anforderungen der Ukraine übersteigen schlicht die Menge, die von der Herstellerfirma in einem angemessenen Zeitrahmen überhaupt produziert werden kann. Gleiches gilt für die für den Betrieb benötigte Munition.
"Während die US-Industrie auf absehbare Zeit nicht in der Lage ist, die teuren Patriot-Abfangraketen in großen Mengen zu produzieren, beschafft Russland am laufenden Band Shahed-Drohnen, produziert Iskander- oder Kinschal-Raketen und stattet seine Flugzeuge mit preiswert aufgerüsteten Gleitbomben aus der Sowjet-Ära aus. Auch die europäischen Verbündeten können die Lücke der Ukrainer nicht schließen."
Das Entsenden von NATO-Militärs in die Ukraine würde zudem den Konflikt weiter in Richtung Dritter Weltkrieg eskalieren. Die entsendenden Länder wären Kriegspartei und würden absehbar Ziel russischer Angriffe, meint Thiele.
Es steht allerdings zu befürchten, dass die deutsche Politik gegenüber all diesen Fakten resistent bleibt und weiterhin auf eine Verlängerung des Krieges drängt. Für die Ukraine hat die deutsche Realitätsverweigerung weitreichende, bittere Konsequenzen.
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