"Sturm auf den Reichstag": Journalistin zerpflückt irreführenden ZEIT-Artikel
Am Dienstag hat sich der sogenannte "Sturm auf den Reichstag" zum dritten Mal gejährt. Am 29. August 2020 war es am Rande einer Massendemonstration gegen die Corona-Maßnahmen dazu gekommen, dass Teilnehmer einer kleineren Kundgebung vor dem Reichstag in Berlin eine Absperrung überwanden, um sich auf die Stufen des Regierungsgebäudes zu stellen. Verglichen mit anderen Stürmen der Geschichte Europas handelte es sich eher um ein laues Lüftchen und den Stürmern ging es wohl eher um die Symbolik ihres Handelns sowie um ein Selfie für die Nachwelt. Das hindert sogenannte Qualitätsmedien wie ZEIT-Online nicht daran, das Lüftchen zum Orkan aufzublasen.
Den Leitartikel vom 23. August 2023, der anlässlich des anstehenden Jahrestags veröffentlicht wurde, bezeichnete die Journalistin Aya Velázquez zutreffenderweise als "Versuch einer Geschichtsschreibung", den nicht weniger als zwölf Autoren gemeinsam unternahmen. Anders ausgedrückt: Es wurde versucht, die realen Ereignisse vom 29. August medial zu überspielen. Nicht eine seriöse Hintergrundrecherche war das Ziel der Autoren, sondern die Verdrängung der Wahrheit zugunsten der politischen Botschaft: Schaut her, hier sind die Demokratiefeinde, nehmt euch in Acht!
Dass man nichts Neues erfahren sollte, wurde schon daran ersichtlich, dass sich der Artikel zum größten Teil mit Aussagen von Demonstranten aufhielt, die vor drei Jahren am Rennen auf die Stufen des Reichstages beteiligt waren. Mithilfe der Antifa-Gruppe Friedensdemo Watch, die im ZEIT-Artikel als "Recherche-Plattform" bezeichnet wird, wurden 133 Personen kontaktiert.
Verständlicherweise hatten unter ihnen nur wenige Lust, mit den Autoren zu reden. Wenig überraschend wurden sämtliche Angaben gegenüber ZEIT-Online in das Narrativ des Artikels eingelassen. Velázquez: "Die Frage nach dem Warum stellt die ZEIT-Retrospektive nicht."
Interessant sei der Artikel aber als Zeitdokument eines "zerrütteten Verhältnisses" der deutschen Presse ‒ deren Lieblingsbeschäftigung es geworden sei, "Bürger zu dämonisieren" ‒ zu den von ihr dämonisierten Bürgern. Er strotzte aber nur so vor falschen Darstellungen und Fehlern, die Velázquez in einem eigenen Artikel richtigstellte.
Falschdarstellung 1: Die Polizei war schuld am Scheitern des Demo-Verbots
Laut ZEIT war es die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik, die für die gescheiterte Verbotsverfügung vom 26. August 2020 verantwortlich war. Das ist falsch. Die Anweisung ging von Berlins damaligem Innensenator Andreas Geisel (SPD) aus, dem die Polizei unterstand. Das Berliner Verwaltungsgericht hob Geisels Verbot der Demo wieder auf. Sein Name fällt im ZEIT-Artikel nicht ein Mal.
Laut Velázquez war Geisels gescheiterte Verbotsverfügung zentral für die Hintergründe zum Sturm auf den Reichstag: "Es lag im Falle Geisels durchaus das Motiv vor, seinen gescheiterten Demo-Verbotsvorstoß rehabilitiert zu sehen." Der damalige Innensenator hätte somit ein Interesse daran gehabt, dass die Demo am 29. August irgendwie aus dem Ruder läuft. Ein weiterer Nebeneffekt: "Nach dem Sturm war Geisel mit seiner zuvor erfolglosen Maskenpflicht-Forderung auf Demos schlussendlich erfolgreich."
Falschdarstellung 2: Die Polizei wusste nichts von Stürmungsplänen
Laut ZEIT habe die Berliner Polizei keine Ahnung vom kommenden Sturm und etwaigen Plänen lange Zeit vor der Demo am 29. August gehabt. Das ist falsch. Auf Twitter gab es laut Velázquez bereits vor dem 1. August entsprechende Diskussionen auf Twitter durch Antifa-Konten. Auf Telegram gab es sogar eine Gruppe mit dem Namen "Sturm auf den Reichstag" und auf Youtube kursierte ein Promo-Video.
Am 29. August kündigten mehrere Redner auf der Kundgebung direkt vor dem Reichstag im Verlauf von mehreren Stunden an, dass "heute der große Tag gekommen sei, an dem sie sich 'ihr Haus' zurückholen würden". Laut Velázquez hätte, wenn alles nach rechten Dingen zugegangen wäre, spätestens hier eine deutlich sichtbare Polizeipräsenz vor dem Reichstag aufgebaut werden müssen. "Dass dies unterblieb, muss als de facto Beihilfe zum Sturm auf den Reichstag gewertet werden [...]." Stattdessen wurde die Polizeikette vor dem Reichstag Stunden vor dem Sturm abgezogen.
Falschdarstellung 3: Sechs Polizisten schützten den Reichstag
Laut ZEIT stellten sich sechs Polizisten der Menge am Eingang des Reichstagsgebäudes entgegen, darunter der später von der Politik und den Leitmedien als Held gefeierte Polizeihauptkommissar Karsten Bonack. Das ist falsch. Bonack und seine Einsatzhundertschaft standen, als der Sturm begann, in der Scheidemannstraße, südlich vom Reichstag. Die Bereitschaftspolizisten ließen den Demonstranten zunächst einen Vorsprung und setzten sich erst in Bewegung, als auf der Reichstagstreppe bereits Menschen standen.
Die Geschichte, dass wenige heldenhafte Polizisten den Reichstag vor dem Mob schützten, die auch ZEIT weiterverbreitete, hat ihren Ursprung in Filmaufnahmen an dem Tag, auf denen zunächst nur wenige Polizisten zu sehen sind.
Auf Nachfragen, warum die Bereitschaftspolizei in einer Seitenstraße den Sturm geschehen ließ und sich einfach hinter die Absperrgitter stellte, verzichteten die ZEIT-Autoren. Velázquez: "Es erscheint indes schwer vorstellbar, dass [Bonack] nicht auf Anweisung handelte, zumal es bei Polizeieinsätzen klare Befehlsketten gibt."
Falschdarstellung 4: Der Sturm war eine Zäsur in der deutschen Geschichte
Laut ZEIT handelte sich beim Sturm auf den Reichstag um eine "Zäsur in der deutschen Geschichte", also um ein Ereignis ohne Präzedenzfall. Das ist falsch. 2010 waren nach einer Anti-Kernkraft-Demo im Regierungsviertel schon einmal Demonstranten auf die Stufen des Reichstags gestiegen. Velázquez: "Die Bilder waren praktisch identisch, nur die Fahnen waren andere." Da es sich damals um einen politisch korrekten, "grünen Sturm" handelte, blieb der Skandal – im Gegensatz zu 2020 – aus.
Velázquez weist außerdem darauf hin, dass es in den vergangenen zwei Jahrzehnten weltweit zu mal mehr, mal weniger symbolischen "Stürmen" auf Parlamente kam: "Im globalen Maßstab ist der Sturm auf den Reichstag – bei dem noch nicht einmal ein Fuß in ein Regierungsgebäude gesetzt wurde – ein eher harmloses Ereignis."
Falschdarstellung 5: Der Sturm war spontan
Gunnar Wunsch, einer der Protagonisten des Sturms auf den Reichstag, wird von ZEIT mit der Aussage zitiert, dass der Sturm geplant gewesen sei. Damit widerspricht er eigenen Aussagen und denen seiner damaligen Lebensgefährtin Tamara Kirschbaum, die auf der Bühne vor dem Reichstag zum Sturm aufgerufen hatte, kurz nach dem Ereignis.
Kirschbaum behauptete mehrfach, dass der Sturm mit der Polizei im Vorfeld abgesprochen worden sei. Tatsächlich sind sowohl Kirschbaum als auch Wunsch in Videostreams vor beziehungsweise nach dem Sturm im Gespräch mit der Polizei zu sehen. Auch für andere Widersprüche und kuriose Ereignisse interessierten sich die ZEIT-Autoren nicht. So war die Polizei bereits am Morgen des 29. August auf dem Dach des Paul-Löbe-Hauses gegenüber vom Reichstag mit Kamera und Richtmikrofon positioniert.
Nicht zuletzt lag für die Kundgebung direkt vor dem Reichstag, auf der wiederholt zum Sturm aufgerufen worden war, die benötigte Sondergenehmigung überhaupt nicht vor. Velázquez: "Die Reichsbürger-Veranstaltung fand demnach am 29. August illegal statt, unter der Duldung von Berlins Innensenator Andreas Geisel."
Falschdarstellung 6: Der Sturm hätte gelingen können
Entgegen wiederholter Äußerungen, etwa durch den oben erwähnten Polizeihauptkommissar Bonack, bestand nie die Gefahr, dass jemand in das Reichstagsgebäude eindrang. Laut Velázquez hätte dies das Schutzkonzept des Deutschen Bundestags "mit doppeltem Panzerglas, Sicherheitsschleusen sowie einer 200 Mann starken Sicherheitsarmee" überhaupt nicht zugelassen.
Trotzdem verbreitete Bonack den Spuk von der Gefahr wehender Reichsflaggen am berühmten Balkon, auf dem Philipp Scheidemann (SPD) 1918 die Republik ausrief, und die ZEIT-Autoren fragen, wie man den Reichstag künftig noch besser schützen könnte. Velázquez: "Das evozierte Bild der 'Gefahr' wehender Reichsflaggen im berühmten Westfenster der Republikausrufung durch Philipp Scheidemann ist reines Gaslighting – eine Angst-Erzählung, die in den Köpfen verankert werden soll."
Dementsprechend wird die Möglichkeit, der Sturm könnte staatlich inszeniert worden sein, im ZEIT-Artikel einfach als Behauptung zurückgewiesen. Dabei hätte auch der Verfassungsschutz laut Velázquez eine gute Motivlage für einen "erfolgreichen" Sturm gehabt: "Das Bundesamt für Verfassungsschutz stützte sich bei der Erschaffung seiner neuen Beobachtungskategorie 'Verfassungsrelevante Delegitimierung des Staates' auf den Sturm auf den Reichstag."
Fazit: Ein Lehrstück über nationale Legendenbildung
Zieht man den dünnen Erkenntnisgewinn ab, bleiben von dem ZEIT-Artikel vor allem die bereits erwähnte Dämonisierung der Bürger und viele Beleidigungen: Missliebige Meinungen sind ein "antidemokratisches Virus" ‒ nicht der Einzelne, sondern die "Infektion einer Gruppe" sei gefährlich. Velázquez: "Eine verbale Pathologisierung Andersdenkender ist stets ein alarmierendes Signal, da sie meist von totalitären Regimes zur Eliminierung politischer Gegner verwendet wird."
Diese und andere verbale Entmenschlichungen gehören in Deutschland mit Ausdrücken wie "Blinddarm", "Ratten", "gefallene Engel aus der Hölle" bereits zum Alltag. Die Kehrseite der politisch-medialen Markierung der "Aussortierten" (Klaas Heufer-Umlauf) ist für Velázquez der Versuch, eine "offizielle Version" eines Ereignisses festzuschreiben. Der ZEIT-Artikel über den Sturm auf den Reichstag sei ein Lehrstück über "nationale Legendenbildung". Und über die Gewalt, die es hierzu braucht, könnte man hinzufügen.
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