Krone-Schmalz zu Russland und der Ukraine: Wie es zu dem Krieg kam und wie er beendet werden könnte
Seit vielen Jahren befasst sich die frühere Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, mit den Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Ihre Ansichten überraschen, sieht sie doch vieles anders als ihre ehemaligen Kollegen. Auch wegen ihrer von der Masse abweichenden Meinung zu dem Krieg in der Ukraine wird der pensionierten Journalistin hierzulande seit geraumer Zeit eine übergroße Nähe zu den Positionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgeworfen. Doch entspricht dies tatsächlich der Wahrheit? Auf einer Veranstaltung der Volkshochschule Reutlingen äußerte sich Krone-Schmalz vergangene Woche zum Krieg in der Ukraine, erklärte, wie Wladimir Putin "ticke", wie er seinen russischen Einflussbereich absichern wolle "und aus seiner Sicht möglicherweise auch muss".
Bereits eine Woche nach Beginn des Ukraine-Krieges hatte Krone-Schmalz eingestanden, dass sie mit ihrer ursprünglichen Einschätzung falsch lag. Und auch in Reutlingen begann sie damit, dass sie nicht mit einem russischen Angriff auf die Ukraine gerechnet habe. Doch was hat eigentlich zu der jetzigen Situation geführt, die viele auch zurecht mit großer Furcht betrachten? War die von manch einem Politiker angestrebte Entspannungspolitik gegenüber Russland etwa grundverkehrt? Hätte eine verschärfte Abschreckungspolitik den russischen Präsidenten im Zaum halten können?
Beide Punkte hält Krone-Schmalz für falsch. Zum einen hätten sich die Abschreckungspolitiker in den letzten dreißig Jahren auf internationalem Parkett mit ihrer Politik nicht durchsetzen können, erklärte die frühere Moskau-Korrespondentin und Buchautorin und erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Zitat des früheren US-Diplomaten George Kennan. "Der für seine scharfen Analysen bekannte Diplomat hat am 2. Mai 1998 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen wurden – die NATO-Osterweiterung als tragischen Fehler bezeichnet, da es überhaupt keinen Grund dafür gebe. Niemand bedrohe irgendjemanden. 'Natürlich wird es auch darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben', so Kennan, 'und dann werden sie – also die NATO-Erweiterer – sagen, so sind die Russen, wir haben es euch immer gesagt, aber das ist komplett falsch.'"
Zum anderen hätten eine verschärfte Abschreckungspolitik des Westens sowie jeder Versuch, die Ukraine nach dem Jahr 2014 in die NATO aufzunehmen, die im Februar erfolgte Intervention Russlands nur beschleunigt und nicht verhindert. "Ich denke nach wie vor, dass die NATO-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen stark dazu beigetragen haben, dass es zu der jetzigen Situation kam." Anders als von vielen westlichen Politikern und Medien behauptet, liegen die Ursprünge der derzeit zwischen dem Westen und Russland herrschenden "Eiszeit" Krone-Schmalz zufolge auch nicht im Jahr 2014, sondern vielmehr mehr im Jahr 1991:
"Nach Auflösung der Sowjetunion wurden russische Interessen nicht ernst genommen oder als illegitim beiseite geschoben. Auch hat der Westen Putin mit seinen zahlreichen Versuchen auflaufen lassen, Russlands Verbindung zum Westen zu stärken."
Gleichzeitig habe die NATO ihre Politik mit der NATO-Osterweiterung weiter "durchgezogen", was nach Ansicht der früheren Korrespondentin angesichts der damit gleichzeitig einhergehenden Einengung Russlands einer der größten geopolitischen Fehler nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen ist. "Mit der NATO-Perspektive für die Ukraine war dann die Schmerzgrenze für Russland überschritten." Denn auch die Russische Föderation habe – wie jedes andere Land der Welt auch – ein Recht auf Sicherheit, so die Autorin. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung von Warschauer Pakt und Sowjetunion stiegen die USA zudem zur alleinigen Supermacht auf. Seither habe das geopolitische Interesse der USA laut Krone-Schmalz überwiegend darin bestanden, dafür zu sorgen, dass kein Rivale auf der Weltbühne auftaucht, der Washington in derselben Weise herausfordern könnte, wie die Sowjetunion es seinerzeit getan hatte.
Ihren Status als alleinige Supermacht könnten die Vereinigten Staaten lediglich dann verlieren, so die langjährige Russlandkennerin weiter, "wenn es Russland gelänge, Weißrussland und die Ukraine zu schlucken. So stand es 1992 in Papieren des Pentagon, die maßgeblich Paul Wolfowitz entworfen hatte, später stellvertretender Verteidigungsminister unter George W. Bush. Der heutige Konflikt in der Ukraine ist sicher vielschichtig. Aber ich wäre sehr überrascht, wenn diese Hintergründe nicht auch eine Rolle spielen würden." Doch geht es dem russischen Präsidenten bei seiner militärischen Intervention in der Ukraine tatsächlich um eine territoriale Erweiterung, oder – wie von Medien zu oft behauptet – gar um die Wiederherstellung der Sowjetunion?
Wenn der Krieg in der Ukraine von vornherein tatsächlich Putins Absicht gewesen wäre, führte die Autorin fort, hätte der "Überfall" bereits vor zehn Jahren stattfinden müssen, als die Ukraine noch nicht so stark aufgerüstet war. "Es macht so einfach keinen Sinn." Was also bewegte den russischen Präsidenten dann zu der Entscheidung, für die er und sein Land international geächtet werden? "Genau ein Jahr vor Beginn des Krieges, am 24.02.2021, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Dekret erlassen, in dem er die Rückeroberung der Krim quasi angeordnet hat", erklärte Krone-Schmalz. Bereits kurze Zeit später habe er damit begonnen, Streitkräfte zu sammeln, was Russland natürlich nicht verborgen blieb.
"Parallel dazu fanden sowohl im Schwarzen Meer als auch in der Ostsee diverse NATO-Manöver statt. Zeitgleich stieg die Zahl der Aufklärungsflüge der USA an der ukrainisch-russischen Grenze nennenswert."
Auch führten die ukrainischen Streitkräfte vor Beginn des Krieges im Donbass diverse Einsätze mit Drohnen durch, darunter mindestens ein nachgewiesener Angriff auf ein Kraftstoffdepot in Donezk im Oktober 2021, was einen Verstoß gegen das Minsker Abkommen darstellte. "Noch im November letzten Jahres schlossen die USA und die Ukraine zudem ein Abkommen über eine strategische Partnerschaft, in dem sowohl die NATO-Perspektive der Ukraine als auch die Rückeroberung der Krim als Ziele genannt wurden", erläuterte die pensionierte Journalistin. Besiegelt sei der Krieg nach Meinung von Krone-Schmalz aber erst im Januar 2022 gewesen, als die NATO die Ukraine einlud, an der NATO-Agenda 2030 mitzuarbeiten, "also am Strategiepapier der NATO".
Somit sei das von Medien und Politik zumeist als "aggressives Verhalten" beschimpfte Agieren Putins laut der erfahrenen Journalistin für das von der NATO zunehmend "in die Ecke gedrängte" Russland aus defensiv-politischer Sicht derweil überlebenswichtig geworden. "Wenn die NATO unmittelbar an russische Grenzen heranrückt, dann schränkt das den geopolitischen Spielraum Russlands ein, genau wie es Washington vermutlich auch beabsichtigt." Gleichzeitig ginge es Russland aber auch darum, auf internationalem Parkett als unabhängiger Pol wahrgenommen und respektiert zu werden, so Krone-Schmalz:
"Dass Russland dafür auf militärische Drohungen zurückgreifen muss, ist eher ein Zeichen von Schwäche als von Stärke – und auch bezeichnend dafür, wie der Westen viele Jahre mit Russland umgegangen ist."
Insbesondere die NATO-Osterweiterung habe das Verhältnis des Westens zu Russland zerstört und dazu geführt, dass die Eskalationsspirale, in der sich beide Seiten seit Beginn des Ukraine-Krieges befinden, in einer direkten Konfrontation münden könnte. Denn sowohl bis heute anhaltende Ängste als auch das historisch begründete Misstrauen von Polen und den baltischen Staaten gegenüber Russland wirkten sich nach Ansicht der früheren ARD-Journalistin negativ auf sämtliche vergangenen Entscheidungen der NATO aus. Dies habe dazu geführt, dass Russland immer weiter eingekreist wurde. "Rumänien und Polen sind beispielsweise die Standorte für das Raketenabwehrsystem der NATO. Den Ausgang der Ostsee kontrollieren im Konfliktfall die NATO-Mitglieder Deutschland, Dänemark und Norwegen und demnächst auch Schweden und Finnland. Im Südwesten Russlands wacht das NATO-Mitglied Türkei über den Zugang zum Schwarzen Meer."
Selbst der über die Barentssee für Russland theoretisch noch offene Zugang zum Nordatlantik wäre im Konfliktfall laut Krone-Schmalz "hochgradig" gefährdet, weil dort bereits die NATO-Mitglieder Island, Großbritannien und Norwegen bereitstehen. "Im Falle eines Konfliktes mit den USA und der NATO müsste Russland somit damit rechnen, selbst von seinen eigenen Häfen aus, keinen Zugang zu den Weltmeeren mehr zu haben." Mitunter deshalb fühle sich Putin auch so in die Ecke gedrängt. Was könnte also zu einer Befriedung des eskalierenden Konflikts zwischen den beiden Parteien beitragen? Welche Schritte wären nach Ansicht der Russlandexpertin notwendig, um die bereits vor vielen Jahren in Gang gesetzte "Eskalationsspirale" zwischen Russland und dem Westen zu durchbrechen?
"Eine kluge Sicherheitspolitik müsste die verständlichen Ängste der Balten und Osteeuropäer mit den ebenso verständlichen Ängsten der Russen austarieren."
Ein solcher Ansatz sei aber in keiner sicherheitspolitischen Agenda zu finden, prangerte Krone-Schmalz an. "Stattdessen stellen sich der Westen und die NATO klar auf eine Seite, nämlich auf die der Ukraine. Hier zeigt sich zum wiederholten Male, wie fatal die NATO-Osterweiterung war. Denn sie hat aufgrund ihrer geopolitischen Folgen nicht nur die Beziehungen zwischen der NATO und Russland belastet, sie hat mit der Aufnahme der osteuropäischen Länder auch deren Konflikte mit Russland ins Bündnis geholt." Dies habe letztlich dazu geführt, so die Journalistin weiter, dass die NATO ihre einstige Kompromissbereitschaft gegenüber Russland, auf ein Minimum reduzierte.
Das einzige, was aus politischer Sicht deshalb nun zählen sollte, sei, sich nicht mehr an den Fehlern zu echauffieren, die in der Vergangenheit begangen wurden – daran lasse sich nichts mehr ändern, "sondern alles an Herz und Hirn dafür einzusetzen, endlich das hinzubekommen, was wir 1990 relativ leicht hätten haben können: ein gutes Zusammenleben sowie eine funktionierende Sicherheitsarchitektur für Europa." Frieden, so Krone-Schmalz, könne es in Europa nur mit und nicht ohne oder gar gegen Russland geben. Deshalb sollten sämtliche am Ukraine-Krieg beteiligten Parteien ihrer Meinung nach auch ein gewisses Interesse daran haben, den Krieg schnellstmöglich beizusetzen.
"Und das erreicht man, wie die Geschichte zeigt, nicht durch Aufrüstung, sondern nur durch Diplomatie."
Statt auf weitere Waffenlieferungen zu setzten und so ein mögliches Übergreifen des Konflikts auf Europa oder gar die ganze Welt zu beschwören, sollte es in der gegenwärtigen Lage darum gehen, Lösungen zu finden. Und dazu gehöre, einander wirklich zuzuhören. "Die russischen Forderungen beziehen sich ja nicht auf territoriale Eroberungen, sondern auf Sicherheitsgarantien. Und wenn das der Punkt ist, dann dürfte das doch machbar sein. Da ist politische Kreativität gefragt." Stattdessen neige der Westen jedoch dazu, einen Teil der Geschichte zu erzählen und die Elemente wegzulassen, die nicht in das Bild vom friedlichen Westen und aggressiven Russland passen.
"Wer aber die eigenen Handlungen unerwähnt lässt und nur die Reaktionen Russlands benennt, der verwischt Ursache und Wirkung."
Gabriele Krone-Schmalz ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Historikerin. Von 1987 bis 1991 war sie ARD-Korrespondentin in Moskau. "In Anerkennung ihres Beitrages zur Festigung der Freundschaft und der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland", verlieh ihr Putin im Jahr 2008 sogar die Puschkin-Medaille.
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Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.