Bundesregierung will verfassungswidrige Hartz-Sanktionen einschränken – CDU findet das unsolidarisch
Die Bundesregierung will die Sanktionen bei "Pflichtverletzungen" für Empfänger von Arbeitslosengeld II – auch als "Hartz IV" bekannt – befristet aussetzen. Über entsprechende Pläne von SPD, Grünen und FDP debattierte der Bundestag in Berlin am Freitag in erster Lesung.
Bisher ist geplant, die Sanktionen bei Pflichtverletzungen für Empfänger von Arbeitslosengeld II mindestens bis zum Jahresende 2022 auszusetzen. Ausdrücklich gedacht ist die Aussetzung als Zwischenschritt bis zur Einführung des geplanten Bürgergeldes, das Hartz IV in seiner heutigen Form ablösen soll.
Zu der gesetzlichen Neuregelung gebe es keine Alternative, betont die Bundesregierung. Das Bundesverfassungsgericht habe schon im Jahr 2019 eine Neuregelung gefordert, hieß es. In der Tat musste das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2019 feststellen, was dem Gesetzgeber längst hätte klar sein können: Kürzungen von mehr als 30 Prozent des – bereits sehr niedrig angesetzten – Regelbedarfs für Arbeitssuchende sind verfassungswidrig.
Als Auflageverstöße gelten Abweichungen von weitreichenden Bestimmungen. Darunter die Notwendigkeit, sich bis auf wenige Tage im Jahr – unabhängig von Feiertagen oder beispielsweise Familienpflegefällen – am Meldeort aufzuhalten. Sich regelmäßig beim Jobcenter (zurück)zumelden, was gerade in urbanen Ballungszentren oft mit immensen Warteschlangen verbunden ist. Würdelose Jobs anzunehmen, oder an selten zielführenden, dafür aber kostspieligen Weiterbildungen teilzunehmen.
100% Sanktionen durch die Hintertür: mal wieder erreicht uns ein Hilferuf, weil das komplette #HartzIV kurzfristig entzogen werden soll. Hierbei berufen sich die Jobcenter auf „fehlende Mitwirkung“ und dann geht das ruck zuck.
— Helena Steinhaus (@SteinhausHelena) April 29, 2022
Den Angaben zufolge verstößt nur eine Minderheit von Hartz-IV-Empfängern gegen Regeln. Gleichzeitig unterlaufen Mitarbeitern des Jobcenters bei den Abmahnungen laut der Plattform "Sanktionsfrei" derart viele Fehler, dass ein Widerspruch der Betroffenen häufig anerkannt werden muss.
Dass das Sanktionssytem hingegen irgendwelche gesellschaftlich wünschenswerten Ziele erfüllt, konnte die Politik auch nach knapp 15 Jahren Hartz-IV nicht nachweisen. Wie die Richter des Bundesverfassungsgerichts schon im Jahr 2019 feststellten, kommen Arbeitssuchende durch diese Art des Strafsystems keineswegs schneller wieder in einen neuen Job, von dem sie ihren Unterhalt selbst bestreiten können. Auch im Jahr 2022 ist der Ausweg aus Hartz IV sehr schwierig und scheitert dabei weniger an mangelnder Mitwirkung der Arbeitssuchenden.
Sehen so echte Perspektiven aus? ⌛25 % der Arbeitsvermittlungen endeten 2019 in #Zeitarbeit.⌛Mehr als jede 3. Arbeitsaufnahme aus #HartzIV heraus ist kürzer als 6 Monate.⌛Rund jede 2. Arbeitsaufnahme führt nicht aus dem Hartz-IV-Bezug heraus, weil der Lohn zu niedrig ist. pic.twitter.com/3HbVpoxiNx
— Sanktionsfrei (@sanktionsfrei) April 4, 2022
Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände haben wiederholt aufgezeigt, dass das vorrangige Ziel sein müsse, dass Menschen erst gar nicht in die sehr prekäre Situation geraten, Hartz IV zu benötigen. Vorschläge, wie zum Beispiel anständige Arbeitsverträge samt angemessener Vergütung – an Stelle von wiederholter Befristung und Unterlaufen des jahrelang weit unter der Armutsgrenze angesetzten Mindestlohns (Lohndumping) – sind diesbezüglich nicht neu.
Unter den offenbar endlos steigenden Preisen von Energiekosten bis zu Lebensmitteln ächzen selbst Normalverdiener. Politikwissenschaftler und Ökonomen verweisen seit langem und insbesondere vor dem Hintergrund der immensen Teuerungsrate darauf, dass eine Verelendung von nicht eben wenigen Menschen auch gesamtgesellschaftliche Rückwirkungen hätte, die auch wirtschaftlich nicht erstrebenswert sind. Zumal der gesellschaftliche Zusammenhalt bereits vor dem Rekordanstieg der Inflationsrate gefährdet war.
Wie es vonseiten der Ampel-Koalition hieß, solle die Möglichkeit von Abzügen bei der Leistung in eingeschränkter Form bis voraussichtlich Mitte 2023 erhalten bleiben, wenn ein Grundsicherungsempfänger Termine beim Jobcenter versäumt. Die Leistung solle bis dahin aber nur um bis zu 10 Prozent gekürzt werden können. Das Sanktionsmoratorium werde zu mittelbaren Mehrausgaben bei den Leistungen zum Lebensunterhalt in Höhe von rund 12 Millionen Euro im Jahr 2022 führen, heißt es in dem Entwurf. Davon würden rund 11,6 Millionen Euro auf den Bund und rund 0,4 Millionen Euro auf die Kommunen entfallen.
Die Linken-Abgeordnete Jessica Tatti kritisierte das Vorhaben der Bundesregierung als "Mogelpackung", da die Ampel im Koalitionsvertrag ein einjähriges Moratorium für die bisherigen Sanktionen angekündigt hatte. Wenn es danach ginge, müssten sie also vollständig aufgehoben werden.
Aus ganz anderer Richtung kamen Einwände vonseiten der eng mit der Wirtschaft verbandelten Union. Deren beliebtes Argument der Arbeitsplätze, mit dem auch in Krisen prekäre Arbeitsverhältnisse in einem reichen Land gerechtfertigt werden, ist selten haltbar.
Trotz der in den vergangenen Jahren bekannt gewordenen Veruntreuung von Steuergeldern durch verschiedene Unionspolitiker in weitaus höheren Dimensionen versuchte es der CDU-Vertreter Kai Whittaker im Bundestag mit einem vermeintlich sozialen Argument. Es sei einer hart arbeitenden Aldi-Verkäuferin schwer zu erklären, dass sie "solche Leute" subventionieren solle, die sich "hartnäckig der Solidargemeinschaft verweigern" würden.
Wie Whittaker der Aldi-Verkäuferin und anderen hart arbeitenden und trotzdem bedürftigen Bürgern erklären würde, dass auch von der Union vertretene große Konzerne in Form von Subventionen sowie Kurzarbeitergeld immens von dem öffentlichen Haushalt profitiert haben, in den gerade Selbständige teilweise nicht einmal einzahlen – und nur so milliardenschwere Dividenden auch an bereits sehr reiche Menschen ausschütten konnten – ließ der Jungpolitiker aber offen.
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