"Das Gemetzel muss beendet werden" – Günter Verheugen fordert rationale Ukraine-Politik

Günter Verheugen rechnet mit der Ukraine-Politik Deutschlands ab. Er fordert die Rückkehr zu einem aufgeklärten Verständnis von Politik. Der Krieg in der Ukraine ist sinnlos, die Ziele, die in Deutschland öffentlich postuliert werden, sind nicht erreichbar.

Scharfe Kritik an der Ukraine-Politik Deutschlands und der EU übt der SPD-Politiker und ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen. Er reiht sich damit in den größer werdenden Kreis von Experten und Politikern ein, die für einen aufgeklärten und von einem historischen Blick geleiteten Umgang mit Russland und dem Ukraine-Krieg plädieren. 

Die Vorgeschichte, wie es zum Einmarsch Russlands am 24. Februar 2022 kam, wird in Deutschland von Medien und Politik nicht nur ausgeklammert, wie Verheugen sagt. Jeder, der sich um ein rational, nicht von Emotionen geleitetes Verständnis des Konfliktes bemüht, wird verunglimpft und beleidigt. Das macht auch vor Verheugen nicht halt.

"Es geht nicht um Ihre oder meine Sicherheit. Wegen meiner Freiheit und zur Verteidigung meiner demokratischen Rechte muss kein Mensch in der Ukraine sterben. Meine Freiheit ist nicht durch Russland bedroht. Schon allein das zu sagen, bringt einen heute in den Verdacht, ein nützlicher Idiot des Kremls zu sein",

sagt Verheugen und zieht mit dieser Aussage einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken auf sich. 

Dabei ist die Behauptung, Russlands Politik sei auf Expansion angelegt, Russland plane nach der Einnahme der Ukraine einen Durchmarsch nach Europa, die Ukraine würde daher auch die Freiheit der Deutschen verteidigen, ganz einfach völlig irrational. Russland hat immer wieder deutlich gemacht, dass es neben dem Schutz der Bevölkerung im Donbass vor einem Genozid durch Kiew vor allem um russische Sicherheitsinteressen geht.

Dass selbst der Kanzler die Behauptung übernommen hat, Russland ziele auf die Ausdehnung in Richtung EU ab, macht sie nicht wahrer, sondern deutet darauf hin, wie umfassend groß das deutsche Problem ist. Dort verweigert man sich dem Denken in historischen Abläufen und einer rationalen Politik. Verheugen weist zurecht darauf hin, dass dies die Gefahr birgt, dass Deutschland seine historischen Fehler wiederholt. 

"Ein langer Weg hat dorthin geführt, wenn wir ihn nicht erkennen wollen, sind wir dazu verurteilt, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen."

Dass der deutsche Diskurs extrem verkürzt geführt, obendrein die Rolle Deutschland bei der Eskalation des Konflikts nicht bedacht wird, obwohl alle Sachinformationen dazu öffentlich vorliegen, führt Verheugen auf Druck der Ukraine zurück. Deutsche Medien würden diese moralisierende, einseitige und verkürzte Sicht transportieren und unterstützen.

"Weil es in der offiziellen westlichen Darstellung keine Vorgeschichte gibt. Zudem übt die Ukraine moralischen Druck aus, dieser Druck wird in den deutschen Medien massiv verstärkt."

Verheugen verweist auf den logischen zwingenden Umstand, dass es Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland geben kann. Sicherheit ist ein unteilbares Prinzip. 

"Die Fragen sind nur: Wie soll der Krieg beendet werden und was kommt danach? Bleibt es bei der Idee eines geeinten Europas? Welche Rolle soll Russland darin künftig spielen? Wenn das politische Ziel des Westens ein sogenannter Siegfrieden ist, bei dem der Westen Russland die Friedensbedingungen diktieren kann, dann sage ich: Dieses Ziel ist nicht erreichbar. Wenn das Ziel Regime Change heißt, einschließlich Putin loszuwerden, dann kann ich nur vor Träumereien warnen. Wenn das Ziel ist, Russland zu ruinieren, wie Annalena Baerbock es formulierte: Auch dieses Ziel ist nicht erreichbar. Wenn das Ziel ist, Russland zu isolieren: Auch das ist nicht geschehen."

Die Verengung des Diskursraums in Deutschland erklärt Verheugen zumindest zum Teil mit dem außenpolitischen Fundamentalismus der Grünen. Damit isoliert sich Deutschland, denn es ist offenkundig, dass die deutsche Außenpolitik durchdrungen ist von Doppelstandards, kognitiven Dissonanzen und Unstimmigkeiten.

"Die Ziele, für die die Bundesaußenministerin eintritt, sind wunderbar: Wer wollte nicht mehr Freiheit, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit? Aber wie setzt man das in einer Welt durch, die bei uns Heuchelei erkennt und doppelte Standards beklagt?"

Das gilt insbesondere für den Umgang mit dem Ukraine-Konflikt. Die Rolle Deutschlands ist dabei unrühmlich. Der Versuch mittels Diplomatie und Verhandlungen den Bürgerkrieg in der Ukraine zu beenden und ihre territoriale Integrität zu erhalten, wurden von Deutschland sabotiert. 

"Die Minsker Abkommen sollten eine Lösung für die inneren Konflikte in der Ukraine finden. Mich macht betroffen, dass der damalige Bundesaußenminister und heutige Bundespräsident diese Bemühungen inzwischen als Fehler ansieht. Noch betroffener macht mich, dass Frau Merkel heute sagt, das sei alles nicht ernst gewesen. Denn das Minsk-2-Abkommen sollte die Rechte der russischen Minderheit sicherstellen. Zur vollen Wahrheit gehört, dass die Verantwortlichen in der Ukraine nicht einen Tag lang ernsthaft daran gedacht haben, die im Abkommen vorgesehen Maßnahmen umzusetzen."

Das hat natürlich Auswirkungen auf das Ansehen Deutschlands. Deutschland fällt für mögliche Verhandlungen mit Russland weitgehend aus. Deutschland ist vor dem Hintergrund der Abläufe aus gutem Grund kein vertrauenswürdiger Gesprächspartner für Russland. Ähnliches gilt für die EU. 

"In der Tat, Russland haben wir nicht mehr viel anzubieten",

fasst Verheugen das Problem prägnant zusammen.

Verheugen ordnet den Ukraine-Konflikt in den breiteren Kontext des zunehmenden Bedeutungsverlusts des Westens ein. Der Ukraine-Konflikt wirkt in diesem Zusammenhang wie ein Katalysator. Aus dem, was Verheugen sagt, ergibt, sich, dass nicht Russland isoliert ist, sondern der Westen sich mit seiner aggressiven Außenpolitik und seinem Dominanzanspruch isoliert hat. 

"Die Welt ändert sich dramatisch. In der Konferenz der BRICS-Staaten zeigen sich die Umrisse einer neuen Weltordnung – nicht zu unseren Gunsten. Die einflussreichsten Weltregionen der Zukunft liegen nicht in Europa oder Nordamerika, sondern in Asien, Lateinamerika und Afrika. Die Botschaft der BRICS-Staaten ist: Wir haben es satt, ständig von euch belehrt, geschurigelt und bevormundet zu werden."

Doch ganz unabhängig von allen weiteren geopolitischen Entwicklungen, fordert Verheugen von der EU und Deutschland den Einsatz dafür, dass der Krieg in der Ukraine beendet wird. Er ist sinnlos. Die in Deutschland diskutierten Ziele können nicht erreicht werden. 

"Das Gemetzel muss beendet werden. Das zu bewirken, ist die wichtigste Aufgabe der deutschen und europäischen Politik."

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