Deutschland

Diether Dehm: Sozialstaat gibt es nur im Nationalstaat

Im Interview legt der frühere Abgeordnete der Partei Die Linke Dr. Diether Dehm dar, welche Rolle die deutsche Regierung bei Entscheidungen über Gesundheits- und Kriegspolitik spielt und inwieweit die Politik von anderen Akteuren bestimmt wird. Er erklärt, warum der Nationalstaat – auch von links – verteidigt werden sollte, und spricht über Spektrum und Chancen der Friedensbewegung.
Diether Dehm: Sozialstaat gibt es nur im Nationalstaat© Felicitas Rabe

Das Interview führte Felicitas Rabe

Häufig herrscht Unklarheit über die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse und die Macht der Politiker in Deutschland. Beispielsweise empören sich Kritiker der Corona-Maßnahmen und der aktuellen Kriegspolitik in Deutschland über die Entscheidungen der deutschen Regierung. Sie fürchten einen übermächtigen Staat, der die Grundrechte der Bürger und mehrheitliche Friedenswünsche der Bevölkerung ignoriert.

Einige prominente Kritiker, wie zum Beispiel auch der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Wolff, warnen in ihren Vorträgen in Bezug auf die Staatsmacht regelmäßig vor angeblich chinesischen oder kommunistischen Verhältnissen, die hierzulande vermeintlich "drohen". Andererseits gibt es Stimmen, die erklären, dass die deutsche und die europäische Politik von den Lobbyisten internationaler Konzerne bestimmt wird, die offensichtlich keinerlei kommunistischen Ambitionen haben.

Herr Dehm, inwieweit können deutsche Politiker (z. B. über Corona-Maßnahmen oder Kriegsbeteiligung und Waffenlieferung) eigenständig entscheiden und sollten dementsprechend auch als Verantwortliche solcher Entscheidungen von den Kritikern adressiert werden? Oder sollten Kritiker sich besser an ganz andere Verantwortliche wenden?

Diether Dehm: Es ist unverständlich, den Kritikern zuzurufen: Wendet euch an euch selbst. Obwohl Brecht einst riet: "Erwarte keine andere Antwort als die deine!" Um aber eine Selbstvergewisserung im Protest zu erreichen, ist es immer gut, zunächst nationalstaatlich Regierende als Adressaten anzurufen. Zum Beispiel: "Wir fordern von der Regierung, keine weiteren Milliarden Steuergelder Selenskij in den NATO-Arsch zu blasen, sondern sie in eine pünktliche, preiswerte und klimaschonende Bahn zu investieren!" Selbst, wenn wir wissen, dass wir dem Ochsen oft nur ins Horn petzen.

Unter welchen Zwängen steht die Bundesregierung gegebenenfalls bei ihren Entscheidungen zur Kriegspolitik gegenüber Russland und bei ihrem diplomatischen Vorgehen?

Die großen Profiteure der Aufrüstung und des Ukrainekrieges sind einerseits US-amerikanische Gaskonzerne und andererseits Rheinmetall, BlackRock und Lockheed. Und die pressen natürlich auch ihre Regierungen mit der Drohung von Arbeitsplatzabbau für das Ausbleiben großer Rüstungsaufträge. Oder sie locken und lügen, entsprechend den Waffenproduktionen auch höhere Steuern zu zahlen. Das ist einer der Strukturen, aus welchen im staatsmonopolistischen Kapitalismus Regierungen staatsmonopolistische Kapital-Entscheidungen bevorzugen.

Aber das ist nicht die einzige Ursache. Denn in jedem Falle besitzen die Geheimdienste wie BND, CIA und Mossad auch brutale Druckpotenziale, einzelne Regierende, die sich zum Beispiel nicht NATO-konform verhalten, in ihrer Intimsphäre auszuspionieren – von Sexvorlieben, finanziellen Verhältnissen, früheren gewagten Aussagen bis zum Verbellen von Drogenkonsum – und dann zu skandalisieren und der Shitstorm-Meute zum Fraß vorzuwerfen.

Viele Kritiker der Corona-Maßnahmen haben sich bezüglich der Anordnungen der Politik über einzelne Politiker ganz besonders geärgert, zum Beispiel über die Gesundheitsminister Jens Spahn oder Karl Lauterbach. Welche Entscheidungsvollmacht hat ein deutscher Gesundheitsminister? Wer bestimmt Ihrer Meinung nach die Gesundheitspolitik in Deutschland?

Natürlich liegt auf der Hand, dass die sogenannten NATO-Impfstoffe von BioNTech und Co. Vorrang hatten und irrsinnige Lockdowns und Verbote, während Sputnik, kubanische oder chinesischen Impfstoffe – obwohl viel weniger lebensgefährlich – im Westen faktisch verboten waren. Aber der eigentliche Grund ist natürlich, dass alle Regierenden – und überhaupt die meisten Herrschenden – jede Situation nutzen, die Untergebenen in einen Drill einzuschleifen. Diese Versuchung ist sozusagen strukturell in der Art einer monopolkapitalistischen Herrschaft angelegt. Im Zweifelsfalle nicht für die Freiheit, sondern für die Unfreiheit!

Trotz mancher Zweifel an der tatsächlichen Macht der Regierung im deutschen Nationalstaat: Gibt es dennoch Stimmen, die den Nationalstaat als quasi letzten Rest demokratischen Potenzials und bürgerlicher Mitbestimmung erhalten wollen, weil Entscheidungen der EU-Kommission noch wesentlich undemokratischer seien? Wie bewerten Sie den deutschen Nationalstaat in Bezug auf seine demokratischen Merkmale?

Nationalstaaten sind mittlerweile ins Visier der NATO und der transnational operierenden Konzerne gekommen. Nicht nur, dass sie Failed States produziert haben wie in Libyen, Syrien, im Irak, im Kosovo, im Jemen und anderswo. Sie wollen heute selbst das bisschen Umverteilung in einem kapitalistischen Nationalstaat von oben nach unten – ohne diese kleine Umverteilung würde kein Staat nämlich eine gesicherte Finanzierungsgrundlage haben – mit sämtlichen Grenzen der Nationalstaaten einreißen.

Übrigens: Sozialstaat ist ausschließlich in Nationalstaaten zu fördern! Marx hat sehr früh gesagt, dass die Grenzen der Nationalstaaten vom Kapital tendenziell eingerissen werden. Umso mehr muss die Linke heute für den Nationalstaat eintreten, auch wenn es ihr zum Beispiel nicht schmecken mag. Das gilt für die Nationalstaaten im Allgemeinen und ist immer antinationalistisch zu verstehen.

Im Besonderen gibt es natürlich Unterschiede: Der deutsche Nationalstaat hat den Nachteil, alle revolutionären Ansätze seit 1848 zerschlagen zu haben, während der französische Nationalstaat seine Freiheit und Frechheit in die Gene gebracht bekam, als der Kopf eines Königs gerollt ist – wie es der Tübinger Philosoph Ernst Bloch einst so schön formuliert hatte.

Auf der Demonstration des NRW–Friedensbündnisses in Düsseldorf haben Sie am letzten Samstag erklärt, mit wem sie ungern gemeinsam für den Frieden demonstrieren und mit wem sie gerne demonstrieren. Könnten Sie das noch mal zusammenfassen?

Ich möchte möglichst niemanden auf dem Platz sehen, der Auschwitz leugnet oder mit mir darüber feilschen möchte, dass weniger Juden ermordet wurden. Oder der vielleicht herumschwadroniert, die Polen und die Sowjetunion seien zu einem Teil selber schuld gewesen, vom deutschen Faschismus überfallen worden zu sein.

Wer aber aus welchen Motiven auch immer bei der letzten Bundestagswahl Die Linke oder aus links mitverschuldeten Gründen AfD, Tierschützer, Die Basis oder Team Todenhöfer gewählt hat, oder auch sogar die CDU oder vielleicht gar nicht, die und der sind mir herzlich willkommen. Auch während einer Demonstration will ich dann über die Widersprüche zwischen uns diskutieren. Insofern bin ich natürlich nach rechts offen, weil links von mir ohnehin nur die Wand ist und ich mit Demokraten rechts von mir gerne freundschaftlich streite.

Würde eine wachsende und große Friedensbewegung das Verhalten der Bundesregierung in Bezug auf Waffenlieferungen und in Bezug auf ihre Politik gegenüber Russland beeinflussen?

Ich würde sogar noch weitergehen: Hätten wir über die letzten acht Jahre des verschwiegenen Krieges der ukrainischen Asow-Milizen und anderer Nazi-Bandera-Fans in der Kiewer Regierung bei ständiger Verletzung des Minsker Abkommens mehr aufgeklärt, und hätten wir mehr aufgeklärt über die 13.000 dort ermordeten Menschen durch rechte Scharfschützen und Mörser-Granaten zerfetzter Menschen sowie davon die Fotos gezeigt, dann wäre vielleicht sogar der Krieg vermieden worden.

Auch müssen wir die Deutschen aufklären über die Hyperschallraketen wie "Dark Eagle", die – in der Ukraine stationiert – in 90 Sekunden in Moskau wären. Da gibt es keinen Run mehr in Bunker, keine Gegenwehr. Das wäre die ultimative NATO-Erstschlagsdrohung, mit der die USA die Herrschaft über russische Gas- und Bodenschätze gewinnen.

Der Komponist und Autor von Romanen, Theaterstücken, Liedern, aber auch psychologischen Fachbüchern Dr. Diether Dehm war für die SPD in der Frankfurter Staatsregierung und im Bundestag und dann von 1999 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender der PDS-Partei, von 2004 bis 2010 Landesvorsitzender der Linken Niedersachsen und bis 2016 Schatzmeister der Europäischen Linkspartei. Seit 2005 war er Mittelstandspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, Europapolitischer Sprecher und seit 2013 Sprecher für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Von 2005 bis 2021 war er Abgeordneter des Deutschen Bundestags.

Seit 2010 ist er Bundesvorsitzender der "Linken Unternehmer" (BAG LiU)".

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