Grundsatzurteil aus Karlsruhe weist bayerischen Verfassungsschutz in die Schranken
Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag einer Verfassungsbeschwerde gegen das besonders weitgehende bayerische Verfassungsschutzgesetz in vielen Punkten stattgegeben.
Nach Einschätzung von Landesinnenminister Joachim Herrmann (CSU) laufen die Vorgaben des mehr als 150-seitigen Grundsatzurteils darauf hinaus, dass auch die anderen Länder und der Bund ihre Gesetze überarbeiten müssen. Das bayerische Gesetz muss nun bis spätestens Ende Juli 2023 angepasst werden. Betroffen sind unter anderem die Regelungen zum Ausspähen und Abhören von Wohnungen, zur Online-Durchsuchung und zur Handy-Ortung, zum Einsatz sogenannter V-Leute und zu längeren Observationen (Az. 1 BvR 1619/17).
Die beanstandeten Regelungen verstoßen nach der Lesart Karlsruhes gegen Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis oder den Schutz der informationellen Selbstbestimmung. Bis zu ihrer Reform dürfen die Instrumente nur noch eingeschränkt eingesetzt werden. Die Befugnis, Auskunft über Daten aus Vorratsdatenspeicherung zu ersuchen, erklärte der Erste Senat direkt für nichtig.
Gerichtspräsident Stephan Harbarth sagte bei der Urteilsverkündung, das Grundgesetz lasse dem Gesetzgeber "substanziellen Raum, den sicherheitspolitischen Herausforderungen auch im Bereich des Verfassungsschutzes Rechnung zu tragen." Und weiter:
"Zugleich setzt die Verfassung hierbei gehaltvolle grundrechtliche Schranken."
Ein zentraler Punkt der Entscheidung ist, dass für die Verfassungsschutzbehörden zum Teil andere Anforderungen gelten als für die Polizei, die selbst zum Eingreifen befugt ist. Vereinfacht gesagt: Der Verfassungsschutz hat bei der Überwachung zwar mehr Befugnisse. Aber für ihn gelten umso strengere Regeln, wenn es darum geht, die gewonnenen Daten an andere Behörden weiterzugeben. Im Einzelnen heißt das:
- "Heimliche Überwachung": Hier reicht als Voraussetzung in der Regel ein "hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf". Anders als bei der Polizei muss keine Gefahr vorliegen. Einzige Ausnahme: Wenn Maßnahmen "zu einer weitestgehenden Erfassung der Persönlichkeit führen können." Besondere Anforderungen gelten auch, wenn Unbeteiligte mit in die Überwachung geraten. Grundregel dabei ist: Je tiefer eine Maßnahme in Grundrechte eingreift, desto dringender muss das "Beobachtungsbedürfnis" sein. In bestimmten Fällen muss künftig eine unabhängige Stelle die Maßnahme vorab kontrollieren.
- "Teilen von Erkenntnissen": Die Weitergabe an andere Behörden ist nur zulässig, wenn sie dem "Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts" dient. Je nachdem, welche Stelle die Daten erhält, unterscheiden sich die Anforderungen. Eine Strafverfolgungsbehörde darf beispielsweise nur dann Informationen vom Verfassungsschutz beziehen, wenn es um besonders schwere Straftaten geht.
Das bayerische Gesetz war 2016 auf Bestreben der CSU grundlegend überarbeitet worden – unter anderem, um die Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten und Polizei zu verbessern. Minister Joachim Herrmann hatte die Reform damals auch mit der wachsenden Bedrohung durch islamistischen Terrorismus und Rechtsextremisten begründet.
Unmittelbar nach der Verkündung hat Herrmann bekannt gegeben, das Urteil möglichst schnell umsetzen zu wollen. "Es müssen wahrscheinlich der Bund und alle Länder ihre Gesetze ändern", sagte er in Karlsruhe. Und er betonte:
"Denn es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formuliert worden sind, entspricht."
Bayerns Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) sagte in München, es seien keine Befugnisse verboten worden. Vielmehr müsse der Gesetzgeber nun die Voraussetzungen konkreter regeln.
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Verfassungsbeschwerde koordiniert hatte, rechnet ebenfalls mit bundesweiten Auswirkungen. Einer ihrer Prozessbevollmächtigten, Bijan Moini, erklärte:
"Dieses Urteil strahlt in die ganze Republik aus."
Die GFF-Sprecherin Maria Scharlau sagte in Karlsruhe:
"Auch Verfassungsschutzämter, die ja die Verfassung schützen sollen, müssen sich an die Grundsätze der Verfassung selbst halten. Klingt selbstverständlich, musste aber erst errungen werden."
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte seinerseits:
"Die Entscheidung gibt uns deutlichen Rückenwind für das Programm unseres Koalitionsvertrags zur Stärkung der Bürgerrechte."
So zum Beispiel sei vereinbart worden, die Schwelle für den Einsatz von Überwachungssoftware hochzusetzen.
Als Kläger hatte die GFF drei Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) gewonnen, die im bayerischen Verfassungsschutzbericht als "linksextremistisch beeinflusste Organisation" erwähnt wurde. In dem kürzlich vorgestellten Bericht für das Jahr 2021 taucht sie nun erstmals nicht mehr auf.
Gegen die umstrittenen Gesetzesänderungen hatte 2017 auch die Landtagsfraktion der Grünen Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingereicht. Darüber wurde bislang nicht entschieden – der Ausgang dürfte jetzt allerdings vorgezeichnet sein.
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(dpa/rt)
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